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Die fünfte Vision: Von der Synagoge.

1. Darauf sah ich etwas wie eine weibliche Gestalt, die vom Scheitel bis zur Mitte blaß war und von der Mitte ihres Körpers bis zu den Füßen schwarz. An den Füßen blutete sie, und um ihre Füße herum hatte sie wie eine ganz helle und reine Wolke. Augen hatte sie keine; ihre Hände aber hielt sie unter ihren Achseln; sie stand vor dem Altare, d. h. vor Gottes Augen, aber berührte ihn selbst nicht. Und in ihrem Herzen stand Abraham und auf ihrer Brust Moses, auf ihrem Leibe aber die übrigen Propheten, und jeder von ihnen zeigte die ihm zugehörigen Zeichen, und sie bewunderten die Schönheit der neuen Braut. Diese aber erschien von solcher Größe wie ein riesengroßer Turm einer Stadt, der auf seiner Spitze einen Kreis ähnlich der Morgenröte hat. Wiederum hörte ich eine Stimme vom Himmel zu mir sprechen: »Dem alten Volk hat Gott die Strenge des Gesetzes auferlegt, als er Abraham die Beschneidung angab, welche er später in süße Gnade verwandelte, als er seinen Sohn für die Wahrheit des Evangeliums den Gläubigen hingab, und er die im Gesetzesjoch Verwundeten mit dem Öl der Barmherzigkeit tröstete.

2. Daher siehst du eine weibliche Gestalt, die blaß ist vom Scheitel bis zur Mitte. Es ist dies die Synagoge, die Mutter der Menschwerdung des Sohnes Gottes. Sie ist nicht die rotschimmernde Morgenröte, welche offenkundig spricht, sondern betrachtet sie nur in großer Bewunderung von fernher. Wer ist diese neue Braut, welche sich mit zahllosen guten Werken erhebt unter den verlassenen Völkern, die die Gesetzesvorschriften der Weisheit verließen und Götzen anbeten? Sie steigt empor zu überirdischen Wünschen und sehnt sich und stützt sich auf ihren Bräutigam, Gottes Sohn. Dies ist die Braut, welche von Gottes Sohn mit herrlichen Tugenden beschenkt, leuchtet und reich ist an den Flüssen der Schrift. So hat die Synagoge die neue Braut, die Kirche, bewundert, denn sie erkannte noch nicht mit gleicher Tugend geschmückt, und sie sah, daß die Kirche mit dem Schutz der Engel umgeben worden ist, während die Synagoge von Gott verlassen in Lastern daliegt.

3. Daher siehst du sie auch von der Mitte bis zu den Füßen schwarz aussehend, weil sie von der Kraft ihrer Ausbreitung bis zum Ende ihrer Dauer in der Verkehrung des Gesetzes und in der Übertretung des Testamentes ihrer Väter sich befleckt hat.

4. Die Füße sind blutig, um diese herum aber hat sie eine helleuchtende reine Wolke. Dies ist so, weil sie schließlich den Propheten der Propheten getötet hat, weshalb sie selbst fiel und auseinander barst. Dennoch erhob sich bei ihrem Ende in den Gemütern der Gläubigen ein hellstrahlender und ganz klarer Glaube; denn, wo die Synagoge ihr Ende fand, dort erhob sich die Kirche, als sich die apostolische Lehre nach dem Tode von Gottes Sohn über den ganzen Erdkreis ausbreitete.

5. Die Gestalt ist der Augen beraubt und hält ihre Hände unter den Achseln, weil die Synagoge nicht zum wahren Licht aufblickte, als sie den Eingeborenen Gottes verachtete, und verbirgt sie lässig, als wären sie nicht da.

6. Sie steht vor dem Altare, d. h. vor Gottes Augen, aber berührt ihn nicht; da sie ja Gottes Gesetz, welches sie auf sein Geheiß und mit göttlicher Einsicht aufnahm, äußerlich zwar kannte, innerlich aber nicht umfaßte.

7. Aber auf ihrem Herzen steht Abraham, da er der Anfang der Beschneidung in der Synagoge war, und auf ihrer Brust steht Moses, weil jener in die Herzen der Menschen das göttliche Gesetz hineinlegte. Und auf dem Leibe die übrigen Propheten, weil sie nach der Bestimmung des göttlichen Willens Betrachter der göttlichen Gebote wurden. Die einzelnen zeigen ihre besonderen Zeichen und bewundern die Schönheit der neuen Braut, weil sie die Großtaten ihrer Prophetengabe in wunderbaren Zeichen kundtaten und die Schönheit der hochedlen Kirche mit großer Bewunderung erwarteten.

8. Sie selbst aber erscheint von solcher Größe, daß sie einem sehr hohen Stadtturm gleicht. Denn da sie die Größe der göttlichen Gebote in sich aufnahm, verkündete sie Schutz und Schirm einer edlen und auserwählten Stadt. Auf ihrem Haupte hat sie eine der Morgenröte ähnliche Krone, weil die Kirche in ihrem Ursprung das Wunder der Menschwerdung des Eingeborenen Gottes gezeigt hat und leuchtende Tugenden und Geheimnisse, welche nachfolgten, dargetan hat. Sie bezeichnet Adam, der den ersten Willen Gottes erhielt, aber nachher durch seine Übertretung dem Tode verfiel. So taten es auch die Juden, die zuerst das göttliche Gebot aufnahmen, aber darauf den Sohn Gottes in ihrer Ungläubigkeit verwarfen. Wie aber der Mensch durch den Tod des Eingeborenen Gottes in der jüngsten Zeit dem Tode entrissen worden ist, so verläßt auch die Synagoge, erweckt durch göttliche Milde vor dem Jüngsten Tage, die Ungläubigkeit und wird wahrlich zur Erkenntnis Gottes gelangen. Was bedeutet das? Geht nicht die Morgenröte vor der Sonne einher? Aber die Morgenröte weicht zurück und die Sonnenhelle bleibt. Das Alte Testament zog sich zurück, und die Wahrheit des Evangeliums bleibt, da ja, was die Alten in Gesetzesbeobachtung mit dem Fleische bewahrten, das neue Volk im Neuen Testament geistigerweise übt; weil sie das im Geiste vollenden, was jene im Fleische zeigten. Die Beschneidung ging nicht unter, sondern wurde in die Taufe überführt. Wie nämlich jene an einem Glied bezeichnet wurden, so diese an allen ihren Gliedern. Daher sind die alten Satzungen nicht verloren gegangen, da sie ja in bessere Gestalt übergingen.

9. Auch in jüngster Zeit überträgt sich die Synagoge getreulich in die Kirche. Ich, der Sohn des Allerhöchsten, nahm die Rauheit des äußerlichen Gesetzes von dir und gab dir die Labe geistlicher Lehre in mir selbst.


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