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Die achte Vision: Die Säule des Erlösers.

1. Dann sah ich an einem südlichen Ort jener steinernen Gebäudemauer jenseits der Säule der wahren Dreifaltigkeit noch eine große verdunkelte Säule im Gebäude und außerhalb. So schattenhaft erschien sie mir nur, daß ich unmöglich ihre Größe und Höhe feststellen konnte. Der Zwischenraum von dieser Säule und der der wahren Dreieinigkeit betrug drei Ellen. Keine Mauer faßte ihn ein, nur der Boden war vorhanden. Die dunkle Säule stand gerade auf jenem Gebäudefleck, wo ich vorher in himmlischem Geheimnis vor Gott jenen großen quadratischen, sehr helleuchtenden weißen Glanz wahrgenommen hatte, der das Geheimnis des himmlischen Schöpfers bedeutete, wie mir in höchster Übernatürlichkeit geoffenbart worden war. In diesem brannte noch ein anderer Glanz wie die Morgenröte, die purpurnes Licht aussendete; durch dieses wurde mir in mystischer Beschauung das Geheimnis der Menschwerdung des Sohnes Gottes vermittelt. An jener Säule hing eine Leiter, auf welcher alle Kräfte Gottes auf- und niederstiegen; mit schweren Steinlasten sah ich sie zu ihrem Werk schreiten, um es zu vollenden. Den Lichtträger auf dem Throne hörte ich also sprechen: »Es sind dies die stärksten Taglöhner Gottes.« Sieben dieser Gestalten fielen mir besonders auf, und ich betrachtete ihre Form und Haltung eingehend. Sie hatten mit den schon früher geschauten Tugenden gleich, daß sie alle seidene Kleider trugen. Der Mantel fehlte, außer bei der ersten, die ihr Haupt nach Frauensitte verhüllt trug und mit einer Casula bekleidet war, die durchschimmernd für das Licht wie Kristall war. Die zweite Gestalt hatte schwarze Haare; die dritte schien einem Menschen ganz unähnlich zu sein. Die erste, vierte und fünfte trugen weiße Gewänder, alle hatten weißes Schuhzeug, außer jener dritten, die kein menschliches Äußere hatte, wie schon gesagt worden ist. Auch die vierte hatte keine weißen Schuhe, sondern welche aus Kristall, die wunderbar funkelten. Sie wiesen noch eine andere Verschiedenheit auf: die erste trug einen goldenen Kranz auf ihrem Kopfe, hielt drei Zweige in die Höhe und glitzerte von sehr wertvollen grünen und roten Steinen. Auf ihrer Brust gewahrte ich einen hellen Spiegel, in dem das Bild des eingeborenen Sohnes Gottes mit wunderbarer Deutlichkeit erschien. Sie sprach: »Ich bin die Säule demütiger Gemüter und töte die stolzen Herzen. Klein fing ich an und begeistere für die Beschwerlichkeiten des Himmels.«

3. Der zweiten Gestalt Form und Kleid glichen der Farbe einer Hyazinthe. In ihr Kleid waren zwei Streifen Gold und Edelsteine wunderbar eingewoben, so daß je einer derselben ihr über die Schultern vorn und rückwärts fiel.

4. Die dritte Gestalt erschien mir wie auch in der früheren Vision. Sie überragte die anderen Tugenden an Länge, glich keinem Menschen und hatte viele Augen überall.

5. Die vierte Gestalt aber trug eine schneeweiße Fessel um ihren Hals, und auch die Hände und Füße waren ihr mit weißem Band umschlungen.

6. Die fünfte Gestalt hatte eine rote Halskette und sprach: »Gott ist eins in drei Personen; einer Wesenheit und deshalb muß ihm der gleiche Ehrendienst erwiesen werden.«

7. Die sechste Gestalt war mit einem blassen Gewand bekleidet. Das Leidenskreuz des gekreuzigten Gottessohnes erschien vor ihr in der Luft.

