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Die zweite Vision: Von der Gottesstadt.

1. Dann sah ich in dem Kreise, welcher sich von dem Thronenden ausbreitete, wie einen großen Berg, der in Verbindung stand mit dem Fuß jenes ungeheuren Steines, auf welchem die Wolke mit dem Thronenden gelagert war. Der Stein schien zur Höhe gerichtet und der Berg in die Breite gedehnt zu sein. Oben auf dem Berge stand ein viereckiges Gebäude, das Ähnlichkeit mit einer viereckig gebauten Stadt zeigte, jedoch eine Seite etwas geneigt hat. Die vier Ecken blickten je nach Osten, Westen, Norden und Süden. Um das Gebäude herum zog sich eine doppelte Mauer, deren einer Teil leuchtend wie das Tageslicht war, und der andere eine Zusammenfügung von Steinen derart zwischen dem östlichen und nördlichen Winkel, daß jener leuchtende Teil der Mauer von der östlichen Ecke verlängert wurde und in der nördlichen Ecke endete. Kein Teil war davon ausgeschlossen. Die steinerne Mauer verlängerte sich von der nördlichen zur westlichen Ecke bis zum südlichen Winkel und schloß im östlichen ab; sie wurde aber zweimal unterbrochen, nämlich bei der westlichen und südlichen Ecke. Die Länge des Gebäudes betrug 100 Ellen, die Breite 50 Ellen, die Höhe 5 Ellen; so waren die beiden Mauern an jeder Seite von gleicher Länge und die zwei anderen vorn und rückwärts von derselben Breite. Ihn bewundernd, sprach er wiederum von seinem Throne aus zu mir: »Der in den alten Heiligen in Verbindung mit dem Berg der Gerechtigkeit durch den gütigen Vater im Himmel aufgebaute Glaube erschien zuerst blaß, schritt aber nach der Menschwerdung des Sohnes Gottes in deutlicher Offenbarung mit brennenden Werken in strahlendes Licht voran. Denn der Gottessohn begehrte nicht nach Vergänglichem, sondern lehrte es durch sein Beispiel verachten und das Himmlische lieben. Ihm taten es die alten Väter gleich, die die Welt nicht flohen noch sich von ihr trennten, aber Gott in einfältigem Glauben und demütiger Hingabe lehrten, weil es ihnen noch nicht gezeigt war, alles zu verlassen.

2. Daher siehst du auch im Kreisumfang einen großen Berg von dem Thronenden sich erstrecken und mit dem Fuß jenes gewaltigen Steines in Verbindung stehen, auf dem die Wolke und der Thronende ruht. Der Stein scheint emporgerichtet und der Berg in die Breite gezogen, weil in dem mächtigen und starken Werk des Himmelsvaters der Berg des Glaubens steht. Dieser ist groß an Kraft und erhebt sich offenkundig in Abrahams Beschneidung und lebte weiter bis zum Sohne Gottes nach der Vernichtung der alten Schlange in den Menschen, die vom hl. Geiste erfüllt waren. Die sollten in des Vaters Barmherzigkeit getreulich wirken und jenen für den allmächtigen Gott halten, der einen solchen Feind überwinden konnte, so daß sie, durch diesen Glauben emporgehoben, zu jener Herrlichkeit gelangten, von der der Teufel durch seinen Hochmut verstoßen wurde und zugrunde ging.

3. Dieser Berg stößt an den Fuß des genannten Steines, der das Geheimnis der Furcht des Herrn in sich birgt, weil der Glaube in Gemeinschaft mit beständiger Furcht vor dem Herrn ist, und diese auch die Glaubenskraft ausmacht. Diesen Glauben bringt die Furcht des Herrn so zum Fortschritt, daß er Gott in seiner Erhabenheit mit allen Kräften berührt, und Gott, der Allmächtige, in der Weisheit gläubiger Gemüter verehrt wird.

4. Auf dem Berge steht das viereckige, einer Stadt ähnelnde Gebäude, weil die Güte Gottes gute Werke auf dem Glauben aufbaut, viele Gläubige aus allen vier Weltenden sammelt und sie zum Himmel zieht, sie also befestigend in der Beständigkeit der Tugenden, nämlich in innerlicher Macht und seinem mystischen Ratschluß sie gnädig zusammenfügt mit den vier Grundpfeilern im Glauben.

