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Hildegard von Bingen

Zur Einführung

Deutschland hat eine dantegleiche Frau und kennt ihr Werk nicht, das Werk der größten Dichterin und Philosophin des deutschen Mittelalters, einer Prophetin und einer Heiligen, der alle Größen ihrer Zeit, Bernhard und Barbarossa, die Kirchenfürsten und weltlichen Fürsten in Ehrfurcht gehuldigt haben, und die so hoch über gemeinmenschliches Maß hinausragt, daß eben dies Übermenschliche bedrückt und scheu macht, an das Geheimnis dieser Persönlichkeit zu rühren und zu fragen, was ihr Werk zu bedeuten hat. Die Heiligengestalt ist bekannt und in ein paar guten und weniger guten Biographien gezeichnet, aber ihr Werk ist geschützt durch den Feuerkreis des symbolischen Geistes, und seine heroische Höhe ist nur zugänglich durch Geist, durch Denken in mittelalterlichem Geiste. Dabei ist es wiederum nicht die deutsche Mystik, jene Mystik des 14. Jahrhunderts, die dank den Romantikern und Germanisten leidlich erforscht, teilweise übersetzt und in ihren großen Namen wenigstens als Gemeingut der Gebildeten gelten kann und auch nicht die Scholastik des 13. Jahrhunderts, die langsam durch einen großen Kreis deutscher und ausländischer Gelehrter wieder zugänglich gemacht wird, sondern es ist die Weltanschauung des 12. Jahrhunderts, die am besten deutscher Symbolismus genannt werden kann und allein hinzuführen vermag zum Werk der prophetissa teutonica.

Dieser Geist des 12. Jahrhunderts ist uns so schwer zugänglich, weil unsere eigene Frömmigkeit allzusehr vom religiösen Einzelmenschen ausgeht, von Gebet und Andacht, Erbauung und Mystik oder Gotteserkenntnis, und weil sie die religiöse Welt kaum mehr als Gotteswerk, als absolut eigenständige Wirklichkeit, als Heilsvorgang und Heilsgeschichte, Christengemeinschaft und Gottesreich sieht. Gott und die Einzelseele, das ist unsere intime, private Religiosität, Gott und alle Geister vom Engelsturz bis zum Jüngsten Gericht, das ist die monumentale Frömmigkeit des kosmischen, weltweiten und ewigkeitstrunkenen 12. Jahrhunderts.

Es war insbesondere ein Kreis von deutschen Denkern, der im 12. Jahrhundert eine mächtige Geistesbewegung getragen hat, die ihrer äußeren literarischen Breite nach sicher die Mystik des 14. Jahrhunderts übertrifft, und die sich in den großen exegetischen Weltdichtungen eines Rupert von Deutz, Honorius, Hugo von St. Victor, Anselm von Havelberg, Otto von Freising, Gerhoh und Anselm von Reichersberg ausgesprochen hat. Nun, da langsam symbolisches und mythisches Denken auch von uns wieder innerlich errungen wird, ist es vielleicht an der Zeit, das Hauptwerk der Seherin und Dichterin dieses Kreises, der heiligen Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) zu ihrem 750jährigen Jubiläum zugänglich zu machen.

In unserem Weltbild steht alles für sich allein, und so ist alles nicht weiter bedeutungsvoll. Symbolismus aber heißt, daß schlechthin alles bedeutungsvoll ist, hinweisend auf anderes, weil alles in einer universalen Ordnung steht, alles gegenseitig aufeinander bezogen ist und in dieser Beziehung aller Sphären aufeinander einen ewigen, großen, buchstäblich welterschütternden Sinn besitzt. Alles ist Offenbarung einer unendlichen Willensmacht und Weisheit, die alle Zeiten in Ewigkeit bestimmt und ihr Werk und ihren Plan mit den Menschen in einem geschlossenen Weltepos der Entfaltung und Vollendung des Gottesreiches vollbringt. Der Kosmos einer unendlichen Zeitenordnung ist damit aufgetan, sie ist die wahre Weltordnung, alles Äußere ist nur Bild und Gleichnis, Symbol! Alles gute Endliche ist heilig, alles Sichtbare ist Zeichen, jede Form ist Gleichnis, weil im Symbolismus anders als bei der Mystik nichts in der gefühlten oder geahnten Unendlichkeit einer Einigung mit Gott versinken soll, sondern in aller Form die Hand des formenden Meisters und das Geheimnis der dreifaltigen Ordnung in Gott aufgespürt werden soll. Das Weltbild wird visionär, weil die Symbolschau durch alle Weltdinge und Weltereignisse hindurchblickt und von ihrer Bildform auf die makrokosmische und transkosmische Ordnung des Gotteswerkes schließt.

