Paul Heyse
Marienkind
Paul Heyse

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Doch schon nach einer kleinen Stunde trat er wieder über die Schwelle des Gastzimmers. Diesmal fand er seinen Gefährten nicht im Herrenstübel, sondern in dem größeren vordern Raume, aus dem sich inzwischen die bäuerliche Gesellschaft völlig verzogen hatte, bis auf den Schnarchenden in der Ecke. Noch immer schlief der schwer Umnebelte, fest gegen die braune Vertäfelung gelehnt. Der dicke Kopf war weit zurückgesunken, so daß in dem offenen Munde die spärlichen gelben Zahnstumpfen sichtbar wurden, in den hochroten Ohren blitzten die goldnen Ringe mit den Silberknöpfen an Weste und Jacke um die Wette, da ein schräger Strahl der Abendsonne durch die verregneten Scheiben gerade auf den einsamen Schläfer fiel.

Franz Florian hatte die Gunst des Augenblicks nicht ungenutzt gelassen und mit raschen Bleistiftstrichen die unbeholfen in den Winkel gekauerte Gestalt in sein Buch eingetragen.

»Bravo!« rief sein alter Gönner, nachdem er die Skizze aufmerksam durch seine große Brille betrachtet hatte. »Man könnte ein schönes Kapitel vergleichender Kunstgeschichte schreiben, wenn man diese Ihre meisterliche Skizze neben eine Photographie des Barberinischen Fauns stellte.«

»Sie sind wieder in Ihrer Spötterlaune, verehrter Herr,« versetzte der Maler gleichmütig. »Ich würde wahrhaftig auch für mein Leben gern einmal einen betrunkenen Faun abkonterfeien, wenn diese mythologischen Fabelwesen sich im bayrischen Gebirge blicken ließen.«

»Glauben Sie, daß sie sich den griechischen Malern und Bildhauern in Person gezeigt haben? Aber freilich, zeigen mußten sie sich ihnen wohl – wie hätten sie sonst von ihnen abgebildet werden können? – nur nicht so handgreiflich, wie ihr Heutigen alles das sehen und greifen müßt, woran ihr glauben sollt. Lassen Sie sich aber nicht stören, lieber Freund. Die Skizze kaufe ich Ihnen ab, zur Erinnerung an diesen Nachmittag. Denn leider werde ich mich Ihrer Gesellschaft nicht so ausgiebig, wie ich dachte, erfreuen können. Mein alter Freund besteht darauf, daß ich bei ihm wohne, er wäre tödlich gekränkt, wenn ich es ihm abschlüge, und da er ein ganz abgesondertes Fremdenzimmer im Erdgeschoß hat, fürchte ich auch nicht, zu stören und gestört zu werden. Zudem ist der Fall, wegen dessen er mich konsultieren wollte, in der That nicht so leicht, ich werde Mühe haben, Einfluß auf die junge Patientin zu gewinnen, und über die Behandlung, so einfach und sicher die Diagnose ist, bin ich mir noch nicht recht klar. Wir sprechen mehr davon. Ich muß jetzt nur meinen Kaffee bezahlen und der Frau Wirtin mein Bedauern aussprechen, daß ich ihr schönes Zimmer für diesmal nicht beziehen kann.«

Er ging hinein, kam dann bald, die Botanisiertrommel umgehängt, den Schirm in der Hand wieder herein, um sich von dem Maler zu verabschieden und ihm das Versprechen abzunehmen, ihn, sobald es seine Zeit erlaube, in der Villa des Regierungsrats zu besuchen. Noch einmal lobte er die Zeichnung, schüttelte dem jungen Freunde herzlich die Hand und verließ das Zimmer.

Franz Florian blieb in unfroher Stimmung zurück. Er hatte sich auf die Gesellschaft des alten Spötters gefreut und in seinem Kopf allerlei kluge Sprüche vorbereitet, mit denen er seiner veralteten Kunstanschauung siegreich zu Leibe zu gehen gedachte. Die mußte er nun für sich behalten. Daß er ihm die Zeichnung gelobt und sogar den Wunsch geäußert hatte, sie zu besitzen, freute ihn nur halb. In dem Honig glaubte er immer noch den Stachel einer heimlichen Ironie schwimmen zu sehen, und vollends der Barberinische Faun der Glyptothek, den er selbst so lange Jahre mit herzlichem Neide bewundert hatte, an den durfte er gar nicht denken, wenn er seinen schnarchenden Bauer nicht in kleine Stücke zerreißen sollte.