5. Wieso? Ich, der Allerhöchste, habe bei meinem Werk Adam als den ersten Grundstein bestimmt. Dieser ging weiter bis zum zweiten Eckstein, bis zu Noe, zu dessen Zeiten die Sintflut hervorbrach, und in dessen Arche ich meines Sohnes Geheimnisse im voraus zeigte. In diesem Noe offenbarte ich durch meine Ermahnung jenen leuchtenden Teil der genannten Gebäudemauer, weil ich in der Sintflut die Sünder erstickte und den Menschen einen Wink gab, den Tod zu fliehen und das Leben anzustreben. Der Mensch ist ein Doppelwesen, weil er, solange er im Körper lebt, mit seiner Seele und seinem Körper Gutes oder Böses wirkt. Die Beschneidung und das Gesetz in Abraham und Moses gingen dem vierten Grundstein der hl. Dreifaltigkeit voraus, in welchem das Alte Testament durch Gottes Sohn abgeschlossen wurde, was auch äußerlich in die Erscheinung trat. Durch Gottes Sohn erhob sich auch ein innerer Sproß in der Kirche; er stellte jene Ecke in den Seelen der Menschen wieder her, welche in Adams Fall verborgen und zwecklos geworden war.

6. Das Gebäude ist etwas seitwärts geneigt, weil der Mensch, obgleich er Gottes Werk ist, wegen seiner Gebrechlichkeit nicht ohne Sünde seinen Lebensweg wandeln kann.

7. Die Ecken schauen nach Osten, Westen, Norden und Süden, weil der Sohn Gottes aus der Jungfrau geboren ward und im Fleische duldete, damit in der neuen Gerechtigkeit der Mensch zum Leben wiedergeboren wurde, was nicht ohne Gerechtigkeit geschehen kann. Dies bedeutet die östliche Ecke; den Beginn der Seelenerrettung, welche von Abel bis zu ihm selbst vorgebildet war; in ihm hörte das Gesetz der fleischlichen Beobachtung des Alten Testamentes auf, als das Heil der gläubigen Menschen durch den Glauben herannahte, welchen Gottes Sohn schenkte, da er am Ende der Zeiten vom Vater in die Welt gesandt wurde, dies bedeutet die westliche Ecke. Wider den Teufel erhob sich auch in Abraham und in Moses die Gerechtigkeit, indem sie die verheißene Gnade vorauskündigten, durch welche der Mensch gerettet war, der vom Teufel getäuscht wurde, ihn wie einen Räuber in Adam tötete, dies kündet die nördliche Ecke. Der elende Todesfall, den das Menschengeschlecht tat, wurde später durch himmlische Gnade edel und herrlich wieder gut gemacht in vollem Maße in göttlicher und menschlicher Glut. Dies zeigt die südliche Ecke an. Die Südecke ist's auch, weil der erste Mensch, Adam, von Gott erschaffen wurde. Weil aber von dieser Ecke die wissende Schau der Erkenntnis der beiden Wege nicht zu leuchten begann, nämlich bei Adam, da sein Geschlecht ungeordnet sich befand, Gott nicht dienstbeflissen verehrte unter der Knechtschaft des Gesetzes, sondern nur seinem eigenen Willen zum größten Unheil folgte.

8. Die Ecke nach Osten bedeutet Noe, denn in ihm begann die Gerechtigkeit sich zu zeigen. Dort wurde auch die wissende Schau offenkundig bekannt und zeigte die Fülle der Heiligkeit, welche nachher im Sohne Gottes vollendet werden sollte. Im Sohne Gottes ging die Gerechtigkeit, die wahre Morgensonne auf, daher ward auch dies Gebäude anfangs zu Ehren der hl. Dreifaltigkeit »Osten« genannt, wie vorhin schon bei Noe in Wahrheit dargelegt wurde. Die Nordecke bedeutet Abraham und Moses, welche um den Satan und sein Werk das schauende Wissen legten, gleichsam es mit kostbaren Edelsteinen umbauend und von oben her mit dem goldenen Werk heller Klarheit Gottes es bereichernd, nämlich durch Beschneidung und Gesetz. Die vierte Ecke nach Westen bedeutet die hl. Dreifaltigkeit, welche sich bei der Taufe des Erlösers zu erkennen gab, der die reiche und heilige Stadt Jerusalem erbaute durch seine Macht und dann zum Himmel zurück eilte zur Erlösung der Seelen.