Was bisher vom Symbolismus ausgesagt wurde, ist den deutschen Symbolikern des 12. Jahrhunderts gemeinsam. Hildegard, die Frau, hat es für sich allein, daß ihre Symbolschau sich zu echten Visionen steigert. Das erhebt sie noch über Dante, der seine Visionen nur dichtet. Ihr Enthusiasmus ist in einem höchsten Sinne Poesie, Extase und Inspiratio, überwache Bilderschau und gleichsam von außen her gehörtes Wort, dessen Fülle sie stammelnd und übersprudelnd aus sich herauswirft.

Der poetische Geist ihres Werks ist zudem der eigentliche Sinn ihrer Spiritualität. Es entspricht ihrer betonten und selbstbewußten Fraulichkeit, daß sie gerade als Frau Besonderes zu sagen hat. Trotzdem gibt das individuell persönliche Gemütsleben Farbe und Klang für eine an sich durchaus objektive liturgische und kosmische Frömmigkeit ab: die Harmonie zwischen Gott und der Welt als Seelenharmonie, das ist die metaphysische Formel für ihr Werk.

Sie ist im herrlichsten Bild zu Anfang ihres Hauptwerks Scivias, »Wisse die Wege« oder objektiv: »Der Weg der Welt« gestaltet: die unerträglich leuchtende Majestät Gottes thront in Menschengestalt auf dem eisernen Berg der Ewigkeit und Kirche, aber der sanfte Schatten ihrer Flügel geht als die milde Erlösung von ihr aus. Vor ihm steht die Seele als Furcht Gottes und als Armut im Geiste und wird so gewaltig erleuchtet mit dem goldenen Lichtstrom der göttlichen Heilskraft und Erschließung der Siegel der Geheimnisse, daß ihr eigenes Antlitz verschwindet.

Das System der Visionen – man muß tatsächlich von einem solchen reden, so paradox es klingt, – ist dasselbe wie bei Rupert und Hugo, die Kirchengeschichte vom Engelsturz bis zum Jüngsten Gericht und zur Verklärung im Himmel. Das Weltbild ist wesenhaft in der geschichtlichen Abfolge gesehen. Aber bei Hildegard ist eine viel vehementere Dynamik wirksam als bei Hugo. Der Engelsturz ist eine kosmische Katastrophe der superbia. Ihm ist Adams und Evas Fall angeschlossen (II. Vis.). Das Weltbild selbst ist in der eigenartigsten aller mittelalterlichen Schauungen gegeben: das Bild des Ptolomäischen Weltsystems ist zunächst einmal in der Ebene eines bewegten Lichtbildes gesehen. Seine Einzelheiten sind dann sogleich, ohne daß die sichtbare Wirklichkeit der Symbole, die Goldflammen des Empyreums, die rotschwarze Schale der Blitze mit den grünen Oststürmen, die blaue Ätherwelt mit den goldenen und weißen Sternen, Sonne und Mond, die fünf Planeten, die Eis- und Regenschale und schließlich der Kreis der vier Erdelemente ausdrücklich bezeichnet würde, auf die Majestät des allmächtigen Gottes, auf Christus, die Sonne der Gerechtigkeit, auf die mild leuchtende Kirche, auf die Taufe usf. gedeutet. Der symbolische Gehalt des Kosmos ist bedroht von der magischen und dämonischen Gewalt der Welt, die erst durch die Menschwerdung des Gottessohnes überwunden wurde (3. Vis.). Der Makrokosmos ist die äußere Wohnstatt der Seele, sie haust dann weiter im Mikrokosmos des Leibes, ihr leuchtender Kern ist herabgekommen vom leuchtenden Symbol des ewigen Wortes. Als Kämpferin muß die Seele erst den im mütterlichen Leibe empfangenen Turm ihrer Leiblichkeit auferbauen aus den verschiedenen Elementen und Temperamenten. Das Naturgesetz ist hier mit der Naturempfindlichkeit einer Frau in seiner ganzen Differenzierung aufgefaßt und in die natürliche Dramatik der Seelenkräfte verlegt (4. Vis.). Das mosaische Gesetz ist als die starr erhabene weibliche Gestalt der Synagoge gesehen, die auf ihrer Brust Moses und in ihrem Schoß Aaron, die Patriarchen und Gerechten trägt (5. Vis.). Die neun konzentrischen Kreise der Engelchöre erklingen in himmlischer Sphärenharmonie (6. Vis.).

