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O Sonne, du herrlichste Freundin des Menschen! Wie leuchten die Berge, wie lacht das Thal! Wie verschwindet alles Leid gegen die Fülle von Wohlthat, die mit deinen Strahlen über die Welt sich ergießt, und wer muß diese Welt nicht lieben, wann sie im Rosenschimmer des neu geschenkten Morgens liegt!?
Vielleicht ein Mann wie Richard, der die Gestirne sieht, ohne jemals der Ordnung, der Harmonie zu gedenken, womit sie sich bewegen! und doch würde Richard glücklicher sein, wenn man ihn gelehrt hätte, sein Wohl und Wehe an der Majestät jener himmlischen Gesetze zu messen – eine Vorstellung, welche nicht niederdrückend wirkt, sondern allein trösten, läutern, retten kann.
Aber zu dieser siderischen Schule ist es jetzt zu spät. Richard hatte sich seine eigene Welt geschaffen, eine Dämmerwelt schwankender Stimmungen, unklarer Empfindungen. Die Nacht entspricht ihr. Da versenkt er sich ganz in sich, bis ein dumpfer, ungesunder Schlaf ihn überfällt, in dessen Bann er meist der Kraft und Freudenfülle des Morgens verlustig geht.
Anders der alte Graf. Dieser stand mit der Sonne auf, warf sich sofort in die Kleider und wanderte – auch bei Wind und Regen – vom Leibjäger begleitet, hinunter nach dem Marktflecken, wo er oft schon eintraf, wann die Knechte auf die Felder gingen. Dort hörte er die Messe, denn in der Schloßkirche wurde nur das sonntägliche Hochamt gehalten, machte dem Landrichter, einem Frühaufsteher wie er, seinen Besuch und kehrte wieder heim – bei gutem Wetter mit vollster Gemächlichkeit, hin und wieder ein Wort an den Untergebenen richtend, immer aber in regen Gedanken an Haus und Hof, Land und Leute, es sei denn, daß ein Raubvogel das Jägerauge auf sich zog oder irgend Wer des Weges kam, der Anlaß zu nützlicher Frag' und Antwort gab.
Wald und Gebirg in der Morgenschöne, die Frische und der Wohlgeruch der Luft waren ihm stets und täglich neu ein Genuß: und ebenso wie diese Freuden frei von Eigennutz waren, denn nicht nur das kräftige Wachsthum und Gedeihen der eigenen Forste, sondern auch das durchgoldigte Wäldchen auf fernstem Bergesfirst erfreute ihn, so waren sie frei von Empfindsamkeit. Davon wußten Hirsch und Reh zu sagen.
Der Graf nannte seine Naturliebe Gottesfurcht.
Weit und breit aber wurde behauptet, daß der alte Herr unmittelbar nach der Morgenpromenade seine beste Laune habe. Und das war thatsächlich und auch heute der Fall – trotzdem ein recht unbequemer Gast seine Gedanken während des ganzen Heimweges beschäftigte: Helene.
Ein gefährliches Mädchen, hatte er sich schon am ersten Tage gesagt, viel zu schön und gescheidt, um nicht dem einen oder anderen seiner Neffen den Kopf zu verdrehen. Und gestern nahm er sich vor, ein ernstes Wort mit Herrn von Wiek zu sprechen. Aber an diesem schönsten aller Morgen verwarf er den Beschluß als unritterlich, hinterlistig, ja – er schonte sich nicht – als feig. Das hieße sie dem Onkel verdächtigen, und Mißtrauen in der Brust eines Alten ist schlimme Saat … Hierbei stieß er einen Seufzer aus.
Allerdings scheint sie ehrgeizig zu sein – und Ehrgeiz kennt keine Ehrfurcht; doch vom Wünschen zum Wollen ist immer noch ein Schritt, und zwischen dem Wollen und Erreichen eine Kluft. Deshalb ist es an ihm, verwegene Hoffnungen im Keim zu ersticken. Man spricht sich gegenseitig offen aus, und der Welt Ende müßte bevorstehen, wenn sein Wort der Tochter eines armen Abenteurers nicht imponiren sollte.