Er vollendete indessen die Zeichnung mit mechanischem Fleiß, eben da sein Modell zur Besinnung kam, die Arme dehnte und mit einigen halbtierischen Naturlauten die kleinen verschwommenen Augen öffnete. Nach einer weiteren Unterhaltung mit dem ungeschlachten Gesellen gelüstete seinen Verewiger keineswegs. Er stieg, seine Sachen an sich nehmend, in sein Zimmer hinauf und verbrachte den Rest des Tages, so gut es gehen wollte, eine Unzahl Cigaretten rauchend und bei einem späteren Herumschlendern durch den stillen Ort vergebens nach malerischen »Motiven« spähend. Als dann der nächste Morgen in sonnigem Glanze aufging, verfiel er mehr und mehr in einen gegenstandslosen Mißmut. Die Landschaft, die in allem sommerlichen Zauber vor ihm lag, die feinen silbernen Töne an den fernen Bergeszügen droben am Walde, das dunkle, bläuliche Grün der mächtigen Eichen zwischen dem helleren Buchenlaub – das alles betrachtete er mit stumpfem Auge als einen prahlerischen Aufputz der nature endimanchée. Er fühlte sich erst etwas erleichtert, als am Nachmittag leichte Dünste im Westen aufstiegen und einen Flor über die zudringliche Sonne breiteten.

Zwar war's auch jetzt noch nicht das schmutziggraue Licht, in welchem er gestern so befriedigt gearbeitet hatte. Doch belud er sich entschlossen mit seinem Malgerät und wanderte zu der abgelegenen Hütte hinaus, um, so gut es gehen wollte, die Studie im Freien zu vollenden.

Es wollte aber wirklich nicht zum besten gehen. Seinem kleinen Modell hatte die Mutter, die als ein einfältiges Weib auf malerische Reize sich nicht verstand, die Haare notdürftig gestrählt, ihm sein Sonntagsröckchen, das keine Löcher hatte, angezogen und sogar die Beinchen im Brunnentroge abgewaschen. Auch fand das Kind erst nach langem Bemühen die gestrige Stellung wieder, die graue Ente war verschwunden, die schlammige Pfütze am Brunnen zur Hälfte eingetrocknet. Indessen blieb nichts übrig, als zu retten, was noch zu retten war, und wenigstens den blöden Ausdruck in Mund und Augen recht charakteristisch herauszuarbeiten.

Heute war auch die Landstraße nicht so verödet wie gestern. Fuhrwerke aller Art rollten hinter dem Rücken des Malenden vorbei, und Spaziergänger, die des Weges kamen, blieben neugierig stehen und tauschten wohl auch verwunderte Bemerkungen über den sonderbaren Schwärmer, der gerade an diesem garstigen Ding Gefallen gefunden. Das bekümmerte ihn wenig. Er wußte, daß er seiner Zeit vorangeschritten war und sich durch den Unverstand der unmündigen Menge nicht irren lassen durfte.

Ein Stündlein hatte er in fieberhaftem Eifer fort gearbeitet und war eben daran, noch die letzten kräftigen Pinselstriche an dem alten Zaun im Vordergrunde zu machen und die zerrissenen roten Socken, die zum Trocknen daran aufgehängt waren, mit einigen genialen Tupfen hinzuzufügen, als eine bekannte Stimme an sein Ohr schlug.

Er wandte, ein wenig erschrocken, den Kopf flüchtig nach der Seite, woher sie kam, und richtig, von dem Oertchen her sah er seinen Bekannten von gestern, den Medizinalrat, mitten auf der jetzt wieder gangbaren Landstraße sich ihm nähern, kaum vierzig Schritte mehr entfernt. Er war aber nicht allein. Neben ihm ging ein etwas kleinerer Herr in einem schwarzen Lüsterrock und breitrandigem grauen Filzhut, und hinter ihnen zwei weibliche Gestalten, eine bejahrtere, doch noch recht wohlansehnliche Dame und ein schlankes Mädchen, das den Kopf gesenkt hielt und, da sie einen großen Florentiner Strohhut trug, von ihrem Gesicht nur das runde weiße Kinn sehen ließ.

