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» Ist das ein Morgen wieder!« sagte der Pfarrer, der, nachdem er die Messe gelesen hatte, mit dem Grafen und dem Helmburger Schulmeister bergan schritt.
Sie wollten – der Geistliche und der Lehrer – da die Schule Ferien hatte, in der Schloßkirche eine Vesper einstudiren, ein Tenorsolo mit Orgelbegleitung
»Wie geht's Ihren Herren Neffen, Herr Graf?«
»Hm, es geht Ihnen Beiden zu gut, fürcht' ich. Den Einen macht's faul und den Anderen übermüthig.«
Der Graf sagte es mit sorgenvoller Stirn. Das Gebahren Richard's beängstigte ihn mehr und mehr.
Unterwegs hatten sie von Gemeindeangelegenheiten geplaudert, jetzt waren sie dicht beim Schloß und verathmeten ein Weilchen.
Der Pfarrer zog sein großes blaues Schnupftuch, das ihm hinten aus der Rocktasche hing, hervor, nahm die Brille ab, putzte die Gläser, setzte die Brille wieder auf und antwortete dann:
»Was Herrn Egon betrifft, so sag' ich, das ist gährender Most; Jugend muß austoben. Und Herr Richard – ah, das ist eine großartige Natur. Der hätte in einem anderen Jahrhundert leben müssen! Sie kennen ihn ja auch, Herr Lehrer?«
»Ich bin so frei … Großartig! Hochwürden fanden wie immer das rechte Wort: Großartig!«
»Er hat eine beneidenswerthe Zukunft.«
»Beneidenswerthe Zukunft.«
»Und wie denken Sie über die Heirath?« fragte der Graf.
Ein Schatten flog über das Gesicht des Geistlichen. »Ah, Herr Graf – was läßt sich hierbei denken? Herr von Holberg liebt sie, und sie liebt ihn. In unserem toleranten Zeitalter ist gegen gemischte Ehen Nichts mehr einzuwenden …… Darf ich fragen, wie sich Fräulein Waldemar befindet?«
»Die hat wohl Ihre besondere Gunst? Wie?« Der Graf klopfte ihm lachend auf die Schulter. »Seitdem Sie hörten, daß Fräulein Helene gewisse Werke eifrigst studirt –«
Der Pfarrer wurde sehr roth und mußte doch schmunzeln.
»Ich will mich,« entgegnete er, sich in die Brust werfend, »ich will mich von Autoreneitelkeit nicht gänzlich freisprechen – aber das allein ist's nicht. Fräulein Waldemar nimmt an allem Hohen und Tiefen Antheil. Unter Anderem legt sie für die Einrichtungen unserer heiligsten Kirche ein Interesse an den Tag, ein Interesse, das – das – jedenfalls erfreulich ist.«
Graf Helm sah den Pfarrer von der Seite an und spitzte die Lippen.
»Um so mehr müssen Sie mit uns frühstücken,« sagte er dann. »Und Sie auch, Herr Lehrer. Zum Orgelspielen haben Sie immer noch Zeit. Abgemacht.«
Die Einladung ward respectvoll angenommen.
Aber weder Richard noch Helene kamen zum Frühstück …
Sie wurden nicht vermißt, denn die Stunde brachte ein Ereigniß.
Kaum nämlich hatte der Graf mit seinen Gästen zum Dejeuner sich niedergesetzt – jede Mahlzeit, auch das Frühstück, wurde auf Helmburg gemeinsam eingenommen – ward ihm ein »Expresser« von Schwaneck gemeldet.
Schwaneck, von Helmburg nur wenige Meilen entfernt, war die Sommerresidenz des Landesfürsten.
Der Brief, den der Bote dem Grafen überbrachte, enthielt einige Zeilen des königlichen Kammerherrn.
