Paul Heyse
Marienkind
Paul Heyse

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Franz Florian stellte sich am nächsten Nachmittage zu derselben Stunde pünktlich ein. Seine stille Hoffnung aber, das Fräulein würde die Institutsuniform mit einem kleidsameren Gewande vertauscht haben, wurde nicht erfüllt. Heute fand er die Herren nicht anwesend; sie hatten eine Wanderung zu einer nahen Aussichtshöhe gemacht. Auch die Tante bezog nicht so unentwegt wie gestern ihren Posten als Anstandsdame, sondern ging, nachdem die Sitzung begonnen hatte, in häuslichen Geschäften ab und zu. Der Maler hatte sich zugeschworen, heute – es koste, was es wolle – das Eis zu brechen und dahinter zu kommen, wes Geistes Kind das schöne Geschöpf ihm gegenüber sei. So begann er, nachdem er ein Weilchen schweigend fortgearbeitet hatte, das Wort an sie zu richten:

»Werden Sie noch lange hier draußen bleiben, mein Fräulein?«

»Bis die Ferien zu Ende sind, bis Mitte September.«

»Es ist schön hier im Hause Ihres Herrn Vaters. Sie verlassen es doch wohl nicht gern?«

»O, es ist noch schöner im Institut, wenn wir auch die Berge nicht so nah haben.«

»Sie haben aber doch wohl zuweilen ›Zeitlang‹ nach Ihrem Papa und der guten Frau Tante?«

Sie schwieg einen Augenblick; dann sagte sie, ehrlich ihn anblickend: »Nein. Es ist vielleicht unrecht, aber ich habe meine Freundinnen und die Lehrerinnen die ich liebe, und – der Papa braucht mich nicht.«

»Wenn Sie aber in die Stadt zurückkehren, werden Sie auch dort Freundinnen haben, und an Lehrern, falls Sie fortstudieren wollen, fehlt's Ihnen auch nicht, und dann ist's viel lustiger dort, als in dem einsamen Kloster, für ein erwachsenes Fräulein.«

Sie rümpfte ein wenig das feine Näschen.

»Meinen Sie? Sie stellen sich das Kloster wohl auch so vor, wie die meisten, die es nicht kennen. Und wie sollten Sie auch eine richtige Ansicht davon haben? Es kommt kein Mann hinein, außer dem Beichtvater, dem Klosterarzt und dem Tanzlehrer.«

»Dem Tanzlehrer? Was tausend! Sie haben auch Tanzstunde bei Ihren frommen Klosterfrauen?«

Nun lächelte sie doch ein wenig über sein unverstelltes Erstaunen.

»Glauben Sie, daß wir immer nur beten?« sagte sie, das Mündchen spöttisch verziehend. »Wir sind sehr vergnügt, und auch die Lektionen greifen uns nicht übermäßig an, außer etwa die ganz Talentlosen. Jeden Tag dürfen wir zweimal spazieren gehen.«

»Im Klostergarten natürlich,«

»Nein, auch draußen im Feld und in den nahen Wäldern, und pflücken Erdbeeren und Himbeeren und singen dabei oder spielen allerlei Spiele. In dem Karneval aber, sechs Wochen lang, haben wir Tanzstunde, da kommt ein alter Franzose mit einer Geige, er ist aber noch ganz rüstig und macht uns die Pas vor und spricht ein so schönes Französisch. Dabei sind jedoch nur die Lehrerinnen zugegen. Die Klosterfrauen, die nicht unterrichten, leben für sich, wir sehen sie nur in der Kirche. Aber sie sind auch alle ganz heiter und haben auch Grund dazu. Es fehlt ihnen nichts, die Oberin ist eine so gütige Dame, eine Gräfin von Geburt, o so gütig! Ihr nur die Hand küssen zu dürfen, ist schon ein großes Glück.«

»Eine Gräfin?«

»Aus einem sehr guten Geschlecht, das aber nicht sehr reich war. Und« – fügte sie ein wenig zögernd hinzu – »sie soll Schicksale gehabt haben, und das hat ihr die Welt verleidet.«

»Was mögen das für Schicksale gewesen sein?« fragte er mit der unbefangensten Miene.

Sie antwortete nicht.

Es trat wieder eine längere stumme Pause ein. Die Tante kam auf die Veranda, belobte die Fortschritte, die das Bild inzwischen gemacht, bedauerte, daß das Annerl seinen Kopf darauf gesetzt habe, den weißen Kragen nicht herunterzuthun, wozu das Mädchen beharrlich schwieg, und ließ die beiden dann wieder allein.