So mit sich einig, von der geheimen Sorge der letzten Tage fast befreit, betrat er den Schloßhof, und der Zufall, daß er eben sie, Helene, in der gewölbten Halle des unteren Geschosses lustwandeln sah, galt ihm als eine Fügung Gottes.
Helene, im weißen Musselinkleid, eine Rose, die Morgenhuldigung des jüngeren Holberg, im Haar, hatte bei der Annäherung des Grafen ebenfalls eine gewisse Taktik beschlossen.
»Finden Sie Helmburg nicht sehr einsam?« begann der Schloßherr, nachdem man sich höflich begrüßt hatte.
»Ich bin in dem, was man Einsamkeit nennt, aufgewachsen. Vielleicht eben deshalb kenne ich sie nicht.«
»Herr von Wiek hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich bewundere Sie. Ihre Erziehung beschämt jede Städterin. Der Norden ist überhaupt eine bessere Schule. Sie sind Protestantin?«
»Ja, Herr Graf.« Helene wußte jetzt, daß es auf eine Art Verhör abgesehen war, sonst hätte der Graf jene Frage nicht gethan, selbst einem armen Mädchen gegenüber nicht.
»Ich achte jede Religion,« versetzte er.
»Ich denke, wir haben eine und dieselbe.«
Der Graf biß sich auf die Lippe. »Ganz recht – ei freilich … die Confession ist gleichgiltig, auf die Religion kommt es an.«
Sie gingen währenddem in den breiten Gängen der Bogenhalle auf und nieder. Nach kurzem Schweigen sagte der Graf: »Sie haben eine wundervolle Aussprache. So klar, so musikalisch, und doch nicht singend. Ich höre seit einiger Zeit nicht gut, aber Sie verstehe ich immer … Unser Dialect klingt Ihnen wohl barbarisch? Ich meine den Dialect der niederen Leute.«
»Im Gegentheil; er heimelt mich an, ich finde ihn herzig.«
Das versöhnte den alten Herrn, obwohl er keine andere Antwort erwarten konnte.
»Sie müssen die Leute jodeln hören. Da ist Metall darin. Besuchen Sie doch einmal eine Sennhütte. Nur bitte ich, sich keine poetische Vorstellung von einer solchen zu machen. Die Landschaft ist herrlich, die Staffage dagegen … –« Er lachte still vor sich hin. »Sind Sie schwindelfrei?«
»Ich glaube es zu sein.«
»Dann sollen Sie den Mönchstein besteigen. Mein Jäger wird Sie begleiten. Der kennt zehn Stunden im Umkreis jeden Weg und Steg. Ich auch, aber ich bin zu Bergpartien nicht mehr rüstig genug.«
»Herr Graf, Sie wollen ein Compliment hören!«
Er blieb stehen, blickte ihr voll ins Gesicht und sagte: »Machen Sie mir eins.«
Helene sah, wie sie flüchtig erröthete, entzückend aus.
»Womit beginn' ich und wo fände ich ein Ende!« antwortete sie.