Den Maler überlief es heiß. Es war ihm äußerst widerwärtig, gerade bei dieser Arbeit wieder betroffen zu werden, und wenn er auch dem alten Herrn seine Neckereien nicht mehr übel nehmen wollte, in Gegenwart einer fremden Gesellschaft sie ruhig hinzunehmen, hätte er doch wohl nicht vermocht.

Er bückte sich also tief über sein Blatt, in der Hoffnung, das Unheil werde hinter seinem Rücken unschädlich vorübergehen, und hoffte, sein Aufblicken werde nicht beobachtet worden sein, so daß es diesmal dem Vogel Strauß gelingen werde, ungesehen zu bleiben, wenn er den Kopf in den Busch stecke.

Diese Hoffnung aber wurde alsbald getäuscht.

»Guten Tag, Herr Florian,« hörte er den alten Herrn dicht hinter sich sagen. »Wieder so fleißig? Ist es wohl erlaubt, die Studie in Augenschein zu nehmen? Wetter auch! Sie sind ja trefflich damit zu stande gekommen.«

»Herr Franz Florian, Genremaler,« fuhr er fort, als der junge Mann von seinem Feldstühlchen sich errötend erhoben hatte, »und hier mein lieber Freund, Herr Regierungsrat F . . ., nebst seiner Frau Schwester und Fräulein Tochter. Ei der Tausend, was haben Sie aus dem unansehnlichen Vorwurf gemacht! Das lebt ja alles, sogar die roten Strümpfe führen ein munteres Dasein auf ihrem morschen Zaun. Herr Florian, mußt du wissen,« wandte er sich an seinen Gastfreund, »hat den großen Vorzug vor vielen seiner jungen Kollegen, daß er sich keine Brille aufsetzt, wenn er die Natur betrachtet. Ich habe nie begriffen, was die Herren Maler darunter haben, daß sie ihre Freilichtstudien darstellen, als ob die Natur mit einem grauen Staube überzogen wäre, oder als ob sie sie durch eine Schicht Spinneweben anschauten. Auf diesem Blatt ist doch alles in schlichten, echten Lokalfarben aufgefaßt, wie ein Mensch mit gesunden Sinnen die Welt eben ansieht. Schade freilich, daß Sie gerade nichts Hübscheres gefunden haben. Aber in der Not frißt der Teufel Fliegen. Nun, auch für bessere Modelle wird hoffentlich noch Rat werden.«

»Darf man Ihre übrigen Skizzen betrachten, Herr Florian?« fragte der Regierungsrat mit leisem, höflichem Ton.

Der junge Maler verneigte sich stumm. Er hatte kaum recht zugehört und nur so viel verstanden, daß der Alte ihn mit freundlicher Schonung behandelte. Während die Männer jetzt das Skizzenbuch durchsahen, blieb er ganz in den Anblick des jungen Fräuleins versunken, das teilnahmlos dabei stand und von ihm weg zu den Bergen hinüberblickte.

Dieses Mädchengesicht mußte Maleraugen freilich eines eingehenden Studiums wert erscheinen.

Zunächst schon durch die Farbe, jenes sanfte gleichmäßige elfenbeinerne Blaß, das aber durchaus nicht eine blutarme Komplexion andeutete. Denn die vollen, nur etwas trübsinnig gepreßten Lippen schimmerten in gesunder Granatröte. Auch das Haar, schlicht über der zartgewölbten Stirn gescheitelt und in zwei dicken Zöpfen über die Schultern herabfallend, erfreute durch sein helles Braun, das oben und an den Schläfen, wo sich kleine natürliche Löckchen hervorthaten, einen goldigen Glanz hatte. Dazu noch die reizendste Form des Mündchens und der etwas vollen, aber nach dem Kinn sich lieblich absenkenden Wangen, und was dem ganzen Kopf ein besonders charakteristisches Gepräge gab: die Lider über den stahlgrauen Augen so breitgeschwungen, auch wenn der Blick nicht gesenkt war, wie es bei Raffaelischen Madonnengesichtern oft als Übertreibung erscheint und allerdings hin und wieder der Physiognomie einen etwas engelhaft dümmlichen Ausdruck verleihen kann.