»Warum bestehen Sie darauf, Fräulein Annerl,« fing der Maler wieder an, »sich so einzumummen? Ich verlange ja kein dekolletiertes Ballkleid, nur um den breiten weißen Fleck möcht' ich herumkommen und noch ein Streifchen vom Halse sehen lassen.«

»Ich will auf dem Bilde nicht anders erscheinen, als ich gerade bin,« erwiderte sie ganz gelassen, »Wem ich so nicht recht bin, der mag mich nicht anschauen.«

»Aber in der Stadt werden Sie doch nicht so herumgehen können?«

»Ich werde in der Stadt überhaupt nicht herumgehen. Ich bleibe im Kloster.«

Er ließ mit gut gespieltem Schreck den Pinsel fallen.

»Was sagen Sie da, Fräulein Annerl? Sie wollen Klosterfrau werden?«

Sie nickte; eine stille schwärmerische Entschlossenheit glänzte ihr in den Augen.

»Aber bestes Fräulein,« rief er, »das kann doch Ihr Ernst nicht sein. Ich will ja glauben, daß Sie es sehr gut in Ihrem Kloster gehabt haben und noch manchmal sich dahin zurücksehnen werden, wenn das Leben in der Welt mit seinen mancherlei schweren Stunden und widerwärtigen Prüfungen Ihnen zu schaffen macht. Auch begreife ich, daß man einen solchen Zufluchtsort aufsucht, wenn man, wie Sie von der Frau Oberin sagen, Schicksale gehabt hat. Aber Sie, so jung und von den Ihrigen geliebt und – verzeihen Sie, es soll keine alberne Schmeichelei sein, – so schön, wie Sie sind, was können Sie für Schicksale erlebt haben, die Ihnen die Welt verleidet hätten, daß Sie Ihrem guten Papa den Schmerz machen müßten, für immer von ihm Abschied zu nehmen und sich bei lebendigem Leibe in einer dumpfen Klosterzelle einzusargen?«

Er hatte gesehen, wie ihr während seiner lebhaften Rede das Blut in die glatten, blassen Wangen gestiegen war, und fürchtete schon, sie werde sich gekränkt erheben und es verschmähen, einem Menschen, der sich so unberufen in ihre heiligsten Angelegenheiten mischte, überhaupt zu antworten.

Sie blieb aber ruhig sitzen. Nur die weiße Pelerine hob und senkte sich etwas rascher über dem jungfräulichen Busen.

»Hat mein Papa Ihnen aufgetragen, so mit mir zu sprechen?« fragte sie, ihn argwöhnisch anblickend.

»Wo denken Sie hin, Fräulein! Wer, dem Sie diese Eröffnung machten, würde nicht ganz aus eignem Antriebe ebenso sprechen?«

»Es mag sein,« fuhr sie nach einer Weile vor sich hin sinnend fort, »daß fremde Menschen das nicht verstehen. Ich bin aber niemand als Gott und der Jungfrau Rechenschaft darüber schuldig, da ich nur thue, was mir die innere Stimme vorschreibt. Schon seit Jahr und Tag hat sie mir zuweilen zugeflüstert: geh nicht von hier fort, es ist nicht zu deinem Heil. Die Welt ist nicht so schön, daß sie dir Ersatz bieten könnte für das, was du hier aufgibst.«

»Die Welt? Was wissen Sie denn von ihr? Was haben Sie bisher von ihr gesehen?«

»Ich kenne freilich nur meine Nächsten, und die habe ich lieb. Aber ich habe so manches gelesen und weiß, es ist ein heiliges Wort unsres Herrn Jesu: ›Mein Reich ist nicht von dieser Welt‹. Können Sie's leugnen, daß auch Ihnen die Welt nicht schön vorkommt? Haben Sie da in Ihrem Buch nicht so vieles gemalt, was garstig oder schmutzig ist? Und wenn die Welt so gar schön wäre, würden Sie nicht lieber lauter schöne Dinge und Menschen in das Buch eingetragen haben?«

Diese unbefangene Bemerkung machte ihn so verwirrt, daß er nicht gleich darauf zu antworten wußte. »O,« stammelte er endlich, »das ist nur so eine verrückte Laune von mir gewesen. Zu Hause habe ich eine Menge Studien und Skizzen, die Ihnen schon zeigen würden, wie schön die Welt ist, nicht bloß in dem gelobten Lande Italien, sondern auch ganz in der Nähe. Aber die Welt mag nun schön oder häßlich sein, glauben Sie, daß unser Herrgott uns darauf erschaffen hat, damit wir uns zwischen vier Mauern einsperren und nur immer dieselben andächtigen Worte hersagen, wo es doch so viel Werke zu thun gibt und Menschen, die wir glücklich machen könnten, wenn wir mit ihnen lebten?«