Ihr Inhalt überraschte den Grafen. Er setzte sich militärisch stramm im Stuhl zurecht und sagte, indem er das Schreiben Herrn von Wiek über den Tisch hinreichte:
»Majestät der König werden heute auf Schloß Helmburg übernachten.«
Helene führte ihren Entschluß, den Mönchstein zu besteigen, an diesem vom Himmel begnadeten Morgen aus.
Der gewaltige Felskegel konnte von zwei Seiten erklommen werden.
Der eine Weg ging hinter der Sennhütte empor, war beschwerlich und gefahrvoll, aber der kürzere.
Ihn hatte Helene gewählt, ohne Begleiter, ohne Führer.
Es überkam sie zuweilen eine unwiderstehliche Lust, ihr erstes Gesetz – Wahrung des Scheins zu brechen und – sie, die Kluge – unklug sich in Gefahr zu begeben.
So klomm sie heute, ihrem festen Fuß und guten Auge vertrauend, mit einem tüchtigen Alpenstock sich stützend, so klomm sie wie eine Sennerin furchtlos den schmalen Felsenpfad hinan, der durch Geröll und über Rinnsale, Abgründe entlang führte.
Helene sah auf den Weg und nur selten hinauf oder hinab, und immer dann rief sie sich, wie der Waller in Longfellow's Ballade » Excelsior« (1842). zu: Höher!
Endlich ließ sie sich auf einer Felsenplatte, um auszurasten, nieder.
Alpenrosen hatten dort üppig gewuchert, aber die Sonne, die ihnen Farbe und Leben gegeben, versengte sie auch. Sie überzogen nun wie Rost das Gestein.
Helene legte den Bergstock neben sich und schaute umher.
Ringsum graues, nur noch spärlich mit Tannen bestandenes Gebirge, mit flatternden Gießbächen und schneeverwehten Schlüften, und weiterhin dort, ein Gebirg überm Gebirge, das Auge blendend, eine Gletscherreihe.
Dicht vor ihr aber senkte sich die Gesteinswand, welche sie erklommen, steil hinab.
Einsamer ist es hier, als auf dem schiffeschaukelnden, rauschenden, ruhlosen Meer.
Hier ist Ahnung des Oceans, der die Welten trägt.
Kein Laut – – – – – –
Doch horch! da rollte und krachte es nahebei.
Etwas näherte sich.
Vielleicht ein Wild.
Jetzt fiel ein Schatten neben sie.
Mit einem Schrei der Ueberraschung erhob sich das Mädchen.
Richard sprang von einer Felsenstaffel und stand in der nächsten Secunde vor Helenen.
Um dieselbe Zeit hatte man im Schloß das Frühstück beendet.
Der Graf rief die Castellanin, den Tafeldecker und Gärtner, um sich mit ihnen wegen des hohen Besuchs zu berathen. Wanda eilte mit ihrer Gesellschafterin zur Musterung der Toiletten; Papa Wiek dagegen ließ sich durch keinen Fürsten der Welt den Genuß der Morgencigarre verkümmern.
Sehr übler Laune war Egon.
Er ging unruhig auf und ab, fragte wiederholt nach dem Bruder, trommelte an die Fensterscheiben, eilte ins Freie und kehrte wieder unschlüssig, wohin er sich wenden solle, ins Schloß zurück.
»Wo sind Richard und Helene? Wo sind sie?«
Nicht als ob er eifersüchtig wäre! Aber gestern, bei der Sennhütte – das war doch auffällig!? Richard gefiel ihm nicht mehr. Warum war derselbe seit einiger Zeit so mürrisch, verschlossen, man möchte sagen mißtrauisch gegen den Bruder? Und Helene ist eine Sirene; eine Schlange ist sie – Schwerenoth, wo bleiben Richard und Helene?!
Der Pfarrer und der Lehrer aber vergessen nicht, warum sie ins Schloß gegangen. Daß der König komme, war ein Grund mehr, um die Vesper einzustudiren. Vielleicht bot sich eine Gelegenheit, das vom Pfarrer componirte Musikstück vor Seiner Majestät zu executiren.
