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Tausend und eine Nacht. Band IX
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Der israelitische Kadi und sein frommes Weib.

Ferner erzählt man, daß unter den Kindern Israel einst ein Kadi lebte, welcher ein Weib von wunderbarer Schönheit hatte, das stark in Fasten und Geduld und standhaft im Leid war. Als dieser Kadi die Pilgerfahrt nach Jerusalem unternahm, setzte er seinen Bruder an seiner Statt zum Kadi ein und befahl ihm sein Weib; sein Bruder aber hatte von ihrer Schönheit und Anmut gehört und hatte sich in sie verliebt. Als nun der Kadi fortgereist war, begab er sich zu ihr und suchte sie willfährig zu machen, doch wies sie ihn ab und hielt fest an ihrer Keuschheit. Je mehr er in sie drang, desto standhafter wehrte sie sich, so daß er schließlich an ihr verzweifelte und in der Besorgnis, sie könnte ihn bei seinem Bruder nach seiner Rückkehr wegen seines Betragens verklagen, sich falsche Zeugen beschaffte; dann beschuldigte er sie des Ehebruches und verklagte sie vor dem König jener Zeit, der sie zu steinigen befahl. Da gruben sie eine Grube für sie, setzten sie hinein und steinigten sie, bis sie von den Steinen bedeckt war, worauf des Kadis Bruder sagte: »Die Grube soll ihr Grab sein.« Als es nun dunkle Nacht geworden war, hob sie an vor Schmerzen zu stöhnen, und ein Wandersmann, der nach einem Dorf in der Nähe ging und ihr Wimmern hörte, zog sie aus der Grube heraus und trug sie zu seinem Weib, dem er befahl ihre Wunden zu pflegen. Die Frau pflegte sie, bis sie genesen war; da sie aber ein Kind hatte, übergab sie ihr 15 dasselbe zum Stillen, und ließ sie mit dem Kinde in einem andern Hause schlafen. Da begab es sich, daß ein Dieb sie sah und Verlangen nach ihr trug; er schickte zu ihr und bewarb sich um ihre Gunst, doch wies sie ihn ab, worauf der Dieb sie zu töten beschloß und des Nachts, während sie schlief, zu ihr ins Haus eindrang und über sie mit seinem Messer herfiel; doch traf er den Knaben und schnitt ihm die Kehle ab. Als er nun merkte, daß er den Knaben getötet hatte, eilte er von Furcht erfaßt aus dem Hause, und Gott schützte sie so vor ihm. Am andern Morgen fand sie den Knaben ermordet an ihrer Seite, und nicht lange währte es, da kam die Mutter des Kindes und rief, als sie den Knaben in seinem Blute liegen sah: »Du bist die Mörderin.« Dann marterte sie sie mit Schlägen und wollte sie ermorden, als ihr Mann dazu kam und sie aus ihrer Hand befreite, indem er sagte: »Bei Gott, das hat sie nicht gethan.« Hierauf lief die Frau fort, ohne zu wissen, wohin sie ihren Weg nehmen sollte; sie hatte aber etwas Geld bei sich. Auf ihrer Flucht kam sie an einem Dorf vorüber, wo sie die Leute um einen an einem Baumstamm gekreuzigten Menschen versammelt sah, welcher noch Leben in sich hatte. Da fragte sie: »Ihr Leute, was ist's mit ihm?« Und sie erwiderten: »Er hat ein Verbrechen begangen, welches nur durch seinen Tod oder durch ein Almosen von dem und dem Betrage gesühnt werden kann.« Da sagte sie: »Nehmt das Geld und macht ihn los.« Wie sie ihn nun losgemacht hatten, bereute er vor ihr und gelobte bei sich, ihr um Gottes, des Erhabenen, willen zu dienen, bis der Tod ihn abberiefe. Hierauf baute er eine Zelle für sie und ließ sie darin wohnen, während er selber Holz fällte und ihr täglich ihr Brot brachte. Sie aber gab sich von nun an ganz der Anbetung Gottes hin, bis die Kranken und Besessenen zu ihr kamen, und keiner von ihr fortging, den sie nicht sofort durch ihr Gebet geheilt hätte. 16

Vierhundertundsechsundsechzigste Nacht.

