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Die fünfte Vision: Vom Zorn Gottes.

1. Dann sah ich in der nördlichen Ecke, wo die zwei Gebäudemauern aneinander stießen, ein Haupt von sonderbarer Form erscheinen, das jener Ecke wie von außen her unbeweglich um den Hals gelegt war. Es war so weit vom Erdboden entfernt wie die Ecke selbst, und beide lagen also in gleicher Höhe. Das Haupt schien feuerfarben zu sein, sprühte ein rotflammendes Feuer aus und hatte ein schreckliches Menschengesicht. Zornig blickte es nach Norden. Bis zum Halse verbarg sich mir der ganze Körper in dem genannten Winkel. Das Haupt war ohne Haare wie das eines Mannes und nicht nach Frauensitte verhüllt; es glich mehr dem eines Mannes als einer Frau und war furchtbar anzusehen. Das Wesen hatte drei sehr lange und breite weiße Flügel, wie eine weißliche Wolke, sie waren nicht alle hoch erhoben, sondern nur jeder für sich gerade ausgebreitet; aber dennoch überragte das Haupt sie beträchtlich. Der erste Flügel wuchs aus der rechten Wange hervor und war nach Norden gerichtet; der dritte, der von der linken Wange ausging, stand nach Westen. Sie blieben nicht immer im gleichen Zustand, denn zuweilen bewegten sie sich furchtbar und stießen einander, dann ruhten sie wieder. Ich hörte keinerlei Worte aus dem Munde dieses Hauptes hervorgehen, vielmehr war es ganz ruhig, nur die Flügel berührten sich. Dann hörte ich die himmlische Stimme von dem Thronenden zu mir sprechen: »Gott, der gegen das alte Volk seinen Eifer übte, erwies sich dem Neuen aus Liebe zu seinem Sohne gnädig und gütig.

2. Das Haupt, welches in der Nordecke der doppelten Gebäudemauer erscheint, bedeutet den Zorn Gottes, der die Strafe bringt für die sich nicht beugen wollende Sünde, die keine Heilung suchte; dieser Eifer kommt aus dem innersten Geheimnis des Wortes Gottes und wurde durch die Stimme der Patriarchen und Propheten vorausgekündet. Der Zorn Gottes erscheint als ein Menschenhaupt, weil er in Furcht als strenger Rächer erkannt wird, wie auch der Mensch besonders an seinem Gesicht zu erkennen ist. Nach Norden erglüht das Haupt, weil der Zorn Gottes sehr rasch und heftig den Teufel und alles Böse tötet.

3. Die Form des genannten Hauptes ist außergewöhnlich, weil im Zorn Gottes wunderbare und staunenswerte Gerichte verborgen sind, die von keinem sündenbeschwerten Menschen je erforscht werden können. Das Haupt scheint unbeweglich von außen an die Ecke zu stoßen, weil mein Zorn gegen den Teufel, wie Abraham und Moses im Alten Testament bezeugten, im schauenden Wissen und menschlicher Übung äußerlich erschien in der Vorstellung der Völker, während meine Gerechtigkeit drohend nach Norden zeigt zur schrecklichen Sünde Satans.

4. Die Unbeweglichkeit bedeutet, daß Gott weder durch falsche noch schmeichlerische Reden bewegt oder abwendig gemacht werden kann von der Geradheit seiner Satzungen. 5. Das Haupt liegt in gleicher Höhe von der Erde wie die Ecke, weil Gott in der höchsten Gerechtigkeit seiner Rache alles Irdische überwindet, wie in Abraham und Moses durch das Gesetz die menschlichen Werke vorherbedeutet waren.

6. Du siehst, daß das Haupt feuerfarben ist und glüht wie eine rote Flamme, weil im Zorne Gottes ein feuriges Hindernis für die Bösen besteht, das rot entflammt ist in der Glut seiner Rache. Es hat ein schreckliches Menschenantlitz, weil die Augen des Herrn das Unrecht von Angesicht zu Angesicht erblicken, weil die Schuld der verschiedenen Verbrechen nicht unbeachtet vor Gott weicht, sondern er sie furchtbar durchschaut und sie in gerechtem Gericht prüft.

7. Das Haupt gleicht dem barhäuptigen Haupt eines Menschen, weil der Zorn Gottes nichts Sterblichem Untertan ist und frei bleibt von jedem Unterworfensein. Es ist nicht bedeckt mit Haaren gleich dem des Mannes und nicht verschleiert wie die Frau, weil eine Schwächung durch eine höhere Macht ausgeschlossen ist. Das Haupt ist mehr männlich, weil die stärkste göttliche Kraft sich mehr in männlicher Stärke offenbart als in weibischer Schwäche. Überaus schrecklich ist der Anblick, weil die göttliche Stärke schreckenerregend ist für jedes Geschöpf, da der Mensch erkennt, daß sie der Grund seiner Bestrafung ist.

8. Die drei weißen Flügel von wunderbarer Breite und Länge wie eine hellschimmernde Wolke versinnbilden die Ausdehnung der unbeschreiblichen Kraft der hl. Dreifaltigkeit, welche kein Mensch in der Breite ihrer Herrlichkeit und in der Länge ihrer Macht begreifen kann. Sie erstrahlt in süßem Glanze der Gottheit und unterwirft sich die Menschenherzen in gerechter Strafe auf vielerlei Art wie die auseinanderjagenden Wolken. Die Flügel stehen nicht aufwärts, sondern sind nur geradeaus erhoben, so daß das Haupt ein wenig überragt wird, weil die Rache des Herrn keine Anmaßung enthält, sondern jeder Ursache nach Gebühr angepaßt ist.

9. Zuweilen schlagen die Flügel schrecklich zusammen, weil das furchtbare und grausige Gericht für alle Kreatur in den Zorn Gottes übergeht und über alle dort seine Erschütterungen ausübt, wo es der göttlichen Majestät beliebt. Wo aber Furcht, Liebe und Ehrerbietung vor Gott sich bei den Gläubigen finden, dort waltet Gott sanft und gütig, und die Rache bleibt fern.


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