»Oder wissen Sie was?« fiel der Graf mit echt süddeutscher Redewendung ein, »sagen Sie, was Sie Böses von mir denken!«
»Ich halte Sie wie Herrn von Wiek für den nachsichtigsten aller Verwandten.«
»Das ist ein Stich auf meine Neffen. Ja, die sind Beide schlimm, jedenfalls der Jüngere. Sie haben wohl viel von ihm zu leiden?«
»Ich wüßte nicht –«
»Er hat ein Mundwerk wie – wie ein Berliner. Er will durchaus alle Frauenherzen brechen. Und wenn man ihm glauben dürfte, gelingt es ihm bisweilen.«
Er sagte es scherzhaft, doch Helene wußte, daß er es ernst meinte, und sie zwang ihn, Mehr zu sagen, indem sie schwieg. So fuhr denn Jener auch fort:
»Egon ist ein Sausewind. Leichtsinnig, verschwenderisch, rücksichtslos. Er lügt, ohne es zu wollen, denn sein Sinn ist veränderlich, Egon bleibt nicht von heut bis morgen sich treu. Glauben Sie ihm nie, wenn er sich Etwas vornimmt –«
Helene lächelte über diesen Diplomaten. »Wenn das Ihre Ueberzeugung wäre, würden Sie mir's nicht sagen.«
»Warum nicht? In der Jugend sündigt, im Alter warnt man … Da ist noch der Andere, mein Neffe und Erbe Richard. Kann man sich ungleichere Brüder vorstellen? Richard, das Herz von Gold – treu – fast möchte ich sagen, treu wie ein Pudel, aber auch melancholisch wie ein Trauerspiel. Gott sei Dank, Heirathen ist das beste Recept für Grillenfänger. Und was für eine reizende Frau er bekommt! Sie sehen, daß ich ohne Vorurtheile bin. Wanda ist eine Norddeutsche, lutherisch – thut Nichts. Gerade die Wahl gefällt mir. Meinen Segen haben Beide, und wenn es von mir abhinge, möchte der Priester morgen Amen sagen. Apropos: Auf der Hochzeit bitte ich mir den zweiten Tanz mit Ihnen aus. Sie freuen sich doch auch?«
»Von ganzem Herzen.«
Weil er sie forschend ansah, wiederholte sie: »Von ganzem Herzen.« Sein Antlitz wurde strahlend.
»Wie man sich oft im Menschen täuscht!« rief er treuherzig. »Nun kann ich's ja sagen: Ich hatte ein Vorurtheil gegen Sie …«
»Das hat man gegen uns Arme immer.«
»Ah bah – ich frage nie, hat er oder hat sie Geld? Ich bildete mir ein, Ihr Verstand wäre auf Kosten des Gemüths so immens. Aber dem ist nicht so. Sie sind ein seelengutes Mädchen.«
Er bot ihr jetzt voll Galanterie den Arm.
»Wenn es Ihnen doch hier gefallen möchte!« plauderte er im Weitergehen. »Freilich – das Meer, das Meer wird Ihnen fehlen … Stellen Sie sich vor: Ich war noch nie an der See. Ich bin nur ein Mal außer Landes gewesen. Anno Vierzehn, als Freiwilliger in meines Königs Armee. Ich war noch blutjung, allein es galt dem Ende der Franzosenwirthschaft. Das machte mündig. Mein seliger Vater war übrigens Napoleon niemals hold. Bonaparte? Malaparte! pflegte er zu sagen. Was kann von der Revolution Gutes kommen! … Bei Hanau war's, wo ich mir die Epauletten verdiente. Leider erging es mir wie unserem Feldmarschall: Ich erhielt bei unserem letzten Angriff an der Kitzingbrücke eine Kugel. Sonst wäre ich vielleicht nach Paris gekommen … Aber wovon ging ich aus? Wir Alten haben die üble Gewohnheit, schwatzhaft zu sein, und Sie, mein liebes Fräulein, besitzen das seltene Talent, zuhören zu können.«
Graf Helm blickte der Lächelnden wieder ins Antlitz, doch nur noch wohlwollend und gut. Sie erschien ihm mit jeder Minute schöner. Eine vollkommene und doch keine sogenannte kalte Schönheit.
»Sie haben schon so früh einen Spaziergang gemacht, Herr Graf?«
»Ja, wenn man eine heilige Pflicht so nennen darf. Ich höre an jedem Morgen im Marktflecken die Messe.«
»Liest der geistliche Herr sie, der gestern hier gewesen?«
»Ja, unser Pfarrer.«
»Dem sieht man die Bravheit beim ersten Blicke an. Er ist gewiß ein Seelenhirt im wahren Sinn.«
»Das will ich meinen,« fiel ihr Begleiter voll Eifers ein, »und es freut mich, daß gerade Sie das erkannten und anerkennen.«
»Und wie herrlich war sein Spiel auf der Orgel!«
»Er kann Alles! Er ist ein Phänomen, unser Pfarrer! Und gelehrt – er nimmt es mit jedem Professor auf … Er ist auch mein Bibliothekar,« setzte er voll Genugthuung hinzu.