So begaben sich Beide denn auf das Empor der Kirche, das ein breiter Sonnenstrahl aus einem nicht bemalten Rundfenster beleuchtete.
Der Pfarrer hatte die Brille auf die Stirn geschoben und sich an die Orgel gesetzt; der Lehrer – der Arme steckt in einem Rock, den der Schneider nicht ihm angemessen – stand mit dem Notenblatt daneben, und ein Stalljunge harrte im Schlagschatten des gewaltigen Instruments, um die Bälge zu treten.
»Sehen Sie, lieber Achleitner,« begann der Pfarrer mit wichtiger Miene, »meine Idee war diese – sie ist neu und gut: Der Tenor beginnt ohne Begleitung – sanft, süß, andächtig:
O Maria, Gnadenmutter,
Neige dich, neige dich meinem Gebet!
dann crescendo – flehender:
O Maria, Ouell des Trostes,
Höre die Seele, die zu dir fleht!
Jetzt kosend – duftig:
Engel umgeben dich,
Himmlische Pracht –
Forte, gleichsam verzweiflungsvoll:
Aber mich, ach, mich
Der Sünde Nacht!
Und nun fällt die Orgel fortissimo ein! … Sie verstehen mich. So – Fangen Sie also an – recht sanft, recht süß … Hans, bist da?«
Aus dem Schlagschatten rief der Knabe: »Ja!«
Der Anblick Richard's auf der Felsenwarte erweckte Furcht und Grauen auch der sonst so Unerschrockenen.
Sein Gewand war zerrissen, seine Hände bluteten.
Er hatte den Hut verloren, und wild ringelte sich sein Haar.
Die Augen funkelten im aufgedunsenen, glühenden Gesicht.
»Wie kommen Sie hierher?!« stammelte Helene.
»Unter Gottes Schutz! unter Gottes Schutz! Denn an schauerlichen Abgründen und an donnernden Sturzbächen vorbei ging mein Weg, und ich zitterte und strauchelte nicht. Wie eine Gemse flog ich dahin. Ich suchte Dich, und Gott wollte, daß ich Dich finde.«
»Mich?«
»Helena, der Klytämnestra Schwester!«
»Sie sind von Sinnen!«
»Nein, denn ich weiß, was ich will. Ich will, Dich umarmend, den Sprung in die Ewigkeit thun.«
Damit faßte er mit ehernen Armen die Schaudernde an, und ein Ringen begann, einen Fuß breit vom Abgrunde, vom Felsengrab.
Während der Pfarrer seinem Sänger die Schönheiten der Composition erklärte, schaute Hans, der Stalljunge und Kalkant Balg- oder Bälgetreter bzw. Orgeltreter., vom erhabenen Standpunkte in die Kirche hinunter, wo durch ein offenes Fenster eine Schwalbe lustig aus und einflog.
Das erinnert ihn an ein zerbrochenes Stallfenster, das einem Schwalbenpaar als Flugloch dient, und weil unter demselben Fenster just seine Lagerstätte steht, wandern seine Gedanken weiter, ob wohl Anderl, der Stallchef und Leibkutscher, jetzt wie gewöhnlich auf seinem – Hansens – Bett den Nachmittagsschlaf halte.
Dann zog er einen grasgrünen Apfel aus der Hosentasche, biß hinein und steckte ihn wieder ein.
Zur rechten Zeit, denn in derselben Secunde commandirte ihn der Pfarrer …
Hansens Amt beginnt, und zu seinem Lobe sei gesagt: er übt es eifrig und übt es gern.
Hans tritt die Bälge, die Bälge geben der Orgel Athem.
Wenn nach den Eingangsstrophen des Sängers das Instrument fortissimo einfällt, geschieht es dadurch, daß ein Luftstrom gegen die scharfe Kante in einer gedakten Pfeife D.h. Pfeifen, die am oberen Ende geschlossen sind. bläst, ein Geschwirr erzeugt, aus welchem gewisse Schwingungen durch die Resonanz der Pfeife verstärkt und in einen musikalischen Ton verwandelt werden.
