Unbekannte Autoren
Tausend und eine Nacht. Band XXIII
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Die Geschichte des lahmen Schulmeisters.

»Meine Geschichte, o mein Herr Sultan, ist wunderbar, und die Sache verhält sich folgendermaßen: Mein Vater war von Beruf ein Schulmeister und, als er zur Barmherzigkeit Gottes abschied, nahm ich seinen Platz in der Schule ein und lehrte die Knaben nach der Weise meines Vaters lesen. Über dem Schulraum aber befand sich in der Höhe ein Gitterverschlag, der mit Planken vernagelt war, und ich richtete fortwährend meine Blicke darauf, bis ich eines Tages bei mir sprach: »Bei Gott, dieser Gitterverschlag, der so mit Brettern vernagelt ist, muß unbedingt Schätze von Geld oder Manuskripten enthalten, die mein Vater dort vor seinem Hinscheiden aufspeicherte, daß ich in solcher Weise ihrer beraubt ward.« Hierauf erhob ich mich und holte eine Leiter, die ich an eine andere band, bis beide zusammen bis zum Gitterverschlag reichten; dann kletterte ich mit einem Zimmermannsbeil hinauf und löste damit die Planken, bis ich alle entfernt hatte, 78 als ich einen großen Vogel, eine Weihe, gewahrte, die auf ihrer Brut saß. Sobald sie mich jedoch erblickte, flog sie mir wütend ins Gesicht, daß ich erschrocken zurückfuhr und von der Spitze der Leiter auf den Boden fiel, mir beide Kniescheiben brechend. Hernach trugen sie mich nach Hause und holten mir einen Arzt, mich zu kurieren; jedoch that er mir nichts Gutes, und ich ward so, wie du mich jetzt siehst. Dies aber, o unser Herr Sultan, beweist meine Schwachköpfigkeit und die Größe meiner Habgier; denn unter den Leuten ist ein Sprichwort, das lautet: »Habgier verschwendet stets und sammelt nie; hüte dich deshalb vor ihr.« Solches, o König der Zeit und des Äons, ist meine Geschichte.«