8. Die siebte Gestalt war mit leuchtenderem Gewande bekleidet als Kristall und spiegelte so den Glanz wieder, daß das Wasser mit der Sonne gemischt zu sein schien. Über ihrem Haupte stand eine Taube mit ausgebreiteten Flügeln, ihrem Gesichte zugewandt. In ihrem Leibe wurde wie in einem Spiegel das leuchtendste Kind sichtbar, auf dessen Stirn geschrieben stand: »Unschuld«. Die rechte Hand faßte ein Königszepter, während die linke auf die Brust gelegt war.

9. Am oberen Ende der dunklen Säule erblickte ich noch eine wunderschöne Gestalt mit entblößtem Haupte, schwärzlichen gelockten Haaren und menschlichem Gesicht in großer Klarheit stehen. Das purpurn und dunkle Gewand, über das auf beide Schultern ein Band von safrangelber Farbe auf dem Rücken und vorn bis zu den Füßen herabhing, hüllte die Gestalt ein. Um den Hals trug sie das bischöfliche Pallium, geziert mit wunderbarem Gold- und Edelsteinschmuck. Ein strahlender Glanz aber flutete von allen Seiten, so daß die Arme, Hände und Füße nicht zu sehen waren.

10. Auf mystische Weise wird dir die Säule im Süden gezeigt, an der steinernen Gebäudemauer jenseits der Säule der wahren Dreifaltigkeit, die die Menschheit des Erlösers darstellt. Dieser wurde vom hl. Geiste empfangen und als Sohn des Allerhöchsten von der lieblichen Jungfrau geboren. Er trägt als stärkste Säule der Heiligkeit das ganze kirchliche Gebäude. Seine menschliche Natur erscheint im glühenden Glauben der Steine getreuer Völker, die nach des himmlischen Vaters Güte machtvoll wirken.

11. Die große Säule erscheint verdunkelt innerhalb und außerhalb des Gebäudes, weil die Heiligkeit der wahren Menschwerdung groß und unschätzbar und deshalb dem menschlichen Geiste dunkel ist, so daß sie nur von denen erkannt werden kann, die sie innerlich durch den Glauben und das Werk erfassen. Dem Auge erscheint die Säule verdunkelt zu sein, weil mein Sohn den Menschen in sterblichem Fleische zwar ohne eine Sünde, aber durch die Sterblichkeit verfinstert schien, denn er wollte für sein Volk sterben.

12. Die dunkle Säule steht in jenem Gebäude an derselben Stelle, wo du vorher in himmlischem Mysterium vor Gott einen großen, quadratischen, sehr hellen Schein sähest, der das Geheimnis des höchsten Schöpfers bezeichnete, weil der eingeborene Sohn Gottes alle seine Werke gemäß dem geheimen Willen des Vaters erfüllte. Vier Ecken sind vorhanden, weil viele zur Kenntnis Christi von allen vier Weltenden gelangen. Der hervorragende Glanz ist da, weil die hellstrahlende Gottheit durch keine Schattenhaftigkeit verdunkelt werden kann. Dieser Schein umfaßt noch einen andern wie die Morgenröte, wodurch in mystischer Schau das Geheimnis des menschgewordenen Gottessohnes gezeigt werden soll: im Geheimnis des höchsten Gottes bedeutet der Glanz der Morgenröte die Jungfrau Maria, die in ihrem Leibe den Sohn des himmlischen und höchsten Vaters trug, der sein im klarsten Lichte der Erlösung purpurblitzendes Blut vergoß.

13. An der genannten Säule erblickst du von unten bis oben eine Leiter, weil im eingeborenen Sohn Gottes alle Tugenden sich vollkommen auswirkten und die Spuren der Erlösung anderen hinterließ. Die Tugenden steigen durch ihn hinab in die Herzen gläubiger Menschen, die mit gutem Herzen ihren Eigenwillen verlassen und sich den rechten Werken zuwenden, wie auch der Arbeiter sich zum Heben des Steines hinunterbeugt, den er zum Bauen benötigt. In Christus steigen die Tugenden dann aufwärts, indem sie himmlische Werke, die sie in den Menschen vollendeten, Gott zujubelnd darbringen, damit der Leib Christi in den gläubigen Gliedern so eilends wie möglich zur Vollendung gelangt.