»Sie haben gewiß eine sehr große Bibliothek?«
»Groß? – das wohl nicht – aber sie enthalte einige sehr seltene Werke, meint unser Pfarrer. Wenn es Sie interessirt – Jedenfalls wird der Saal Ihnen gefallen. Kommen Sie! Da der Herr Bibliothekar nicht anwesend ist, werde ich die Honneurs machen.«
Graf Helm gab alljährlich eine gewisse Summe für Bücher aus und glaubte wie mancher andere große und kleine Herr, sich damit das Recht zu erkaufen, die Bücher nie zu lesen. Nichtsdestoweniger war er stolz auf seine »Bibliothek«, denn sie war zugleich der Ahnensaal.
Die Einladung wurde von Helene dankbar angenommen; sie stiegen zwei Treppen hoch, gingen durch einen langen Corridor, an mehreren Thüren vorüber und traten endlich, links sich wendend, denn der Saal lag im Seitenflügel, in eine Art Vorzimmer ein. Dasselbe war weißgetüncht und mit einfacher Stuccatur. Um so isolirter erschienen die stark gedunkelten Bilder an den Wänden, die Porträts einiger Cisterzienser-Aebte aus Helmburgs Klosterzeit.
Der Schloßherr machte Helene darauf aufmerksam, daß die Bibliothek bei Tag und Nacht offen stehe, wie er denn überhaupt Nichts hinter Schloß und Riegel halte. »In unserer Gegend giebt es nur Wilddiebe,« versicherte er.
»Wie herrlich! wie großartig!« rief Helene aus, da sie durch die Flügelthür in die Bibliothek trat.
Ein gewaltiger Saal, durch hohe Rundbogenfenster mit Licht versehen, das durch die kleinen, leicht bemalten, in Blei gefaßten Scheiben gemildert ward. Ein mächtiger Ofen mit farbig glasirten Kacheln sprang inmitten der einen Wand weit ins Zimmer vor. Die Wände waren hoch hinauf getäfelt, oberhalb mit Ledertapeten bekleidet, Vergoldung und Malerei schmückten den reichgegliederten Plafond. Der Fußteppich und die Vorhänge an den Fenstern waren von warmen Farben, die Bücherschränke, nicht über Mannshöhe, trugen Bronzen, Glaspokale, Majoliken auf ihren Gesimsen. Nichts war kleinlich, Nichts eitel Tand und Spielwerk, wie denn auch die Tische und Stühle, aus schwarzgebeiztem Eichenholz und mit fransenbesetzten Sammetpolstern, stattlich und gediegen in der Form waren. An Waffentrophäen fehlte es nicht, aber der bedeutendste Wandschmuck waren, wenigstens für den Besitzer, die lebensgroßen Ahnenbilder, die aus dunklen Rahmen ernst auf ihn niederblickten.
Graf Helm trat an eins der Fenster und öffnete es. Man sah aus ihnen thalwärts, über die Baumkronen des Abhangs hin das freundliche Dorf inmitten der Felder und Wiesen, den Wall von Bergen, in fernster Ferne im Felsenrahmen den Spiegel eines Sees.
»Die Aussicht ist schön,« sagte der Graf, »und doch,« setzte er hinzu, indem er, in den Saal zurückgewendet, dem farbigen Sonnenstreifen folgte, der auf die Bilder fiel, »auch der Blick erfreut das Herz! ich meine den Blick auf Jene dort. Sie waren alle Edelleute im höchsten Sinne. Ich würde das Bild Keines hier dulden, von dem ich wüßte, daß er der Helm'schen Tradition und unserem Wahlspruch untreu gewesen. Jede Familie hat dergleichen unwürdige Glieder, die unsrige, Gott sei Dank, nur wenige.«
Helene fand, daß der Graf, seitdem er den Saal betreten, wieder ernst geworden sei und mit einem gewissen Pathos spreche, das ihm sonst nicht eigen war.