Da befahl der König, unter die drei alten Schulmeister Gaben und Geschenke zu verteilen, und, als sein Geheiß ausgeführt war, gingen sie ihres Weges. Alsdann aber kehrte sich der Sultan zum Wesir und sprach zu ihm: »O Wesir, ich wünsche nunmehr, daß du in betreff der Sache der drei Mädchen und ihrer Mutter Erkundigungen einziehst, ihre Wohnung ausfindig zu machen und sie hierher zu bringen; oder laß uns wieder verkleidet zu ihnen gehen und ihre Geschichte hören, denn in der That muß sie wunderbar sein. Wie könnten sie sonst gemerkt haben, daß wir die List mit der Bezeichnung der Thür gegen sie anwendeten, und ihrerseits gleiche Zeichen auf alle Thüren des Viertels gemacht haben, damit wir die Spur von ihnen verlören? Bei Gott, das ist ein seltener Scharfsinn seitens der Mädchen; jedoch, o Wesir, wir wollen uns Mühe geben, ihre Spur ausfindig zu machen.« Hierauf ging der Wesir fort, nachdem er seine Kleidung und sein Gehaben geändert hatte, und begab sich nach jenem Quartier, wo er jedoch alle Thüren mit gleichen Marken versehen sah. Er war deshalb ratlos, was er thun sollte, und begann alle Leute, die an jenen Thüren vorüberzukommen pflegten, auszufragen, ohne daß ihm jemand irgend welche Auskunft geben konnte; und so wanderte er ratlos bis zum Abend umher, worauf er nach vergeblicher Mühe zum Sultan 79 zurückkehrte. Als er bei dem Sultan eintrat, fragte ihn dieser und sprach: »Was bringst du für Nachrichten?« Er erwiderte: »O König, ich habe das Gesuchte nicht gefunden, jedoch stieg mir eine List auf, durch welche wir, wenn wir sie ausführen, vielleicht die Mädchen ausfindig machen könnten.« Da fragte der Sultan: »Was ist's?« Und der Wesir versetzte: »Fertige mir ein Handschreiben aus und gieb es dem Ausrufer, daß er in der Stadt ausruft: »Wer nach der Abendessenszeit einen Docht anzündet, dem soll das Haupt unter die Sohlen gelegt werden.« Der Sultan entgegnete: »Dein Rat ist gut.« Und so fertigte der König am nächsten Tage sein Schreiben aus und gab es dem Ausrufer, dem er befahl, durch die Stadt zu ziehen und das Anzünden von Lampen nach dem Nachtgebet zu untersagen, worauf der Mann das königliche Reskript nahm und in einen grünen Beutel steckte. Alsdann zog er aus und kündete in den Straßen also an: »Laut Geheiß unsers Königs, des Herrn der Glückseligkeit und Gebieters über die Nacken der Diener Gottes, wer nach dem Nachtgebet einen Docht anzündet, dem soll das Haupt unter die Sohlen gelegt werden, sein Gut soll geplündert und seine Frauen sollen ins Gefängnis geworfen werden.« In dieser Weise rief der Ausrufer in der Stadt den ersten, zweiten und dritten Tag, bis er durch die ganze Stadt gekommen war, und jeder Bürger den Befehl kannte. Der König geduldete sich bis nach der Ankündigung am dritten Tage; am vierten Tage aber stieg er nach dem Abendessen in Verkleidung mit dem Wesir den Palast hinunter, um durch die Reviere zu streifen und in die Gitter der verschiedenen Viertel zu spähen. Sie fanden nirgends ein Licht, bis sie zu dem Viertel gelangten, in dem die drei Mädchen lebten, wo der Sultan, der gerade nach jener Richtung ausblickte, den Schein einer Lampe in einer der Wohnungen gewahrte. Infolgedessen sagte er zum Wesir: »Da brennt ein Docht.« Hierauf traten sie näher herzu und fanden, daß das Licht in einem der gezeichneten Häuser brannte; sie hielten deshalb an und pochten 80 an die Thür, worauf die jüngste der Schwestern rief: »Wer ist an der Thür?« Sie versetzten: »Gäste und zwar Derwische.« Da erwiderte sie: »Was könnt ihr zu dieser Stunde wollen und was hat euch so verspätet?« Sie entgegneten: »Wir sind Leute, die in einem Chân leben; jedoch verloren wir den Weg dorthin, und nun fürchten wir auf den Wâlī zu stoßen. Öffnet uns deshalb in eurer Güte und nehmt uns für den Rest der Nacht auf; solche Barmherzigkeit soll euch Belohnung im Himmel eintragen.« Da sagte die Mutter: »Geht und öffnet ihnen die Thür,« worauf sich die Jüngste erhob und, ihnen öffnend, sie einließ. Alsdann erhoben sich die Mutter und ihre Kinder und begrüßten sie respektvoll, worauf sie sie zum Sitzen aufforderten, ihnen Ehre erwiesen und etwas Speise vor sie setzten. Nachdem sie gegessen und sich gelabt hatten, sagte der König: »Ihr Mädchen, ihr wißt sicherlich, daß der Sultan durch Proklamation das Dochtanbrennen verboten hat; ihr habt jedoch eure Lampen angezündet und habt ihm nicht gehorcht, während alle Bürger sein Geheiß befolgt haben.« Die Jüngste erwiderte ihm hierauf und sprach: »O Derwisch, fürwahr, des Sultans Befehle sollten nur befolgt werden, wenn sie vernünftig sind; diese Ankündigung jedoch, die verbietet, Lichter anzuzünden, ist eine Sünde anzunehmen; und, in der That, der rechte Weg. den man wandeln soll, ist gemäß dem heiligen Gesetz, welches sagt: Keinen Gehorsam dem Geschöpf in einer Sache, die wider den Schöpfer sündigt. Der Sultan, den Gott stärken möge, handelt hierin wider das Gesetz und ahmt dem Thun Satans nach. Denn wir sind drei Schwestern mit unserer Mutter, was vier im Haushalt ausmacht, und Nacht für Nacht sitzen wir beim Lampenlicht beisammen und weben ein halbes Pfund Linnen, welches unsre Mutter am Morgen zum Bazar zum Verkauf trägt, für dessen Erlös sie uns ein halbes Pfund rohen Flachs kauft und für den Rest, was uns an Lebensmitteln genügt.« Da kehrte sich der Sultan zum Wesir und sagte: »O Wesir, dieses Mädchen erstaunt mich durch 81 ihre Fragen und Antworten. Was für Spitzfindigkeiten können wir ihr vorlegen, und welche Streitfrage können wir aufstellen? Erdenke etwas, durch dessen Aufstellung wir sie in Verlegenheit bringen.« Der Wesir entgegnete: »O mein Herr, wir sind hier als Derwische verkleidet und sind die Gäste dieser Leute geworden; wie könnten wir sie also in ihrem eigenen Hause mit lästigen Fragen stören?« Der Sultan versetzte jedoch: »Du mußt sie unbedingt anreden.« Da sagte der Wesir: »O edles Mädchen, Gehorsam gegenüber dem Befehl des Königs liegt euch ebenso wie allen Unterthanen ob.« Sie antwortete darauf: »Es ist wahr, er ist unser Gebieter; wie aber kann er wissen, ob wir hungrig oder satt sind?« Der Wesir erwiderte: »Laß uns sehen, wenn er nach euch sendet und euch vor sich führen läßt und euch nach euerm Ungehorsam gegen seine Befehle zur Rede stellt, was wirst du dann sagen?« Sie versetzte: »Ich würde zum Sultan sprechen: Du hast dem heiligen Gesetz zuwider gehandelt.« Der Wesir entgegnete: »Wenn er dir verschiedene Fragen stellt, willst du sie beantworten?« Sie versetzte: »Jawohl, ich will es.« Da wendete sich der Wesir zum König und sprach: »Wir wollen das Mädchen mit Frage und Antwort in puncto Gewissen und heiliges Gesetz in Ruhe lassen und wollen sie fragen, ob sie die schönen Künste versteht.« Infolgedessen richtete der Sultan diese Frage an sie, worauf sie erwiderte: »Wie sollte ich sie nicht verstehn, wo ich ihr Vater und ihre Mutter bin?« Da rief er: »Um Gott, meine Herrin, wenn du uns Huld erweisen wolltest, so laß uns eine deiner Weisen und ihre Worte hören.« Hierauf erhob sie sich und verschwand, um mit einer Laute wiederzukommen; sich setzend, legte sie die Laute in ihren Schoß, stimmte die Saiten und schlug sie meisterlich; dann begann sie zu singen und trug unter andern Versen auch diese vor:

»Thu' Gutes den Leuten und herrsche so über ihre Nacken,
Lange herrscht, wer mit Wohlthaten das Volk beherrscht.
Leih' deine Hilfe dem, der auf Hilfe hofft, 82
Denn ewig dankbar ist ein hochgesinnter Mann.
Wer da Geld bringt, dem neigt sich die Menge zu,
Denn Geld ward zur Versuchung des Menschen bestimmt.
Wer Huld und Gnadengaben versagt, nimmerdar
Findet er Freund oder Bruder in der ganzen Schöpfung.
Schau nicht dräuend mit strengem Blick ins Antlitz des Weisen
Unfreundliches Versagen verdrießt den freien Mann.
Wer die Menschen kennt, der weiß, daß sie schlecht sind,
Der Mensch ist geneigt zur Rebellion und dem Schenken abgeneigt.«

Als der Sultan diese Verse vernahm, ward er verwirrt und bestürzt und sprach, indem er sich zum Wesir wendete: »Bei Gott, diese Verse waren sicherlich eine Prüfung von uns und eine Anspielung auf uns: zweifellos weiß sie, daß ich der Sultan bin und du der Wesir, denn der ganze Zuschnitt ihrer Rede beweist, daß sie uns kennt.« Hierauf kehrte er sich zum Mädchen und sagte: »Deine Verse und deine Stimme sind sehr schön und deine Worte haben uns außerordentlich entzückt.« Da sang sie die beiden folgenden Verse:

»Die Leute suchen Kummer und Mühsal für sich
In langen Jahren, die licht einherziehn.
Doch das Schicksal, gleich dem Wasser im Brunnen
Unbeweglich, beherrscht sie alle.«