9. Das Gebäude hat um sich herum eine Mauer mit zweifacher Form, deren eine leuchtend hell ist wie das Tageslicht, und jene andere ist eine Zusammenfügung von Steinen in der Ost- und Nordecke; denn durch Gottes Vatergüte wurde den Menschen eine Sicherheit gegeben; diese ist ihre Befestigung und Verteidigung, mit denen sie in allen ihren Werken umgeben und gestärkt wurden, um die fleischlichen Gelüste aufzugeben und ihre Zuflucht zu Gott, ihrem Hort, zu nehmen. Die Mauer hat zwei Formen, deren eine das schauende Wissen der beiden Wege bedeutet, denn der Mensch besitzt jenes Wissen in klarer und bestimmter Schau seiner Seele, um alle seine Wege zu durchforschen. Die zweite Mauer gleicht dem staubgeborenen Fleisch des Menschen, weil der Mensch von Gott erschaffen wurde und das Werk in seiner Ausführung tätigte.

10. Das betrachtende Wissen leuchtet in Tageshelle, damit die Menschen ihre Handlungen sehen und überlegen. Der leuchtende Strahl ist der Menschengeist, der sich vorsichtig nach allen Seiten umsieht. Dieses Wissen ist schauend, weil es an einen Spiegel erinnert. Eine solche Betrachtung entspricht vernünftigem Sinn, den Gott in den Menschen hinein gab. Des Menschen Seele wird auf ewig leben, weil sie voll Vernunft ist. Daher fühlt auch der Mensch in der Betrachtung von Gut und Böse, ob er ein verworfenes oder auserwähltes Werk ist. Die Gnade wurde gesteigert in der Erwählung zur Taufe und in der Heiligung der Seele durch das Neue Testament.

11. Die aus Steinen zusammengefügte Mauer bedeutet das Menschengeschlecht und auch die rechtmäßigen Einrichtungen, welche hohen Geistern, dem des Abraham, Moses und anderer entsprangen, denn sie waren der vorauseilende Keim göttlichen Gesetzes samt allen Zugaben der Gerechtigkeit Gottes im Menschen bis auf die jüngste Zeit. Göttliches Wirken entfaltet sich im Menschen und durch den Menschen, weil Gott seinen Sohn, um die Menschen am Ende des Gesetzes selig zu machen, sandte. 12. Beide Mauern sind im östlichen und nördlichen Teil in eins zusammengefügt, da ja im schauenden Wissen und im menschlichen Werk der gemeinsame Schluß der Gerechtigkeit ist. Der Teufel verschlang das menschliche Geschlecht von Adam, bei dem das schauende Wissen im Verborgenen war, mit aller Gier bis auf Noe, denn in ihm zeigte sich dieses Wissen deutlich. Nichtsdestoweniger vertraute der Teufel, das ganze menschliche Geschlecht zu besitzen, das in der Sünde so sehr seinen Geboten folgte, bis zu Abraham und Moses, der nördlichen Ecke. Vor deren Auge stand die Sünde bloß in ihrer Häßlichkeit und weder durchbrochen noch vermindert durch die Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes, weil weder Beschneidung noch Gesetz schon bestand. In diesen Vätern ward der Teufel zu einem Nichts, er, der vorher in der Welt verwegen regierte.

13. Der Tod herrschte von Adam bis auf Moses, weil niemand wider ihn stritt, noch ihn überwand. Die Strenge und Beobachtung des Gesetzes war vor Moses nicht vorhanden, außer der Beschneidung an Abraham auf göttliches Geheiß,, aber das Laster des Todes schritt von Irrtum zu Irrtum, wie es ihm gefiel. Dann entsproß aus Gottes starkem Willen sein Kämpfer Moses und bereitete stärkere Waffen der Gerechtigkeit, durch welche der Tod in seiner Form vernichtet wurde durch die Werkzeuge des Gesetzes, denn das Gesetz barg in sich alles Heil für die Seelen im Vorbild des Sohnes Gottes.