14. Besonders sieben Tugenden stellen wir auf, die du betrachtest nach ihren Formen und Haltung, so wie du sie siehst, weil diese sieben Tugenden die hervorragendsten sind und die sieben glühenden Gaben des hl. Geistes bedeuten.

15. Die erste Gestalt stellt die Tugend der Demut dar, die zuerst den Sohn Gottes auszeichnete, denn nicht verschmähte es Gott, der Herr des Himmels und der Erde, seinen Sohn auf die Welt zu senden. Sie trägt daher auch einen goldenen Kranz auf ihrem Haupte, aus dem drei Zweige emporragen, weil sie die übrigen Tugenden übertrifft und ihnen lieblich vorangeht, nämlich in der kostbaren Menschwerdung des Erlösers; dieses Grundgeheimnis ward ihre Zierde. Die drei Reislein an der Krone bedeuten die Dreieinigkeit in der Einheit und umgekehrt. Der Kranz funkelt von grünen und roten Edelsteinen, weil die Menschheit des Erlösers die höchste und tiefste Güte bewies. Sein rotes Blut, das er bei seinem Todesleiden am Kreuze vergoß, rettete den Menschen, und wegen seiner weißschimmernden Auferstehung und Himmelfahrt, die das Leben der Kirche bestrahlt und ziert, sind kostbare Steine eingefügt. Auf der Brust trägt sie einen ganz leuchtenden Spiegel, in dem mit wunderbarer Klarheit das Bild des eingeborenen Sohnes Gottes erscheint, weil in der Demut, die sich im geheiligten Herzenstempel findet, im beseligenden und schönsten Wissen der Eingeborene Gottes selbst aufstrahlte samt allen seinen Werken, die er mit seinem Körper vollbrachte, und durch die er sich besonders der Welt offenbarte.

16. Die zweite Gestalt ist die Liebe, denn nächst der Demut, die den Sohn Gottes bewog, Mensch zu werden, zeigt er uns die wahren und glühendsten Lampen der Liebe. Er entzündete sodann auch die Menschen zur Liebe, daß sie jedem Notleidenden zu Hilfe eilen. Dies soll das angelegte Gewand bedeuten. Die beiden vorne und rückwärts herabhängenden Streifen auf beiden Schultern versinnbilden, daß man Gott gleichsam auf seiner rechten Schulter tragen soll, den Nächsten auf der Linken, wie geschrieben steht. In Gott liebst du dein Heil und auch im Nächsten dich selbst, denn niemand steht dir näher als jener, der im Glauben den Namen eines Christen trägt.

17. Die dritte Gestalt wird als die Furcht des Herrn erkannt. Nach der Liebe, die Gott den Menschen durch seines Sohnes Tod offenbarte, erhob sie sich in den Gemütern der Gläubigen, um die himmlischen Gebote vollkommener zu verstehen und auszuführen. Sie überragt die übrigen Tugenden durch ihre Größe und sieht einer menschlichen Gestalt nicht ähnlich, weil sie mehr als die andern den Menschen Furcht und Schrecken einflößt.

18. Als vierte Gestalt erscheint der Gehorsam. Er trägt ein schneeweißes Band um den Hals, weil er die Seelen jener Menschen blendend weiß macht, die dem unschuldigen Lamme, meinem Sohne, anhangen. Die Hände und Füße sind mit einem weißen Strick gebunden, weil der Gehorsam zum Werke Christi und zum Wandeln auf dem Wege der Wahrheit in der Reinheit des wahren Glaubens gehalten ist.

19. Die fünfte Gestalt versinnbildet den Glauben, weil, folgte das Volk meinen Geboten willig durch das Hören, so ist es auch treu im Glauben und will das gläubig durch die Tat ausführen, was es eifrig in der Ermahnung auf sich wirken ließ. Um den Hals ist eine rote Kette gelegt, weil der Glaube immer treu ausharrt und durch das blutige Martyrium gekrönt wird. Denn sein Vertrauen steht auf Gott.