»Man kann andre nicht glücklich machen, wenn man mit seinem eignen Gewissen nicht im Frieden lebt,« erwiderte sie so ruhig, als ob sie ein eingelerntes Sprüchlein hersagte. Ihre gleichmütige Miene verriet, daß ein geistliches Hochmütchen hinter dieser jungen Stirn sich eingenistet habe, unzugänglich gegen alles profane Zureden. Dem Maler kam das zum Bewußtsein, wie er sie jetzt betrachtete und den strengen Blick dieser reizenden Augen gewahrte. Mit einem tiefen Seufzer tauchte er den Pinsel ein und malte an den braunen Flechten.

Da sie sich aber einmal herabgelassen hatte, überhaupt auf so unbefugte Fragen einzugehen, fuhr sie nach einer Weile fort: »Mein Vater kann mich sehr gut entbehren, der hat die Tante bei sich. Meine selige Mutter aber, davon bin ich überzeugt, würde mich segnen, wenn ich sie um ihre Einwilligung befragen könnte. In unsrer Kirche über einem Seitenaltar ist das Bild der heiligen Anna, ein uraltes, schon fast ganz vom Kerzenrauch geschwärztes Gemälde, aber da es die Namensheilige von meinem Mutterl war, die mich ja auch so genannt hat, bet' ich am liebsten dort in dem Kapellerl. Und am Abend des Tages, wie ich Marienkind geworden bin –«

»Marienkind?«

Sie errötete wieder ein wenig.

»Wenn sich eine von den Zöglingen besonders gut aufgeführt hat, immer fleißig und gehorsam gewesen ist, bekommt sie im letzten Jahr vor ihrem Austritt eine Medaille, die sie immer tragen muß, und wird dann zum Marienkind erklärt.«

»Und Sie haben diese Auszeichnung erhalten?«

Statt der Antwort nestelte das fromme Kind vorn an seinem Kleide und zog an einem Schnürchen ein kleines rundes Silberplättchen hervor, das sie an ihrer unschuldigen Brust versteckt getragen hatte. Der Maler beugte sich über den Tisch zu ihr hinüber und betrachtete das Schaumünzchen, das sie ihm mit ihren schlanken Fingern hinhielt. Auf der Vorderseite trug es das Bild der Madonna, in ganzer Figur, auf der Rückseite das Brustbild eines Heiligen.

»Wer ist das?« fragte der Maler.

»Der heilige Aloysius. Er wird ganz besonders bei uns verehrt. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, warum.«

Franz Florian beschaute die Medaille sorgfältig, sagte aber kein Wort, nickte nur und setzte sich mit einem Seufzer wieder auf seinen Platz.

»Nun?« machte er nach einer Weile, da sie inzwischen das heilige Kleinod sorgfältig wieder in sein Versteck hatte zurückschlüpfen lassen; »an jenem Tage also –«

»Ich will es Ihnen nur gestehen,« flüsterte sie, in sichtbarer Verwirrung, »ich war recht eitel auf diese Ehre, ich dachte, ich wäre nun etwas Besseres, als meine Kameradinnen, und die Mutter Gottes sei verpflichtet, mich zeitlebens in ihren besonderen Schutz zu nehmen. Und so ging ich in meinen hoffärtigen Gedanken noch abends spät in die Kirche und kniete vor dem Sankt Annenaltar nieder und wollte recht andächtig beten. Aber es war seltsam, ich konnte mich auf kein Gebet besinnen, immer dachte ich an die Medaille, und lag so wohl eine Stunde lang, bis mir ganz heiß und angst wurde. Und da auf einmal kam mir eine Erleuchtung, was ich für ein armes sündhaftes Ding sei in meinem Stolz, und daß die Mutter Gottes mich nicht als ihr gutes Kind ans Herz nehmen würde, und daß mir's in der Welt ohne ihren Schutz schlimm gehen müsse, und was ich sonst für traurige und schreckhafte Gedanken hatte. Da bat ich in meiner Angst und Not die heilige Anna, mir beizustehen und mich von Sünden zu retten, und da gab sie mir ins Herz, daß ich mich dem Himmel verloben und aller weltlichen Eitelkeit absagen sollte, und das that ich und gelobte mir feierlich, ich wollte, wenn die Schulzeit um sei, als Novize eintreten, und wenn ich die zwei Probejahre durchgemacht hätte, den Schleier nehmen. So ist das gekommen, und nun begreifen Sie wohl, daß nichts in der Welt mich in meinem Gelübde irre machen kann.«

 


 


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