14. Der steinerne Teil der Mauer verlängert sich von der Nordecke zur westlichen, und von der südlichen Ecke schreitet er in die Ostecke. Dies soll die gerechten Werke der Menschen bedeuten, die in Gott ihren Hort haben. Diese schreiten von der nördlichen Ecke, d. h. von Abrahams Beschneidung, mit dem Gesetz des Moses und den Zugaben ihrer Gerechtigkeit in den Menschen bis zur westlichen Ecke, wo sich die klare Gerechtigkeit in der Menschwerdung von Gottes Sohn erhob. Dann breitet sich die Mauer weiter zur Südecke aus, wo das feurige Werk durch die Taufe und durch die übrige Gerechtigkeit der erwählten und neuen Braut des Sohnes Gottes zur Wiederherstellung Adams in der Gnade entflammt wurde, wiederum verlängert sie sich und mündet wieder in die erste östliche Ecke, um zum höchsten Vater zurückzukehren.

15. Die Länge des Gebäudes beträgt hundert Ellen, weil die Zahl 10 in der Sünde des Menschen vermindert wurde und in meinem Sohne durch Vervielfältigen dieser Zahl von zahlreichen Tugenden wiedergewonnen ward. Von der Zahl 10 ausgehend, kommt man zu 100, dann zu 1000, was die Vollkommenheit in allen Tugenden bedeutet, damit die 1000 Kunstgriffe des Teufels zerstört werden, mit denen er die ganze Herde, die dem allmächtigen Gott lieb ist, verführt. So begann der Mensch alle Tugenden zu wirken und zu vollenden von Abel bis auf den jüngsten Tag, wie es die 100-Ellenzahl der Länge des Gebäudes anzeigt, welches Gott in mystischem Bild den Menschen zeigt.

16. Du siehst die Breite dieses Gebäudes fünfzig Ellen betragen, weil die ganze Weite menschlicher Laster, die im Dienste Gottes bauen sollten, in die fünf Wunden meines Sohnes, die er am Kreuze erlitt, ausströmten und barmherzig abgewaschen und nachgelassen wurden. Die Wunden seiner Hände vernichteten die Werke des ungehorsamen Adam und Evas; der Füße Wunden befreiten die Wege menschlicher Verbannung, und die Wunde seiner Seite, aus der die Kirche hervorgegangen ist, zerstörte die Schuld Adams und Evas, weil Eva aus Adams Seite erschaffen worden war. Mein Sohn ward ans Kreuz geheftet, um das auszulöschen, was durch das Holz verkehrt wurde. Um den Geschmack des schädlichen Apfels zu zerstören, ward er mit Galle und Essig getränkt.

17. Die Höhe des Gebäudes beträgt 5 Ellen. Die Fünf ist besonders ausgezeichnet in den göttlichen Schriften, die der hl. Geist zum Nutzen des Menschen eingab, und in fünffachem Sinne, weil auch fünf Sinne im Menschen sind; mit diesen schaut er zur Höhe der Gottheit empor und unterscheidet das Gute vom Bösen.

18. Jene vier Wände sind ringsum das Gebäude von gleicher Höhe außer den Schutzmauern, welche sie etwas überragen; dies ist so, weil der Mensch in die vier Elemente hineingesetzt, überall den katholischen Glauben durch die Güte des Vaters mit gleicher Hingabe und Verehrung haben wird, wenn er den Sohn mit dem Vater und dem hl. Geist verehrt, der alles in ihnen wirkt.

19. Was bedeuten die vorstehenden Schutzmauern? Wenn der Mensch seinen guten Geist zur Höhe schwingt, dann baut er hohe Mauern von Gläubigkeit. Über diesen Glauben errichtet er einen höheren Tugendbau. Er erreicht noch höhere Tugenden, denn es genügt ihm nicht nur, den Glauben an Gott zu haben, sondern er will zur grünenden Palme emporsteigen, von Tugend zu Tugend; mit ihnen erhoben und geschmückt, gleicht der Glaube einer Stadt mit Schutzmauern.

20. Im nördlichen, westlichen und südlichen Teil ist die Breite zwischen dem Gebäude und jenem Glanz überall so groß, daß du sie nicht begreifen kannst. So ist's, weil kein Mensch mit der Schwere eines sterblichen Körpers die Größe des Bösen im Innern des Teufels im Norden betrachten kann, noch sein Ende, da er in dem menschlichen Geschöpf bei seinem Fall mittätig war, noch den Anfang oder das Ende des brennenden Mittags, der himmlischen Gerechtigkeit.


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