20. Die sechste Gestalt ist die Hoffnung; sie erhebt sich am Ende des Glaubens an Gott zu jenem Leben, für das die Erde keine Wohnstätte hat, sondern nur der Himmel; es bleibt uns aber bis zur ewigen Vergeltung noch verborgen. Dorthin sehnt sich diese Hoffnung, und deshalb ist das Gewand der Hoffnung bleich, weil das Vertrauen noch mit Blässe umgeben ist. Das Kreuz, das Zeichen für das Leiden meines gekreuzigten Sohnes, erscheint vor der Hoffnung in der Luft, und zu ihm erhebt sie ihre Augen und Hände mit tiefer Andacht, weil sie zum Martyrium meines Eingeborenen mit himmlischer Sehnsucht großes Vertrauen in den Seelen der Menschen erweckt.

21. Als siebte Tugend erscheint die Keuschheit, weil sie das vollkommene Werk hervorbringt, nach dem die Menschen ihre ganze Hoffnung auf Gott setzten. Die Keuschheit sehnt sich sehr nach ihrem süßesten Geliebten, der der liebliche Wohlgeruch alles Guten ist. Sie ist mit leuchtenderem und reinerem Gewand bekleidet, als Kristall es ist, das sich so glänzend widerspiegelt, als mischte sich der Sonnenstrahl mit dem Wasser; sie ist einfach und leuchtend in der Absicht und frei von jedem Staub wollüstiger Begierden, denn der hl. Geist stärkte sie, und deshalb leuchtet ihr Unschuldsgewand im klarsten Weiß der Quelle des ewigen Lebens. Über ihrem Haupte schwebt eine Taube mit ausgebreiteten Flügeln, weil die Keuschheit in ihrem Haupte durch die Ausbreitung und Überschattung der Flügel der Taube, nämlich durch die Beschirmung des hl. Geistes, gestärkt wurde. In dem Leib der Gestalt erscheint wie in einem Spiegel ein helleuchtendes Kind, auf dessen Stirn »Unschuld« steht, weil im Innern dieser reinsten und klarsten Tugend die unverletzte, schönste und festeste Unversehrtheit besteht, die die kunstlose Form eines schlichten Kindes hat. In der rechten Hand trägt sie ein Königszepter, und die linke ist auf die Brust gelegt, weil rechts die Heiligung durch den Sohn Gottes, den König des Alls, das Leben in der Keuschheit geoffenbart wurde; zur Linken wird aber die Wollust durch denselben Streiter vernichtet in den Herzen derer, die ihn lieben.

22. Du siehst an der Spitze der dunklen Säule noch eine andere sehr schöne Gestalt, weil sich durch die größte Güte des Allmächtigen in der Menschwerdung des Erlösers selbst die Gnade Gottes zeigte. Die höchste Fülle war in Gott. Das Haupt ist unbedeckt, weil allen Suchenden ihre Würde und Klarheit offenkundig ist. Die schwärzlichen Haare sind gelockt, weil der Eingeborene Gottes in das sich in schwarzem Unglauben windende jüdische Volk mit der menschlichen Natur ohne eine Sünde im jungfräulichen Fleische eintrat. Das männliche Gesicht brannte so in Klarheit, daß man ihn nicht genau betrachten konnte, wie sonst das Antlitz eines Menschen, weil in der Gnade Gottes, in der starken Kraft des Allmächtigen, der Herr des Lebens im Leben erschien. Das Gewand ist purpurn und ziemlich schwarz, weil die Gnade Gottes brennend vor Liebe sich zum Dunkel sündiger Menschen neigt wie zum Gewande derselben. Von jeder Schulter hängt ein Band vorn und rückwärts bis zu den Füßen herab, weil die Gnade Gottes sich zu den gläubigen Menschen herabläßt und sie in Kraft und Güte aufwärts zum Himmel hebt. Um den Hals ist das bischöfliche Pallium gelegt, welches wunderbar mit Gold und kostbaren Steinen geziert ist; denn Christus, der Sohn Gottes, ist der Hohepriester des Vaters und hat überall das priesterliche Amt eingesetzt.


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