Dieser Ton pflanzt sich aus der Kirche ins Freie fort und steigt, nicht »von Wind und Sturm beflügelt«, sondern nur durch die größere Dichtigkeit der Luft unten verstärkt, in die leichtere Luft empor, die des Mönchsteins Felsenkuppe und die zwei einsamen Wesen droben, die Ringenden umgiebt.
Nur ein mechanischer Vorgang zwischen unten und oben: Bewegung.
Die Bewegung – die Tonschwingung – theilt sich den Gehörnerven Richard's und Helenen's mit und wird im Gehirn zum Schall.
Doch dieser Schall ist Musik.
Musik – in regelmäßigen Intervallen auf einander folgende Anstöße, welche das Trommelfell erhält.
Das tiefe C, womit die Orgel beginnt, macht so und so viel Schwingungen in der Secunde.
Aber dies so und so viel rettet Helene vom Tode.
Denn Richard horcht –
Und wie in der unsterblichen Dichtung Glockenklang und Chorgesang dem lebensmüden Faust den Giftbecher vom Munde ziehn, entführte der tiefe Orgelton dem Mann auf dem Felsen den Mordgedanken.
Er blickte von Helene empor, und sie, die schon in die Kniee gesunken, fühlte, wie der eiserne Griff seiner Hände nachließ.
Sie erwog – eine Secunde, nachdem sie sich mit dem Gedanken der Vernichtung vertraut gemacht, war sie schon wieder abzuwägen fähig.
Stürzt sie ihn jetzt schnell wie der Blitz vom Rande – selbst wenn ihr Verzweiflung die Kraft dazu giebt – so reißt sein Fall sie mit hinab; springt sie auch nur, um zu fliehen, jach empor, kehrt er wahrscheinlich zu seiner Absicht zurück –
So bleibt und harrt sie in ihrer knienden Stellung.
Erst, da er sie völlig frei läßt, um sein Gesicht in die Hände zu bergen, richtet sie sich langsam und geräuschlos auf –
Er hat sie vergessen – nein, jetzt blickt er wieder auf sie – und aber weicht zurück und streckt die Arme abwehrend gegen sie aus, wie vor der Erscheinung eines bösen Geistes.
Sie entfernt sich, das Antlitz ihm zugewendet, langsam, bis wo der Pfad um den Felsen biegt –
Dann flieht sie, flieht mit der behenden Hast einer Gemse, welche dem Jäger entronnen.
Da Helene im Schloßhof ankam, hatte Orgelklang und Gesang in der Kirche längst geendigt, statt dessen klopften die Diener unter freiem Himmel Teppiche und Möbel aus. Einige Bäuerinnen saßen, Kränze windend, zwischen Haufen Tannenzweige von deren dunklem Grün das Roth der Schürzen sich leuchtend abhob. Zwei derbe Mägde beförderten eben einen Spießer, der an irgend einem luftigen Orte seine Mürbezeit abgehangen, quer über den Hof nach der Küche, wo man, wie der Duft verrieth, mit der Bereitung der Fonds und Coulis schon beschäftigt war.
In der Säulenhalle ruhte Helene, der heute selbst das neugierigste Dorfkind keine Aufmerksamkeit schenkte, zum ersten Mal sich aus – aufrecht, den Arm leicht auf das Marmorgeländer stützend, mit dem einen Fuß auf der untersten Stufe.
Ihr Antlitz hatte die klare Farbe wie immer, und wenn ein gelöster Haarsträhn über dem Busen zitterte, so schien dies wenn nicht Absicht, doch nur ein anmuthiger Zufall zu sein. Ja, ihre Brust athmete schon nicht mehr schwerer, als nach einem etwas raschen Gang.