Sobald als der Sultan diese beiden Verse vernahm, stand es ihm fest, daß das Mädchen seinen Rang kannte. Sie aber hörte mit dem Lautenspielen nicht eher auf als bis die Dämmerung nahte, worauf sie sich erhob und zurückzog, um ein Frühmahl, entsprechend ihrem Stand, zu bringen, da sie an ihnen Gefallen gefunden hatte; und, als sie das Frühstück aufgetragen hatte, aßen alle eine Kleinigkeit, die ihnen genügte. Hierauf sagte sie: »So Gott will, kehrt ihr heute Nacht vor dem Abendessen wieder und werdet unsre Gäste.« Die beiden gingen nun ihres Weges, verwundert über die Schönheit und Lieblichkeit der Schwestern sowie über ihre Furchtlosigkeit in betreff der Proklamation, und der Sultan sagte zum Wesir: »Bei Gott, meine Seele neigt sich jenem Mädchen zu.« Sie schritten dann fürbaß, bis sie in den 83 Palast traten; als aber der Tag verstrichen war und der Abend nahte, machten sich der König und der Wesir wieder fertig zur Wohnung der Mädchen zu gehen, indem sie etwas Gold mit sich nahmen, und brachen eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang zum Haus der Schwestern auf, die sie in der vergangenen Nacht eingeladen hatten. Sie pochten an die Thür, worauf das jüngste Mädchen ankam und, die Thür öffnend, sie hineinließ; dann bot sie ihnen den Salâm und begrüßte sie, sie mit erhöhtem Respekt behandelnd, indem sie zu ihnen sprach: »Willkommen, ihr Herren Derwische.« Dabei betrachtete sie sie jedoch mit dem Auge des Physiognomisten und sprach bei sich: »Fürwahr, diese beiden Männer sind in keiner Weise das was sie scheinen, und, wenn nicht meine Vorsicht, meine Einsicht und Verstandesschärfe von mir gewichen sind, so muß dies der Sultan und jenes der Wesir sein, denn Hoheit und Majestät ist an ihnen ersichtlich.« Alsdann lud sie sie ein, Platz zu nehmen, und redete sie noch gefälliger an, worauf sie ihnen das Abendmahl vorsetzte. Nachdem sie genug gegessen hatten, brachte sie Becken und Eimer zum Händewaschen und trug den Kaffee auf, wobei sie sie veranlaßte sich zu vergnügen und in Rede und Antwort zu ergehen, bis ihr Vergnügen vollkommen war. Zur Zeit des Nachtgebets erhoben sie sich und beteten nach Vollziehung der Waschung; als sie aber ihre Andacht beendet hatten, nahm der Sultan seine Börse in die Hand und überreichte sie der jüngsten Schwester mit den Worten: »Bestreitet hiermit euern Unterhalt.« Das Mädchen nahm den Beutel, der zweitausend Dinare enthielt, und küßte ihm die rechte Hand, noch mehr davon überzeugt, daß er der Sultan sein müßte. Sie bewies ihm deshalb ihren Respekt durch ihre wenigen Worte, die sie zu ihm sprach, als sie vor ihm stand ihm zu dienen. Ebenso gab sie ihren Schwestern und ihrer Mutter insgeheim ein Zeichen, wodurch sie ihnen bedeutete: »Fürwahr, dies ist der Sultan und das sein Wesir.« Da erhoben sich die andern und thaten wie ihre Schwester gethan 84 hatte, so daß sich der Sultan zum Wesir kehrte und zu ihm sprach: »Die Sache hat sich geändert, sicherlich haben sie es begriffen und sich vergewissert.« Dann wendete er sich zu ihr und sagte: »O Mädchen, wir sind nur Derwische und doch steht ihr alle auf uns zu dienen, als wären wir Könige; ich bitte euch, thut dies nicht.« Die jüngste Schwester trat jedoch vor und sprach, indem sie die Erde vor ihm küßte und ihn segnete, den Vers:

»Wohl ergehe es dir deinem Feinde zum Trotz,
Weiß seien deine Tage und seine schwarz wie die Nacht!

Bei Gott, o König der Zeit, du bist der Sultan und das ist der Wesir.« Da fragte der Sultan: »Was für einen Grund hast du dies anzunehmen?« Sie versetzte: »Ich schließe es aus eurer erhabenen Haltung und majestätischen Miene; denn das sind die Eigenschaften der Könige, die nicht verborgen bleiben können.« Der Sultan erwiderte: »Du hast die Wahrheit gesprochen; jedoch, sag' mir, wie es kommt, daß ihr hier ohne männliche Beschützer wohnt?« Sie versetzte: »O mein Herr König, unsre Geschichte ist wunderbar, und, wäre sie mit Nadeln in die Augenwinkel geschrieben, sie wäre eine Belehrung für alle, die sich belehren lassen.« Nun fragte er: »Wie ist sie?« worauf sie anhob:

 


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