Das ist die himmlisch-irdische Vorgeschichte des eigentlichen, geheimnisvollen Lebens der Kirche, das in den weiteren Visionen gezeigt wird, und dem in den letzten drei Visionen das irdischhimmlische Nachspiel des Gerichts und der Verklärung folgt. Das zweite Buch gibt zunächst die Christologie. Die Menschwerdung ist ein kosmisches Licht- und Gnadenwunder, die kosmische Wende der Wiederherstellung der Naturordnung durch die Rückverbindung des Seelenweltreichs in die Gottnatur (II, 1). Nun erst offenbart sich die Trinität in ihrem vollen Glänze als ein Menschenbild in drei Flammenkreisen der Klarheit, Kraft und Glut (II, 2). Es erscheint in den fünf weiteren Visionen des zweiten Buchs die goldstrahlende Frauengestalt der Kirche, Mutter des sakramentalen, zeitlich-ewigen Lebensdramas der Seele, groß wie eine Stadt, wunderbar getürmt, mit erhobenen Armen, von denen gleich Gottes Flügeln der Gnadenstrom vom Himmel auf die Erde träufelt. Durch das Gitter ihres Leibes gehen die Seelen zur Wiedergeburt der Taufe ein und aus (II, 3). Dann erscheint dieselbe Frauengestalt als der Turm der Firmung zur Stärkung und Salbung der Seele in ihrem Lebenskampf und dann als die leuchtend reine Jungfrau des Sakramentes der Jungfräulichkeit, der weiblichen Ordensweihe, die die Seherin hier zwischen die sieben Sakramente einfügt, und die sie mit dem priesterlichen ordo und dem Stand der Ehe zu drei gleichberechtigten Ständen der Kirche verbindet (II, 5). Die sechste Vision, die das Altarssakrament schildert, wächst zu einem mächtigen Traktat von der Eucharistie an und klingt in die Mahnung zur Buße aus. Das düstere Gegenbild dieses sakramentalen Lebens ist die siebte Vision: der im Abgrund auf 1000 Jahre gefesselte Drache in den Farben der weltlichen Traurigkeit, des Ungehorsams, der Ruhmsucht, des Neides und der Verstellung liegt neben dem Markt der irdischen Eitelkeiten. Die Dämonie der Welt ist gebunden und hell leuchtet über ihr ein hoher Berg mit vielen Flammen und Zungen, das ist der Glaube der freien Völker und die Erhabenheit ihres Ruhms.

Die ersten zehn Visionen des dritten Buches sind nochmals ein Drama im Drama, die Weltgeschichte der Kirche als Gottesstadt auf dem Berge der Gotteswelt. Auf leuchtender Wolke thront der Christus-König über ihr, der an seiner Brust den armseligen Menschen birgt. Der zeitliche Ablauf ist durch den Zwang der Augenblicksvision zu dem bizarren Modell einer Stadt mit vier Mauern und vielen Türmen versteinert, die aufgestellt ist zwischen den vier Angelpunkten der Welt, Süd, Ost, Nord, West. In einer Vision ist zunächst die Schau der ganzen Reichsgottesstadt zusammengefaßt, dann ist in einzelnen Visionen Stück für Stück geschaut, aber auch in den Einzelheiten bricht immer wieder der Sinn des Ganzen durch, so wie die Zelle im Organ und dies im Organismus steht.

Von Ost nach Nord führt die eisenfarbene Mauer der Zeit von Abel bis Noe. Auf ihr erhebt sich der Turm des vorherbestimmenden Gotteswillens. Durch die Beschneidung und das Gesetz ist der Erlösungswille Gottes vorausverkündigt. Fünf Gestalten stehen auf ihm, die das Tugendleben dieser Zeit darstellen, im einzelnen zwar nur allegoriehaft gegeben sind, aber miteinander doch echtes Symbol zur Charakterisierung dieser Zeit sind (III, 3).

Eine hohe Säule an dieser Mauer zeigt die Vorläufer Christi, Abraham, Moses, Josue, die Patriarchen und Propheten, die die Menschwerdung voraussehen. Ihnen entsprechen die Apostel, Märtyrer, Bekenner und Jungfrauen an der zweiten Kante, an der dritten aber leuchtet der Glanz der spiritualis intelligentia, des geistlichen Verständnisses der Schrift (III, 4). Über der ersten Ecke erhebt sich gleich einem Mauerkopf das schreckhafte rotleuchtende Haupt des göttlichen Zorns (III, 5).