»Der hier,« sagte er, vor das Bild eines Greises in der Tracht des siebenzehnten Jahrhunderts tretend, »der ist der Bedeutendste, der Rath und Freund des Kurfürsten Ferdinand, der Stifter des Helm'schen Majorats. Es sind Weihestunden, die ich unter seinem Bilde verbringe, und das hier ist meine liebste Lectüre.«
Damit nahm er ein kostbar gebundenes Buch vom Täfelgesims unter dem Bilde und reichte es Helenen dar. Sie las das Titelblatt:
Geschichte des Geschlechts von Helm. Verfaßt von Franz Nepomuk Vieracker, Pfarrer in Helmburg.
»Ich habe die Geschichte meiner Vorfahren von unserem Pfarrer schreiben und in einigen Exemplaren drucken lassen. Der größte Theil handelt von Dem über uns, und Alles, was sich auf seine Stiftung bezieht, finden Sie darin urkundlich. Es ist erstaunlich, wie klug, wie fürsichtig mein Ahn seine Bestimmungen getroffen hat. Gebe der Himmel, daß sein Geist auch auf die neue Linie übergeht!«
»Ich werde mit Ihrer Erlaubniß das Werk lesen, in diesen herrlichen Räumen lesen, wo es an der würdigsten Stelle ist.«
Der Graf berührte leise die Wange Helenens.
»Sie machen mir damit eine Freude und mehr, als das, Helene: Denn vielleicht gewinnen Sie mich alten Mann um meiner besseren Vorfahren willen lieb und unterstützen mich in meiner letzten und heiligsten Aufgabe … Gott hat mir das Glück, eigene Kinder zu besitzen, versagt, so gehen nach meinem Tode Besitz und Name auf meinen älteren Neffen über. Begreifen Sie da die Sorge um ihn, ermessen Sie den Kummer, den ich haben würde, wenn ich sähe –«
Er verstummte, fühlend, daß die Empfindung ihn übermannen werde.
Aber Helene warf noch einen Blick auf das Buch, welches der Graf wieder auf das Gesims zurückgelegt. Es interessirte sie jetzt in Wahrheit sehr, dies Buch.
Wie sie den Saal verließen, bot Graf Helm seiner Begleiterin nicht mehr den Arm. Er blickte vor sich, seine Haltung war soldatisch gerade, und fest sein Tritt.
Die Tage vergingen den Gästen auf Helmburg ungleich, so Wanda langsam, Helenen dagegen zu rasch, indem erstere ihre Hochzeit herbeisehnte, welche Helene so gerne aufgeschoben wüßte. Das Betragen Richard's erweckte der Einen Furcht, der Anderen Hoffnung – jedenfalls war es fragwürdig. An manchem Tage kam er nur auf wenige Stunden zum Vorschein und war dann verdrießlich, reizbar und widerspruchsvoll. Seine angeblichen Leiden bildeten das Lieblingsthema seiner Unterhaltung und schienen ihn auch ausschließlich zu beschäftigen, wann er allein war. Denn die Zahl medicinischer Schriften, die er ohne Wahl sich kommen ließ und las, war erstaunlich. Unfruchtbar konnte diese wunderliche Lectüre insofern nicht genannt werden, als er in jedem Werke, des Fachgelehrten wie des Quacksalbers, irgend eine Anwendung auf sich entdeckte. Eben deshalb fehlte es der Diagnose, die er sich selber stellte, nicht an Abwechselung. Komisch wirkte es, wenn er zuweilen bei Tafel über Appetitlosigkeit klagte, eben während er einen ganzen Kapaun allein verzehrte.
