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Die vierte Vision: Von der Säule des Gottesworts.

1. Jenseits des Turmes des vorbereitenden göttlichen Willens sah ich im nördlichen Winkel eine gelbliche Säule in einer Ellenlänge Abstand, die von außen an die leuchtende Gebäudemauer gestellt war; diese verursachte einen schrecklichen Anblick, denn sie war so groß und hoch, daß man ihre Maße nicht abschätzen konnte. Jene Säule hatte drei scharfe Kanten von ihrem Fuß bis zur Spitze, die einem Schwerte glichen. Die erste dieser Kanten war nach Osten gerichtet, die zweite nach Norden, die dritte aber nach Süden und von außen mit dem Gebäude verbunden. Aus der östlichen Kante sproßten Zweige von der Wurzel bis zur Spitze hervor. Nahe dem Fuße sah ich im ersten Zweige Abraham sitzen; im zweiten Moses, im dritten Josue; dann folgten die übrigen Patriarchen und Propheten in den einzelnen Zweigen, genau so, wie sie in dieser Zeitlichkeit nacheinander erschienen waren. Alle diese Gestalten blickten nach der nördlichen Kante voll der Bewunderung, was sie im Geiste voraussahen. Nur zwei von ihnen schauten nach Osten und nach Norden, und vor ihrem Antlitz schien die Säule von unten bis oben gewunden und rund zu sein, sowie faltig wie die Rinde eines Baumes, aus der der junge Keim ausschlägt. Von jener zweiten Kante, die nach Norden sah, ging ein Glanz von wunderbarer Klarheit aus, der auf die Südkante überging und von ihr zurückgeworfen wurde. In dieser hellen Klarheit, die sich weithin ergoß, erblickte ich die Apostel, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen und zahllose andere Heilige, die in großer Freude einherschritten. Jene dritte Kante, die südlich blickte, war in der Mitte breit und weit, unten aber und an der Spitze etwas schmächtiger zusammengedrängt, wie ein Bogen, der sich beim Abschleudern der Pfeile weitet. Die Spitze der Säule war von solchem Lichtmeer umgössen, daß menschliche Worte es nicht schildern können; auf ihr erschien eine Taube, die in ihrem Schnabel goldene Strahlen trug, welche die Säule hell erleuchteten. In den Anblick dieser Erscheinung versunken, hörte ich eine Stimme vom Himmel zu mir sprechen, die mich mit großem Schrecken erfüllte: »Was du siehst, ist göttlich.« Ich wurde noch furchtsamer und wagte nicht mehr aufzublicken. Dann sah ich in dem Gebäude eine Gestalt vor der Säule auf dem Boden stehen und bald die Säule, bald die Menschen betrachten, die im Gebäude einherliefen. Die Gestalt war ganz von Licht umflossen, so daß ich infolge der übergroßen Helligkeit weder ihr Antlitz noch ihre Gewänder, mit denen sie bekleidet war, sehen konnte. Nur das gewahrte ich sicher, daß sie wie die übrigen Tugenden eine menschliche Gestalt besaß. Um sie herum sah man eine wunderschöne Menge, die Engeln ähnlich waren und Flügel trugen. Sie verharrten so ehrfürchtig, daß sie die Gestalt zu fürchten und auch zu lieben schienen. Noch eine andere Schar in Menschengestalt stand vor ihr. Sie waren dunkel gekleidet und in Furcht befangen. Die Gestalt sah auf die Menschen, die aus der Welt kamen und im Gebäude in ein neues Gewand gehüllt wurden. Sie sprach zu jedem einzelnen: »Betrachte das Gewand, mit dem du beschenkt wurdest, und vergiß nicht deines Schöpfers, der dich ins Leben rief.« Ich stand staunend da, als der Thronende wiederum mir sagte: »Gottes Wort erschuf alles.«

2. Daher bedeutet die Säule, welche du jenseits des Turmes des vorbereitenden göttlichen Willens siehst, das unaussprechliche Geheimnis des Wortes Gottes: denn im wahren Worte, d. h. im Sohne Gottes, ist alle Gerechtigkeit des Neuen und Alten Testamentes erfüllt.

3. Die Kante, die nach Norden steht, ist eine Elle breit, weil im menschlichen und einzelnen Lauf die besondere Verwandtschaft besteht, die die Patriarchen als bestimmteste Gerechtigkeit im Worte Gottes bezeichneten bis zum Gesetz, das gleichsam im nördlichen Teil wider den Teufel streitet.

4. Die gelbliche Farbe der leuchtenden Mauer, die das Gebäude von außen berührt, versinnbildet die unbezwingliche und siegreiche Macht des göttlichen Wortes, dem niemand in eitler Auflehnung oder durch nichtigen Stolz widerstehen kann.

5. Der Turm bietet einen schrecklichen Anblick dar, weil die Gerechtigkeit im Worte Gottes Furcht erzeugen muß für das menschliche Wissen, das in schimpflichem Gericht ungerechter Richter sich nur nach eigenen Massen richtet. Da das Wort, der Sohn Gottes, mit der Größe seiner Herrlichkeit alle Geschöpfe in der Majestät, die er vom Vater her innehat, übertrifft, deshalb ist auch der Turm von so riesigen Ausmaßen.