Von Norden nach Westen erstreckt sich die dreifache Steinmauer des Werkes der Kirche im israelitischen Volk von Abraham und Moses bis zur Menschwerdung. Unter diesem nicht gerade glücklichen Bilde ist die Soziallehre Hildegards untergebracht, die Unterordnung aller Menschen und Völker unter das Königtum Christi, das alle frei macht. Die Führergestalten ragen hervor, und durch den Hinblick auf sie unterscheidet sich edel und unedel (III, 6). Die Säule der Dreifaltigkeit, die nochmals die Verbindung des symbolischen Geistes mit der Trinität darstellt, steht im Schnittpunkt der nördlichen und westlichen Mauer, mit der nun die neue Kirchengeschichte bis zur Gegenwart Hildegards beginnt (III, 7). Die Säule der Menschwerdung als Lebensoffenbarung des Leibes Christi wird verdeutlicht durch die christlichen Haupttugenden, Glaube, Hoffnung, Liebe, Demut, Gottesfurcht, Gehorsam, Keuschheit, Unschuld und Gottesgnade (III, 8). Endlich gibt der Turm der Kirche in einem sehr eindrucksvollen Bilde das Kirchenleben selbst. Die Gläubigen gehen durch ihn hindurch und steigen in ihm auf der mystischen Leiter empor, wo oben die sieben Gaben des Heiligen Geistes stehen als die eigentlich spirituellen Lebenskräfte der Kirche. Noch gewaltiger aber entfaltet sich die eschatologische Furchtbarkeit, das tremendum der noch ausstehenden Kirchengeschichte der Zukunft, die in drei analogen Bildern gegeben wird, in fünf apokalyptischen Tieren des Hundes, Löwen, Pferdes, Schweines und Wolfes als Symbolen der wildesten Lebenstriebe der zeitlichen Reiche, der Feurigkeit, Kriegswut, Leichtfertigkeit, Unreinheit und Raubgier. Die Gestalt des Christus-Königs wird nun auch von der Mitte nach unten hin bis zu den Füßen geoffenbart als der leidende Christus der fünf kommenden, antichristlichen Verfolgungszeiten, und endlich wird im furchtbarsten aller Bilder auch der untere Teil der Kirchengestalt selbst gezeigt, nackt und blutig mit zerschlagenen Beinen, in ihrem Schöße das teuflische Haupt des Antichrist, der nach fünf Zeitabschnitten am sechsten wie einst der Mensch nach den fünf Schöpfungstagen als der andere Menschensohn der Dämonie erscheinen wird, sich in der gewaltigen Endkatastrophe zur Himmelshöhe erheben, aber durch das Donnerwort Christi herabgestürzt werden wird (III, 11). Dann kommt das Weltgericht mit der Auferweckung der Toten und das Erscheinen des Richters, der Sturz der Verdammten in die Hölle und das Hervorbrechen von Feuer, Luft und Wasser im Reinigungssturm der Welt, auf daß nach dieser letzten Katastrophe die neue Erde und der neue Himmel erscheinen kann. Die Chöre der Engel und Seligen ordnen sich neu nach den Rangstufen der himmlischen Gemeinschaft, Maria, die Engel, Patriarchen, Propheten, der Vorläufer Johannes, Petrus, Paulus, die Apostel, Stephanus und die Märtyrer, die heiligen Könige und Päpste und die Jungfrauen. Das ist, nur nicht so streng durchgeführt, die Dantesche Ständeordnung des Himmels, Nachbild der idealen irdischen Ständeordnung.

Es ist ein erhabener Augenblick des Mittelalters, in dem diese Weltdichtung vollendet wurde. Mag sie uns auch in vielem herb, manchmal nur allegorisch und moralistisch erscheinen und schwerverständlich für uns sein, die wir so ganz des symbolischen Denkens entwöhnt sind, so ist sie dennoch größer und eindringlicher und echt visionär, anders als Dantes Divina Commedia. Gleichzeitig mit Bernhard, den auch Dante als den höchsten Genius des Mittelalters verehrt, und der wirklich persönlich den Sinn des Mittelalters verkörpert, stand diese deutsche Frau auf, um bildhaft und dichterisch, alles was der deutsche Symbolismus gedacht, zu erleben und zu fühlen und es in apokalyptischer Sprache auszusprechen. Was immer auch die Kunst des Mittelalters unbewußt oder in symbolischer Weisheit vom Sinn dieser Zeit zu sagen und zu gestalten wußte, hier ist in persönlicher Eigenart auf einmal das Ganze gesagt. Mag der Romane Dante formvollendeter am Schluß des italienischen Symbolismus wie Hildegard am Ende des deutschen nochmals ein noch mehr moralisch geschautes Weltbild gegeben haben, schon gesättigt mit der hellwachen Individualität der jungen Renaissance und darum uns leichter zugänglich, das tiefere mythische Bild der Zeit in ihrer furchtbaren und erhabenen Größe und herben Wahrhaftigkeit hat Hildegard gegeben.

Alois Dempf


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