Er war nicht zärtlich gegen seine Braut, aber auch viel zurückhaltender, förmlicher, als früher, gegen Helene. Diese benahm sich sowohl ihm, wie Egon gegenüber tadellos. Nur vor den Augen der Welt, versicherte Mademoiselle Sophie ihrer Gebieterin, denn wenn sie nicht wenigstens den einen Bruder insgeheim durch kokettes Mienen- und Wortspiel ermuthigte, sei die Ausdauer, womit der flatterhafte Egon ihr den Hof mache, nicht zu erklären. Wanda lieh jeder mißgünstigen Einflüsterung über ihre Cousine nur zu gern ihr Ohr. Sie war eifersüchtig auf Helene und deshalb auch mit Richard's kalter Höflichkeit gegen dieselbe nicht zufrieden. Und hatte sie ihn nicht neulich über einem wärmeren Blick auf das schöne Mädchen ertappt? Gewiß, sie glaubte an ihn, felsenfest an ihn, aber – –
Nur wenn Richard in den innigeren Tönen von ehedem mit seiner Braut redete, war sie mit Gott und aller Welt und selbst mit ihrer Base ausgesöhnt. Dies war an einem Abend der Fall, da sie alle beim Pfarrer zum Besuche waren.
Noch war die Luft lind und warm, obschon der Abendstern am Himmel blinkte. Die Gesellschaft saß in einer Laube des Gartens, der zwischen Pfarrhaus und Kirche lag, und man plauderte von Mancherlei, schließlich wurde das Gespräch ein politisches. Egon wollte durchaus Krieg, mit wem – war ihm gleichgiltig, Herr von Wiek stimmte seinem Monarchen ein Loblied an, aber der Graf und der Geistliche wollten von einer Verbrüderung mit dem Norden Nichts wissen.
Richard nahm keinen Antheil an dem Disput. Er hatte heute schon eine Felsenwand erklommen und keinen Anfall von Schwindel verspürt. Das war ihm wichtiger, als das Wohl und Wehe sämmtlicher Staaten: er fing zu glauben an, daß die Alpenluft doch Wunder an ihm wirken werde, und trug den Kopf hoch und war bereit, sofort nach dem nächsten Gletscher aufzubrechen.
Wanda, mit Freude entdeckend, daß ihr Verlobter dem Streit der Uebrigen nur ein halbes Ohr schenkte, zog ihn mit sich in den Garten, wo Beide zwischen den Blumenbeeten mit Levkojen, Astern, Zinnien und Georginen auf und nieder wandelten. Wanda war stolz, dem Geliebten die Blumen sogar lateinisch nennen, die Eigenthümlichkeit und Schönheit einzelner Exemplare zeigen zu können. Indem sie den Geschmack und Reichthum des Gärtners pries, bewies sie sich selbst als Kennerin.
Noch blühte es rings, wenn auch nicht mehr in der ersten Sommerpracht, noch glühten die Bourbon- und Noissetterosen im üppigen Laube. Waldrebenguirlanden, die von Stamm zu Stamm sich schwangen, und Buschwerk verbargen das Paar den Blicken der Gesellschaft. Zuletzt gelangten sie an eine niedrige, dicht von großblättrigem Epheu überwucherte Mauer und sahen über die Brüstung in einen anderen Garten – den Friedhof. Wanda schmiegte sich fest an den Geliebten.
Hoch über ihnen trillerte eine Lerche. Und da, bei dem Anblick der Gräber, wallte in Richard das Gefühl der Lebenskraft warm empor, er zog Wanda an seine Brust und bedeckte ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen, welche sie mit der unschuldigen Seligkeit einer liebenden Braut erwiederte.
Von der Gluth dieser Küsse strahlte noch ihr Blick, da man längst ins Schloß zurückgekehrt war und sich mit dem Gutenachtgruß getrennt hatte, viel zu früh für Wanda, welche in dieser herrlichen Nacht am liebsten gar nicht geschlafen hätte. Fräulein Sophie, sogar Helene mußten ihr daher Gesellschaft leisten.