Vor dieser Gefahr jedoch schützte das junge Fräulein, das hier vor ihm stand, der Zug einer tiefen Melancholie, der über den feinen Brauen lagerte und selbst in den Nasenflügeln zu zittern schien. Woher es kam, bei so schöner blühender Jugend, daß sie nicht ins Leben hineinlachte, blieb ein Rätsel, das ihr aber noch einen eignen geheimnisvollen Reiz verlieh. Auch die schlanke Gestalt in einem halbklösterlichen Anzuge ließ sie als ein Wesen besonderer Art erkennen. Sie trug ein Kleid aus leichtem schwarzen Wollstoff, nach einem verschollenen Zuschnitt angefertigt und hoch am Halse geschlossen. Die Schultern umfing eine sogenannte Pelerine, ein bis zu den Ellbogen reichender Kragen von weißem Batist, über den an einem blauseidenen Bande ein silbernes Kreuz herabhing. Nur der schöne mattgelbe Florentiner Strohhut hatte nichts Geistliches. Wenn aber der Wind sich darunter verfing und den breiten Rand zurückschlug, mußte man doch wieder an einen, nur etwas massiven, Heiligenschein denken, der ein venetianisches Madonnengesichtchen einrahmte.

Erst als das junge Mädchen den Kopf nach ihm umwandte und ihn mit einem so geistesabwesenden Blick streifte, als stehe ihr nicht ein junger Mann, sondern ein beliebiges Chausseebäumchen gegenüber, riß er seine Augen, etwas empfindlich, von ihrem Anblick los und betrachtete ihre Begleiterin, die in allem ihr unähnlich war, eine behagliche, rosige Frau in mittleren Jahren mit einem noch anmutigen und heiter wohlwollenden Gesicht, in ländlicher, aber moderner Kleidung. Nur die breiten Augenlider bezeugten den Familienzusammenhang mit der reizenden Nichte, während die große Aehnlichkeit zwischen Vater und Tochter sofort in die Augen fiel. Das Gesicht des Regierungsrats war nur etwas tiefer gefärbt, im übrigen zeigte es auf den ersten Blick, daß er in der Jugend ebenso als ein selten schöner Jüngling bewundert worden sein mochte, sowie die Tochter jetzt als eine seltne Mädchenblume erschien.

Auch der Ausdruck von Trübsinn in den Mienen des Vaters erhöhte die Aehnlichkeit. Während er die Skizzen betrachtete, ohne ein Wort zu äußern, hörte man ihn zuweilen verstohlene Seufzer ausstoßen, und ein paarmal fuhr er sich mit der auffallend kleinen, wohlgeformten Hand über die Augen, als ob er einen Nebel von ihnen wegwischen wolle.

»Ich danke Ihnen, Herr« – sagte er endlich mit einer schüchternen, aber wohlklingenden Stimme, »aber wir haben Sie schon allzulange aufgehalten. Leben Sie wohl!«

Der Medizinalrat raunte ihm etwas zu, worauf er, sich schon zum Weitergehen anschickend, dem Maler noch einmal zunickte und höflich hinzufügte: »Hoffentlich haben wir noch einmal das Vergnügen.«

»Herr Florian hat mir versprochen, mich in deinem Hause zu besuchen,« sagte der Alte rasch, »Sie finden mich in den Vormittagsstunden unfehlbar in meinen vier Wänden.«

Er grüßte mit einem eigentümlichen Lächeln zurück, als er den jungen Mann schon wieder mit dem Studium des jungen Mädchenkopfes beschäftigt sah. Von diesem aber kam nur ein kaum merkliches Nicken zum Abschied. Dann setzte sich das Trüpplein wieder in Bewegung und war in dem Föhrendunkel des nahen Waldes bald den nachstarrenden Augen des Malers entschwunden.

 


 


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