Zum Grafen zu gehen, war ihr erster Gedanke, denn er vor Allen müßte sie, müßte Alle schützen.
Sobald aber Helene, an der Schwelle seines Hauses angelangt, sich völlig gefaßt hatte, zauderte und überlegte sie …
Ein Diener kam die Treppe herab.
Helene hemmte seine Eile, indem sie nach Wanda fragte.
»Das gnädige Fräulein sind auf ihrem Zimmer.«
»Und der Graf?«
Der Herr Graf sei im Flügel nebenan, in den Staatszimmern.
»Und die anderen Herren?«
Herr von Wiek mache droben ein Schläfchen, und Herr Egon spiele im Erkerzimmer mit sich Karten.
Sie dankte dem Diener und stieg zögernd die Stufen hinauf.
Noch war sie nicht entschlossen.
Allein war nicht Gefahr im Verzug? Mußte sie nicht um ihretwillen warnen? Doch warum soll der Graf oder ihr Onkel das Entsetzliche zuerst aus ihrem Munde hören? Soll sie's Wanda entdecken?
Das wäre volle Rache für die mannichfachen Demüthigungen, aber sie braucht ihre Cousine noch …
So wäre nur noch der Bruder des Unglücklichen – der Bruder! – – ja, ihn wollte sie zum Vertrauten wählen.
Egon stand beim Eintritt Helenens vom Spieltisch auf. Er hatte sich aus Langerweile eine Patience gelegt.
»Endlich! Wissen Sie, daß ich Ihretwegen schon in Unruhe war?«
Mit einem ironischen Blick auf die Karten, ging sie vor den Spiegel und ordnete ihr Haar.
»Ich habe einen Spaziergang gemacht, eine kleine Gebirgstour; ich war auf dem Mönchstein.«
»Sie auf dem Mönchstein? ohne Führer?«
»Ohne Führer.«
Er maß sie mit glänzenden Augen. Ja, sagte er sich, schön wie ein Engel und muthig wie eine Hexe. Es lohnte sich, ihretwegen einen dummen Streich zu begehen.
Helene hatte auf einer Chaise longue Platz genommen. Sie fühlte das Behagen der Sicherheit und Ruhe nach der überstandenen Lebensgefahr. Doch solchem Wohlgefühl ganz sich hinzugeben, war jetzt nicht die Zeit. Sie blickte sinnend vor sich hin, ein Seufzer entfloh ihr.
»Sie seufzen?« sagte Egon, indem er der im heiteren Gespräch, wie im ernsten Nachdenken, in der Bewegung wie in der Ruhe Entzückenden folgte; »Sie seufzen? Schmerzt es Sie, von jenen Höhen, wo die Freiheit wohnen soll, zu uns armen Sclaven zurückzukehren? Doch nein, Sie schwärmen ja nicht. Also galt Ihr Seufzer Anderem!? Ich möcht' es wissen.«
Er trat näher und fuhr mit Wärme fort: »Aus eigennütziger Absicht, Helene, denn ein Schatten auf Ihrer Stirn betrübt mich, Ihr Lächeln ist mein Himmel.«
Sie schlug die Wimpern auf und forschte in seinen Zügen.
Ein männlich schönes Gesicht. Während sie, vom bequemen Pfühl, zu Füßen einen weichen Teppich, in prächtiger Umgebung es betrachtet, muß sie unwillkürlich an das furchtbare Antlitz denken, das an des Abgrunds Rand sich über sie gebeugt. Keine Aehnlichkeit! Egon's Augen strahlten– nur von der Bewunderung, die Blumen auf die Wege streut.
»Ich bitte Sie, Herr von Holberg,« antwortete sie endlich, »nicht jetzt diese Phrasen, welche mich nie überzeugen; nicht jetzt, während mir das Herz zu springen droht!«
»Das Herz? Ihnen? … Sie schienen eben doch so heiter, so ruhig!«
Das Wort reizte sie. »Ruhig ich!?« sprang sie auf.
