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6.

Das Stelldichein.

Hatte Lina meine Leidensgeschichte erfahren und geahnt, daß der Rosenstock zu ihren Füßen blühen sollte, oder war es Zufall. Sie zeigte sich jetzt viel achtsamer gegen mich; ich mußte ihr Federn schneiden; sie fragte mich nicht selten, wie dies und jenes Wort geschrieben werde, und am Ende gab sie mir gar ihre Haushaltrechnung zur Durchsicht und Berichtigung. Letzteres war eine herkulische Arbeit; denn ich hätte den wohl sehen mögen, der zu erklügeln im Stande war, was Ansätze, wie folgende, heißen sollten:

Vier Zwiewel zu Früh Kaße 01 fürmich kühn 4 Gr. wenicher 1 treuer, vier 1 Väßgen Puder 3 Daler Sarthellen zum Fristikk 6 Kroschen.

Dabei hatte sie alles nebeneinander geschrieben, so daß ich sehr oft nicht heraus kommen konnte, und sie selbst über dies und jenes fragen mußte.

Daß Sie stecken bleiben würden, habe ich gleich gedacht, sagte sie verlegen lächelnd und ward roth: aber es ist recht hübsch von Ihnen, daß sie mich nicht auslachen, sondern Geduld mit mir haben; richtig ist alles, darauf können Sie sich verlassen. Meine Mutter – setzte sie verschämt und ernster hinzu: war sehr arm, – Schreiben und Rechnen habe ich ohne Anweisung gelernt, ich habe ja auch gleich den ersten Abend, als wir mit einander aßen, ehrlich und offen gestanden, daß ich mich auf beides nur ein bischen verstehe.

Auslachen – ich armseliger Bursche, dieses liebenswerthe Mädchen auslachen! Was half es mir, daß ich von den Ordinaten und Abscissen, von den Coefficienten des Quadrats, von den Wurzelzeichen und den incomplexen Funktionen sprechen konnte, wie ein Papagei! ich fühlte zum erstenmale, daß die Antwort auf die Frage: was weißt du? viel leichter sey, als auf die: was kannst du?

Ich konnte ja noch nichts, womit ich nur mein Brot zu erwerben im Stande gewesen wäre, und das Mädchen füllte ihren Platz.

Dies Gefühl war es auch gewesen, was mich gedrückt hatte, ohne daß ich es mir selbst recht klar hatte machen können. Ich stand um viele Stufen tiefer als Lina; sie beherrschte mich von ihrer Höhe herab. Sie hatte mit ihrem hellen Hausverstande, mit ihrem scharfsehenden Mutterwitz vollkommen Recht, mich auszulachen, wenn ich auf meinen binomischen Lehrsatz, auf meine Parabeln und Hyperbeln, auf meine Parameter, Polygonalzahlen und den ganzen gelehrten Kram dick that, mit dem sich kein Hund aus dem Ofen locken ließ.

Jetzt aber, mit ihrem Rechenbüchelchen vor mir, stieg mein gutes Linchen um ein Paar Stufen von ihrer Höhe zu mir herab. Nun ward unser Verhältnis gleicher, und mit dem Augenblick auch traulicher.

Aengstigen Sie sich, hub ich beruhigend an, und wagte den ersten Kuß auf die zarte Hand, in der sie das Rechenbuch hielt: ängstigen Sie sich um der Kleinigkeit Willen nicht; Friedrich der Große war in der deutschen Rechtschreibekunst auch nicht ganz regelfest, und ist und bleibt darum doch der größte König seiner Zeit. Ich lese, bis auf wenige Hieroglyphen, Ihre Handschrift, wie in Kupfer gestochen, und weiß z. B. recht gut, daß Sie

für Zwiebeln zum Fricassee 10 Pf.  
" Kien   3 Gr. 9 "  
" 1 Fäßchen Butter 3 Thlr. und
" Sardellen zum Frühstück 6 Gr.  
    __________________  
  mithin in Summa 3 Thlr. 10 Gr. 7 Pf.  

ausgegeben haben, und –

Ach, wer so flink rechnen und so alles in Ordnung unter einander, und so nett und sauber schreiben könnte! fiel sie mir freudig lächelnd in das Wort.

Natürlich erbot ich mich, ihr den nöthigen Unterricht zu ertheilen, und wer die Höllen-Marter kennt, mit liebendem Herzen einem hübschen Mädchen Stunden zu geben, der wird wissen, welche Giganten-Last ich mir auf den Hals wälzte.

Der Herr Professor freute sich, daß ich, sein Schüler, schon so viel bei ihm gelernt hatte, um Andere wieder unterrichten zu können. Der gute Mann! tausendmal hatte er mir gesagt, daß die Mathematik dem Menschen den Kopf aufräume, und daß ein Mathematiker viel heller und schärfer sähe, als jeder Andere.

Diese Behauptung hatte ich bis dahin wie ein Evangelium geglaubt, und mir, auf meine mathematische Kunstsprache, die allen andern Leuten reines Kauderwelsch war, erschrecklich viel eingebildet; aber jetzt mußte ich seine Lobpreisung unserer hohen Wissenschaft in Zweifel ziehen, denn er war ganz stockblind.

Er sah nicht, wie mir es durch alle Glieder zuckte, wenn ich in der Schreibestunde ihre kleine Hand umfaßte, und sie die großen Buchstaben lehrte; er sah nicht, wie selig ich war, wenn ich in der Rechenstunde den Schieferstift, den sie eben mit dem Zungenspitzchen genetzt hatte, ihr, unter dem Vorwand, ein kleines Schnitzerchen verbessern zu wollen, aus der Hand nahm, ihn heimlich an meine Lippen drückte, und mir weiß machte, auf diese Weise ein Küßchen von ihr bekommen zu haben; er sah nicht, wie glühend heiß mir ward, wenn ich dicht neben dem reizenden Wesen saß, und der Schmelz ihres Blickes, das Lächeln ihres Rosenmundes und das Athemholen ihrer Schwanenbrust, mich so verwirrt machten, daß mir alle fünf Species vor den Augen flimmerten.

Jetzt übersetzte ich mir meine mathematischen Kunstregeln von den Tangenten, Sinus, transcendenten Größen, Funktionen, u. dergl. in mein eigenes Deutsch, und baute mir ein System der Mathematik zusammen, über das der hochselige Archimedes, hätte er es zu Gesicht bekommen, aus der Haut gefahren wäre; am meisten beschäftigte mich der Lehrsatz von der Näherung; diese gab mir den ersten, recht deutlichen Begriff von der angewandten Mathematik; ich wendete alle ihre Regeln auf mein Verhältniß zu Lina an, und trieb nun diese saftlose Wissenschaft mit Lust und Liebe.

Ich lebte nur in Lina; meine Liebe zu ihr war die reinste, die seligste der Welt.

Gustchen störte meinen innern Frieden.

Das kleine Ding winkte mir einmal nach Tische heimlich zu und flisterte in aller Gegenwart, und doch von Allen ungehört, leise vor sich hin: Sieben Uhr auf den Gang.


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