Wie nun die Frau von den Leuten aufgesucht wurde, während sie in ihrer Zelle der Anbetung Gottes oblag, da geschah es durch den Ratschluß Gottes, des Erhabenen, daß Er auf den Bruder ihres Mannes, der sie hatte steinigen lassen, einen Krebsschaden ins Gesicht herabsandte, und daß Er das Weib, das sie geschlagen hatte, mit Aussatz heimsuchte und den Dieb mit Lähmung strafte. Als ihr Mann der Kadi von seiner Pilgerfahrt heimkehrte und seinen Bruder nach seiner Frau fragte, sagte dieser ihm, daß sie gestorben sei, worauf der Kadi sie betrauerte und glaubte, sie wäre bei Gott. Nach einiger Zeit hörten die Leute von der Frau und besuchten von weit und breit aus allen Gegenden der Erde ihre Zelle, und der Kadi sagte zu seinem Bruder: »Mein Bruder, willst du nicht auch jene fromme Frau aufsuchen, daß Gott dich vielleicht durch ihre Hand gesund macht?« Und sein Bruder antwortete: »Mein Bruder, schaff' mich zu ihr.« Ebenso hörte auch der Mann der von Aussatz befallenen Frau von ihr und reiste mit seiner Frau zu ihr, und desgleichen vernahmen die Angehörigen des gelähmten Diebes von der frommen Wunderthäterin und machten sich mit ihm auf den Weg zu ihr, so daß sie alle vor der Thür ihrer Zelle zusammentrafen. Sie konnte aber alle, die zu ihrer Zelle kamen, sehen, ohne daß sie einer bemerkte; und die Außenstehenden mußten warten, bis ihr Diener kam, worauf sie ihn um Einlaß baten und er die Erlaubnis hierzu einholte. Als sie nun die Leute vor ihrer Zelle stehen sah, verschleierte und verhüllte sie sich und trat an die Thür und schaute auf ihren Gatten und seinen Bruder und auf den Dieb und die Frau und erkannte sie, ohne daß sie von ihnen erkannt wurde. Alsdann sagte sie zu ihnen: »Ihr Leute, ihr sollt nicht anders von eurer Krankheit Ruhe finden, als daß ihr eure Missethaten bekennt; denn so der Mensch seine Sünden bekennt, nimmt Gott ihn wieder zu Gnaden an 17 und gewährt ihm sein Anliegen, das ihn zu ihm geführt hat.« Da sagte der Kadi zu seinem Bruder: »O mein Bruder, bereue zu Gott und beharre nicht in deiner Sünde, denn dies wird dir zu deiner Genesung förderlicher sein.« Und die Lage der Dinge sprach in stummer Sprache die Worte:

Heute steht der Bedrückte vor dem Bedrücker,
Und Gott offenbart das Geheimnis, das er verbarg.
Dies ist der Ort, wo die Sünder erniedrigt werden,
Und wo Gott die getreuen Diener erhöht.
Hier zeigt unser Herr und Meister die Wahrheit klar,
Ob der Sünder auch trotzt oder in den Staub sich beugt.
Weh Gottes Feinden, die ihn zum Zorne reizten,
Als wüßten sie nichts von Gottes Strafen!
O, der du Ehren suchst, die Ehren kommen aus Gottesfurcht,
Drum, weh dir, nimm deine Zuflucht zu Gott.

Infolgedessen sagte der Bruder des Kadis: »Nunmehr will ich die Wahrheit bekennen; ich that das und das mit deiner Frau, und solches ist meine Missethat.« Darauf sagte die Aussätzige: »Was mich anlangt, so hatte ich eine Frau bei mir, die ich wider besseres Wissen beschuldigte und hartherzig schlug; das ist meine Missethat.« Alsdann sagte der Gelähmte: »Und ich drang bei einer Frau ein, um sie zu ermorden, nachdem ich mich vergeblich sie zu verführen bemüht hatte, und traf ein Kind, das neben ihr lag; das ist meine Missethat.« Da sprach die Frau: »O Gott, wie du ihnen die Erniedrigung der Sünde vor Augen geführt hast, so laß sie nun auch des Gehorsams Ehre erschauen, denn du hast Macht über alle Dinge.« Und Gott, der Mächtige und Herrliche, heilte sie. Hierauf begann der Kadi sie anzuschauen und scharf ins Auge zu fassen und sagte, als sie ihn deswegen zur Rede stellte: »Ich hatte eine Frau, und wäre sie nicht tot, so würde ich sagen, du seiest es.« Da gab sie sich ihm zu erkennen, und beide lobten nun Gott, den Mächtigen und Herrlichen, für die Gnade der Wiedervereinigung, die er ihnen gewährt hatte. Alle aber, der 18 Bruder des Kadis sowohl wie der Dieb und die Frau hoben an sie um Verzeihung zu bitten; und sie verzieh ihnen, worauf sie Gott an jenem Ort anbeteten und ihr treulich dienten, bis der Tod sie voneinander trennte.

 


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