Ja, nun war kein Blut mehr in ihren Wangen, nun glühten ihre Augen, nun wogte die Brust.
»Hat man Sie beleidigt?« fragte er, und der rasche, feste Griff, womit er ihre Hand umspannte, sagte mehr, als alle bisher verschwendeten Schmeicheleien.
»Beleidigt? Ja – Und doch – nein! nein!«
»Wer? Mir müssen Sie es sagen!«
»Ihr Bruder –«
»Richard!« fiel er ein; »wo sahen Sie ihn?«
»Auf dem Mönchstein –«
Er stieß plötzlich ihre Hand von sich: »Richard!? Ah, mein Fräulein, Der wagt sich so hoch nur, wenn man ihn ruft –«
Sie maß ihn vom Scheitel zur Sohle, dann wandte sie sich zum Gehn – da lag er zu ihren Füßen und flehte: »Vergeben Sie mir!«
Sie lächelte verächtlich auf ihn herab. »Und doch sind Sie ihm ähnlich!« sagte sie. »So kniete gestern Ihr Bruder vor Wanda, nachdem er sie beschimpft …«
»Was soll dieser Vergleich? Bei meiner Ehre beschwör' ich Sie, glauben Sie nicht, daß ich eine Ihrer und meiner unwürdige Scene spiele! Helene, ich liebe meinen Bruder; trotz seinen Launen und Wunderlichkeiten liebte ich ihn bis zur Stunde; ich verdanke ihm Alles. Doch wenn er Sie beleidigt oder – Nein – Nein –« Er erhob sich und schlug krampfhaft die Finger in einander.
»Oder?« fragte Helene kalt, »was meinen Sie mit diesem Oder?«
»Oder wenn er zwischen uns sich drängt, dann vergess' ich alle Liebe, alle Dankbarkeit und züchtige ihn wie jeden Anderen.«
»Das werden Sie nicht, sondern ihn bemitleiden, beweinen, denn Ihr Bruder ist – ach, warum muß ich die Erste sein, die das Schreckliche entdeckt und erlebt – – Ihr Bruder ist – wahnsinnig.«
Egon starrte sie entsetzt an und stammelte Unverständliches.
Da führte sie ihn mit sanfter Hand zum Sopha und setzte sich neben ihn und erzählte ihre Begegnung mit Richard.
Nachdem sie geendigt hatte, erhob sich der Tieferschütterte und sagte, ihre Hand küssend: »Verzeihen Sie, wenn ich der Freude über Ihre Rettung nicht jetzt schon Ausdruck gebe – – O, mein Bruder! mein armer Bruder!«
Da er sich entfernen wollte, fragte Helene, was er beabsichtige.
»Ich mache sofort dem Onkel Mittheilung. Ich hole selbst einen Arzt.«
»Das dürfen Sie nicht thun.«
»Warum nicht ich? Eben ich!«
Sie neigte sich zu ihm, so nah, daß er ihren Athem fühlte, und flüsterte ihm Etwas ins Ohr.
Er fuhr betroffen auf. Aber ihre Augen verfolgten, bannten, bezauberten ihn. Sie redeten eine Sprache, wie er sie von Lippen nie gehört, eine leidenschaftliche, sinnverwirrende, zu allem Bösen beherzt machende Sprache.
»Helene,« rief er zuletzt, » Sie sind ein Dämon!«
Damit endigte ihre Unterredung; der Graf trat ein, vergnügt in die Hände klatschend, wenn auch hochroth im Gesicht und mit zerzaustem Haar.