So waren denn die drei Mädchen noch zur späten Stunde wach und munter im Zimmer Wanda's. Diese, schon im bequemen Nachtgewand, ruhte in einem ungeheuren alterthümlichen Armstuhl, während Mademoiselle mit eingewickelten Locken ihr zu Füßen auf einem Schemel saß. Helene hatte gegenüber auf dem Sopha Platz genommen.
Das Gespräch, erst heiter bis zur Ausgelassenheit, gewann, Dank der romantischen Sophie, zuletzt einen ernsteren Charakter. Dieselbe erfreute sich nämlich der Gunst der alten Castellanin und wurde von ihr täglich mit Geschichten aus der Vergangenheit und Gegenwart des Schlosses und Fleckens unterhalten. Heute hatte sie in Erfahrung gebracht, daß die Helmburg auch ein Gespensterzimmer habe. Drüben, im anderen Flügel, im Bibliothek- und Ahnensaal würde es allnächtlich um zwölf Uhr plötzlich hell. Dann sitze, nach der festen Ueberzeugung der sämmtlichen Schloßleute, ja selbst des Herrn Grafen, der vor so und so vielen Jahrhunderten verstorbene Majoratsherr leibhaftig dort in einem Lehnstuhl und studiere in den alten Urkunden.
»Ich glaube natürlich nicht an Gespenster,« schloß Sophie ihre Mittheilung, »aber romantisch und gruselig klingt dergleichen doch.«
»Wie können Sie mir das erzählen!« rief Wanda, obzwar sie der Geschichte mit größter Spannung zugehört hatte. »Ich fürchte mich ohnehin in dieser ungemüthlichen Ritterburg. Wenn ich Richard's Frau bin, lasse ich den Flügel niederreißen.«
»Wegen des Gespensts?« spottete Helene.
»Gewiß; ich glaube nun einmal an Gespenster. Ich kann Dir schwören, daß ich in Wiek in einer grauenvollen, stürmischen Nacht ein Gespenst gesehen habe. Es sah wie eine alte Frau aus und wärmte sich die Hände im Kamin, obwohl kein Feuer brannte. Ich lag wach im Bett und beobachtete es ganz deutlich – wenigstens fünf Minuten lang.«
»Das muß fürchterlich schön gewesen sein,« sagte Mademoiselle, welcher es kalt über den Rücken lief.
Helene lächelte.
»Du glaubst es wohl nicht, Helene? Ei freilich, Du fühlst Dich über dergleichen erhaben. Aber ich weiß, was ich weiß, und ich bin überzeugt, daß die Geschichte vom Ahnensaal wahr ist. Und man könnte mir noch zehn solcher Schlösser schenken wie Helmburg, ich ginge nicht um Mitternacht in jenes Zimmer. Und Du aber auch nicht.«
Kaum hatte Wanda das letzte Wort gesprochen, schlug die Uhr auf dem Kaminsims Zwölf.
Mit dem letzten Glockenschlage nahm Helene ihre Lampe vom Tisch und sagte:
»Ich werde gehen.«
Sophie kreischte, Fräulein von Wiek war noch ungläubig.
»Du wolltest –«
»Ich bringe Euch ein Buch zum Beweise mit, daß ich droben war.«
Und bevor sich die beiden Anderen von ihrem Staunen erholten, war sie schon aus der Thür, eilte die Treppe hinan und betrat den öden, langen Corridor, durch welchen sie mußte, um nach dem anderen Flügel zu gelangen.
Weil sie keine Furcht kannte, so ging sie ohne Hast.
Ihr leichter Schritt weckte nicht den Wiederhall, nur ihr Gewand schleppte leise über die Fliesen.
Da – plötzlich hielt sie ein.
Grauenvolle Töne drangen an ihr Ohr. Ihr Blut stockte, ihre Augen starrten entsetzt.