6. Die drei scharfen Kanten von unten bis oben, die an ein Schwert erinnern, bedeuten also: die wandelnde und sich mehrende Stärke des Wortes Gottes in der Gnade, die das Alte Testament vorbedeutete, offenbarte sich im Neuen Testament durch den hl. Geist; er erklärte die drei Höhepunkte: das alte Gesetz und die neue Gnade und die Klarheit der gläubigen Lehrer, in welchen der heilige Mensch das wirkt, was gerecht ist, und zwar vom ersten Beginnen des guten Werkes an, und so aufwärts strebt zur Vollendung wie zum höchsten Gut, wenn er alles zu Ende bringt. Jegliches gute Werk war und bleibt, ja bleibt bestehen auf ewig in der unendlich einfachen Gottheit, die alles durchdringt.

7. Die erste Kante schaut nach Osten; dies soll folgendes versinnbilden: den ersten Versuch, Gott zu erkennen im göttlichen Gesetz vor dem Tag der vollkommenen Gerechtigkeit. Die zweite Kante ist nordwärts gerichtet. Die dritte Kante ist nach Süden von außen mit dem Gebäude verbunden, weil sie die tiefe und besondere Weisheit der Lehrer in der Glut des hl. Geistes bedeutet, die abgrundtief und stark durch die Werke der Gerechtigkeit ist und in den Evangelien den für das Verständnis fruchtbringenden Keim aufzeigten.

8. Aus der östlichen Kante schienen Zweige vom Fuß bis zur Spitze hervorzugehen, weil in der beginnenden Erkenntnis Gottes durch das Gesetz der Gerechtigkeit, wie in östlicher Richtung, in der Zeit Zweige erschienen, die der Patriarchen und Propheten. Die scharfe Säule der Gottheit breitet dies alles aus von ihrem Fuß, d. h. vom ersten Beginnen in den Gemütern ihrer Auserwählten bis zur Höhe, nämlich bis zur Offenbarung des Menschensohnes, der der Inhalt aller Gerechtigkeit ist. Nahe dem Fuß siehst du im ersten Zweige Abraham sitzen, weil er in den göttlichen Willen einging, als er gelassenen Sinnes sein Heimatland verließ im Gehorsam zu Gott. Im nächsten Zweig sitzt Moses, weil die göttlich errichtete Pflanzung am Anfang des gegebenen Gesetzes durch Moses als Vorbild des allerhöchsten Sohnes sich erhob. Dann folgt Josue, weil er diesen Geist von Gott empfing, daß er die Menschen in Gottes Gesetz bestärkte und im göttlichen Gebot noch sicherer machte. Dann siehst du die übrigen Patriarchen und Propheten der Zeitfolge entsprechend auf die einzelnen Zweige verteilt.

9. Alle wenden sich zur Säulenkante, die nach Norden blickt; sie bewundern das, was sie im Geiste vorausschauen, denn ermahnt im hl. Geiste, wenden sie sich der evangelischen Lehre zu mit der Kraft des Sohnes Gottes, die den Teufel bekämpft. Sie sprechen von der Menschwerdung und staunen über sein Kommen aus dem Herzen des Vaters und dem Schoß der Jungfrau.

10. Zwischen den zwei Kanten (jener nach Osten und jener nach Süden) steht vor dem Angesicht der Patriarchen und Propheten eine von unten bis oben gewundene und runde Säule; voller Falten, gleicht sie einer Baumrinde, aus der die Sprößlinge hervorzugehen pflegen. Das soll bedeuten: Zwischen den beiden Höhepunkten meiner klaren Erkenntnis und der folgenden Lehre meines Sohnes hielt sich unter vorbedeutendem Bilde mein Wort, d. h. mein Sohn, von dem ersten Auserwählten bis zum letzten Heiligen in den Seelen der alten Väter, die mein Gesetz beobachteten, verborgen und offenbarte sich allen als der Gütige, wie er vorgebildet war in der finsteren Beschneidung, welche als ein Schatten des Zukünftigen durch den beigegebenen Ernst des Gesetzes den gerechtesten Keim in sich barg, den der höchsten und heiligsten Menschwerdung.

11. Von der zweiten Kante, die nach Norden liegt, geht ein wunderbar hellschimmernder Schein aus, der sich ausbreitet bis zur Südkante und wieder von dort aus zurückgeworfen wird. Dies soll das Neue Testament bedeuten, das dem Teufel entgegengesetzt ist, und von dem die Worte meines Sohnes ausgingen, die zu mir, ihrem Ursprung, wieder zurückkehren.