»Was sagst Du zu meiner Idee, lieber Junge!« rief er schon auf der Schwelle, »ich lasse unserm Gast, meinem theuren König zu Ehren heute Nacht auf dem Mönchstein ein Freudenfeuer brennen!«
Seine Majestät kamen zur gemeldeten Stunde pünktlich an. Dem Empfang fehlte es, Dank dem Schauplatz, nicht an Großartigkeit. Ein wolkiger Himmel warf abwechselnd Schatten und Mondlicht über die ernste Landschaft; das Schloß aber, von unten bis oben mit Fahnen und Guirlanden phantastisch aufgeputzt, stand inmitten der Felsenwacht in rother Gluth, dem Schein der im Hofe brennenden, qualmenden Pechpfannen.
Eine Viertelstunde später trat der König in den lichterhellen Saal, wo des Grafen Gäste und einige Notabilitäten der Nachbarschaft in ehrfurchtsvoller Stille ihn erwarteten. Die Damen decolletirt und mit langer Schleppe; Wanda unglücklich, daß keine Zeit mehr gewesen, sich eine Robe nach dem neuesten neuen Schnitt aus der Residenz zu verschreiben.
Des Königs Begleiter nach Helmburg waren nur sein Adjutant und ein norddeutscher Herr; letzterer ein Bekannter für Einige in der Gesellschaft: Legationsrath Burg. Aber wer hat für einen Legationsrath Interesse, wenn er mit einem König kommt!
Seine Majestät richteten bei der Vorstellung etliche huldvolle Worte an Jeden … Vielleicht hörten nur Helene und Egon, was er sagte. Die Anderen erstarben.
Dann begab man sich zur Tafel … Sie war recht feierlich. Einige der Anwesenden wurden nur dadurch enttäuscht, daß Seine Majestät wie ein anderer Sterblicher aßen und tranken.
Der Graf hatte fortwährend mit seiner Rührung zu kämpfen. »Mein guter König,« murmelte er immer und immer wieder, »wie er seinem Vater ähnlich sieht!«
Jedenfalls war der König eine sehr anmuthende Persönlichkeit, an Jahren jung, schlank gewachsen, von stolzer Haltung, mit der ein freundlicher Zug um den Mund und ein offenes Auge auch den Sensitivsten versöhnte
Einmal streifte sein Blick zu Helene hinüber, die zwischen Burg und dem Pfarrer saß, eine königliche Schönheit an der Königstafel. Da er die Augen wieder wegwandte, begegnete er zufällig dem Blick Richard's und mußte sich gestehen, daß dieser Gast ein sehr finsterer Gast sei. War er ihm vorgestellt worden? Er erinnerte sich dessen nicht.
»Was macht Ihre Orangerie, meine Gnädige?« richtete er an seine Nachbarin zur Linken, eine kleine Person mit großen Brillanten, das Wort.
»Majestät wissen?«
»Ah, Ihr nächster Nachbar sollte von der weitberühmten Flora auf Lachsenburg nicht gehört haben? Ihre Orangerie ist die Verzweiflung meines Gartenintendanten. Gnädige Gräfin kennen die Orangerie der Baronin sicher aus eigener Anschauung?«
Letztere Frage galt der Nachbarin rechts.
»O ja – wunderbar,« lächelte diese mit einem giftigen Blick auf die Andere, denn beide Damen waren sich seit ungefähr einem halben Jahrhundert spinnefeind.
Der jüngere Holberg saß zwischen zwei Nichten der Baronin. Er war froh, daß dieselben, nur nach der Majestät hinhorchend, wenig Anspruch auf seine Unterhaltung machten. So konnte er Bruder Richard beobachten. Der war im Laufe des Nachmittags zu Hause eingetroffen, hatte sich aber sowohl dem geängstigten Egon, wie dem ahnungslosen Schwiegervater in sein Zimmer verschlossen, bis zur Ankunft des erlauchten Gastes, die alle anderen Interessen verschlang. Während der Tafel konnte Egon nichts Beunruhigendes an ihm entdecken. Mißvergnügt sah der Bräutigam und Erbe ja gewöhnlich aus. Wie! wenn Helene – wer mag bei ihr die Gründe errathen? – geflunkert hätte? Jedenfalls kam das königliche Zwischenspiel, weil es Entschlüsse und Aufschlüsse hinausschob, Egon erwünscht.
Nach aufgehobener Tafel plauderte der Monarch noch recht leutselig mit Diesem und Jenem, am längsten mit seinem Wirth und dessen zukünftiger Schwiegertochter. Als der Fürst des glücklichen Bräutigams nähere Bekanntschaft zu machen wünschte, war Richard – wie es auch schon vor der Tafel der Fall und nur in der Aufregung der ersten Viertelstunde übersehen worden war – nicht da. Egon, der sich in der Nähe der Drei gehalten, sprang vor und entschuldigte den »plötzlich Unwohlgewordenen«. Seine Majestät bedauerten, der Graf biß sich zornig in die Lippe.
Dann begab sich der Fürst in seine Gemächer. – Er hatte den Grafen, der ihm mit Wachsfackelträgern das feierliche Geleite gab, in Gnaden entlassen und wandte sich jetzt an Burg und den Adjutanten.
»Sie müssen noch bleiben, meine Herren,« sagte er mit frischem, fröhlichem Ton. »Helmburg liegt schöner, als Schwaneck … Ob der Mond scheint?« Er ging ans Fenster. »Oh! treten Sie näher, meine Herren! sehen Sie dort? – Eine neue Ueberraschung!«
Dort über der Kirche auf hohem Bergesgipfel leuchtete eine Flammengarbe: das Freudenfeuer auf dem Mönchstein.
Der König blickte eine Weile schweigend in die Landschaft. Dann kehrte er sich, plötzlich ernst, nach dem Legationsrath um. »Und über diese friedlichen Thäler soll ich, ich selbst die Schrecken des Krieges rufen?«
»Majestät, diese Thäler dürften schwerlich die Wahlstatt sein.«
»Gleichviel; die Opfer nimmt der Krieg sich überall. Ich habe Sie nicht ohne Absicht hierhergebracht, Herr Legationsrath. Dieser Graf Helm ist ein Edelmann, ein Patriot. Lassen Sie uns hören, was er von der thätigen Rolle hält, die Sie – und ich vermuthe kaum mit Unrecht, Ihr Chef – im Kriegsfall **** zutheilen möchten. Ich weiß sie voraus, seine Meinung, aber Sie sollen sie aus seinem Munde hören, und ich sage Ihnen: die Majorität hier zu Lande denkt wie er … Doch – für heute keine Politik! – Wie heißt die Dame, die zu Ihrer Rechten saß? Nein, helfen Sie mir nicht! ich muß mich daran gewöhnen, Namen zu behalten … Fräulein Waldemar! nicht? – Eine Schönheit! … Uebrigens schienen Sie die Dame bereits zu kennen?«
»Eine Landsmännin, Majestät.«
»Ah, mein Compliment! Dann brauche ich nicht zu fragen, ob sie auch Geist hat –«
»Sie ist auch geistvoll, Majestät.«
»Eine Idee, lieber Baron!« wandte sich der Fürst lebhaft an den Adjutanten, »– und ich dulde keinen Einwurf! – Wir setzen uns zu Pferde, reiten nach Schwaneck, plündern meinen Gärtner und überraschen morgen die Damen mit Blumenspenden! Es ist Elf; um Zwei sind wir wieder zurück.«
Bald darauf klapperten die Pferdehufe über den Hof, den jetzt die Schatten der Wolken und Gebäude bedeckten.
Das königliche Lustschloß liegt im jenseitigen Thal …
Die von dort Zurückkehrenden, den König und seinen Begleiter, erschreckte am Himmel ein rother Schein. Sie ließen ihre Pferde ausgreifen, wo immer das Terrain es erlaubte. Endlich waren sie an der Stelle der Bergstraße angelangt, wo man auf Helmburg niedersah … Ein Anblick von grauenvoller Schönheit bot sich ihnen:
Schloß Helmburg stand in Flammen.