12. In diesem Glanz gewahrst du die Apostel, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen und viele andere Heilige in großem Glück auf und ab wandeln, weil sie in dem klaren Licht, in dem mein Sohn das Licht der Wahrheit predigte und verbreitete, zu Aposteln und Ausspendern des wahren Lichtes wurden. Die Märtyrer wurden zu kräftigen Streitern bestellt, die ihr Blut für den Glauben vergossen, die Bekenner zu Dienstbeflissenen für meinen Sohn; die Jungfrauen aber folgten der himmlischen Saat, und meine übrigen Auserwählten schöpfen ihr Glück aus dem Freuden- und Heilsquell, weil der hl. Geist sie durchdringt, so daß sie glühend von Tugend zu Tugend fortschreiten.

13. Die dritte Kante nach Süden ist in der Mitte breit und ausgedehnter, unten und oben aber etwas zierlicher und zusammengeschnürt wie durch einen Bogen, der sich beim Abschleudern der Pfeile weitet. Was bedeutet das? Nach der Verbreitung des Evangeliums glühte jene Weisheit in dem Feuer des hl. Geistes in den Heiligen, das sie zu tiefst ersehnten, um dadurch den Sinn vom Worte Gottes zu begreifen. Dieser Glaube ist weitend, weil er das christliche Volk tröstet und stärkt, gleichsam ein mitten aus den Seelen der heiligen Lehrer ausgehender Sinn ist, der die tiefe Herbheit der Schriften durchforscht und jenen vielen dieses Wissen vermittelt, die von den heiligen Lehrern lernten. Wenn am Ende der Zeiten der Eifer von vielen nachläßt, weil ihnen göttliche Wissenschaft nicht der Liebe wert ist, dann verbergen sie sie vor ihrem Gewissen, um sie nicht in ein gutes Werk umsetzen zu müssen, gleich als erkennten sie das Gute nur äußerlich wie im Traum.

14. Die Spitze der Säule erscheint in eine solche Helligkeit getaucht, wie es die menschliche Zunge nicht auszusprechen vermag, weil der himmlische Vater in seinem höchsten und tiefsten Geheimnis die Mysterien seines Sohnes kund tut. Dieser erstrahlt wiederum in seinem Vater mit höchstem Glanze, in welchem alle Gerechtigkeit offenbar wird wie auch in der Gesetzesbestimmung und besonders im Neuen Testament, das ganz licht ist von der es enthaltenden Weisheit. Eine Taube trägt in ihrem Schnabel ein Strahlenbündel von goldener Farbe, das die Säule hell erleuchtet. Dies soll den hl. Geist versinnbilden, der aufstrahlt im Herzen des Vaters durch das hell blinkende Licht des Sohnes. Der hl. Geist ist es auch, durch welchen die Geheimnisse des höchsten Gottessohnes erklärt werden. Der hl. Geist hat in seiner tiefsten Eingebung einen goldenen Glanz, d. h. eine alles überragende Helligkeit seiner Salbung durch vielerlei und große mystische Benetzung, mit der er die Geheimnisse des Eingeborenen Gottes den alten Verkündern offenbarte. Kraftvoll verbrannte er das Gewinde des Alten Testamentes und pflanzte den geistigen Keim des Evangeliums mit seiner Gerechtigkeit.

15. Du siehst eine Gestalt vor der Säule auf dem Boden des Gebäudes stehen. Diese bedeutet das göttliche Wissen, das die Menschen und alles Übrige im Himmel und auf der Erde vorhererkennt. Diese Gestalt ist so in lichte Klarheit eingetaucht, daß weder ihre Gewänder noch ihr Antlitz, das schrecklich ist wie ein drohender Blitz und sanft in Güte wie das Sonnenlicht, zu unterscheiden ist. Sowohl in seiner Schrecklichkeit wie auch in seiner Sanftmut ist es unbegreifbar den Menschen. Das göttliche Wissen ist nämlich vor allem und in allem und von solcher geheimen Schönheit, daß von keinem Sterblichen eingesehen werden kann, mit welchem Maß von Milde es die Menschen erträgt.

16. Die Gestalt siehst du eine überaus schöne Schar Engel mit Flügeln umgeben und in solcher Verehrung stehen, die Furcht und Liebe zugleich ausdrückt, weil die seligen und erhabenen Geister in englischem Dienste das Wissen Gottes durch reinstes Lob verehren.

17. Eine andere Schar menschlicher Art erscheint in düstere Gewänder gehüllt und standen von Furcht gelähmt da. Der Mensch ist vor Gottes Angesicht in großer Ehre. Aber jene Schar dort sind gejagte Schafe. Sie haben ein menschliches Äußere, weil sich Zweifel bei den sündigen Werken regen, aber dennoch fürchteten sie Gottes Gericht. Ich nenne sie gejagte Schafe, weil ich sie auf vielerlei Art zusammentreibe, am zum Leben zu gelangen.

18. Die genannte Gestalt schaut auf die Ankömmlinge aus der Welt, die im Gebäude ein neues Gewand erhalten, weil das göttliche Wissen jene kennt, die die ruchlose Ungläubigkeit abwerfen und in der Kraft Gottes einen neuen Menschen für das ewige Leben in der Taufe anziehen.


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