Aber bald faßte sie sich und spähte.
Da stöhnte – da seufzte und schluchzte es wieder.
Aus jenem Zimmer! …
Sie trat geräuschlos näher und legte das Ohr an die Thür.
Und jetzt erkannte sie die Stimme –
Richard wohnte in diesen Zimmern.
Nach kurzem Lauschen stahl sich Helene wieder hinweg.
Sie fragte sich: Was bedeuten diese Klagen? was für Qualen foltern ihn? aber sie vergaß darüber weder den Zweck ihrer nächtlichen Wanderung, noch verfehlte sie den Weg. Schwebenden Fußes legte sie denselben zurück, so daß sie bald im Vorzimmer anlangte, wo der Schein ihrer Lampe die Bildnisse der Aebte an den Wänden lebendig machte. Da kam ihr plötzlich der Gedanke: Wie, wenn das Gespenst der Schloßsage Fleisch und Blut, etwa der alte Graf wäre, welcher in der Stille der Nacht seinen »Lieblingsautor« liest?! Was würde sie dem Grafen sagen?
In diesem Fall die Wahrheit.
Und sie öffnete die Bibliothekthür mit einem festeren Griff, trat mit Absicht geräuschvoller ein.
Ein Zugwind löschte ihr die Leuchte aus, so daß während der ersten Secunden tiefe Finsterniß sie umgab, aber bald lernte sie sehen, denn durch ein offenes Fenster blickte der mondhelle Himmel …
Niemand außer ihr.
Helene stellte die nutzlos gewordene Lampe auf den nächsten Tisch und trat ins Helle, um in die Lande zu sehen. Der Wald unter ihr zog sich schwarz hinab, während im Thal Mondlicht und Nebel einen schimmernden Seespiegel zauberten, aus welchem das Dorf gleich einer Insel ragte.
Minutenlang vernahm die Lauschende keinen Laut, doch dann hob in der Stille ein Posthorn zu tönen an.
Nur zwei Takte, in der Octave mit einer Fermate endigend.
Und nun wurde vom Gebirge her das Rollen eines Wagens laut, dessen Postillon der schlafenden Helmburg seinen Gruß sandte.
Zwar wußte Helene Nichts von der Romantik, die das Posthorn wachruft in mondheller Sommernacht, dennoch bemächtigte sich ein Sehnen ihrer Seele, fort, fort zu ziehen, ins ungenannte Weite, ins freie Land aus diesen Bergen fort, die ihre Schatten in die tiefste Seele werfen. Am Meeresstrand zog ihr Wunsch wie ein festlich bewimpeltes Schiff stolz dahin, in diesem Felsenkessel, in dumpfer Schwüle lag er brütend, ein wildes Thier, das vor dem Sprung sich niederduckt.
Was will sie erjagen? Das Glück. Winkt ein solches hier? Mit Richard? mit Egon? Ihr schaudert vor einem Leben mit dem Einen wie mit dem Andern. Das Bündniß mit Richard brächte sie in Kampf mit der Familie, Hand in Hand mit Egon aber ginge es vielleicht in noch tiefere Abgründe …
Doch wo wäre für ein Weib mit ihrem Ehrgeiz ein Glück ohne Kampf, ohne Opfer? Glück heißt Helenen Macht. Durch Richard könnte sie sich mit Eins auf die höchsten Stufen schwingen. Freilich was dann? und der Kluge fragt, was dann? – doch wer Kühnes will, darf nicht immer der Kluge sein.
Sie kehrte sich von dem friedlichen Bilde der Nacht jählings ab, suchte tastend der einen Wand entlang und fand das Buch, das sie wollte. – –
Nach wenigen Minuten trat sie bei Wanda ein, welche ihre Cousine erst fieberhaft, dann zweifelnd erwartet hatte und jetzt gähnend empfing.
»Warst Du oben?« fragte Wanda mit schläfrigem Blick.
» Waren Sie oben?!« rief ihre Gesellschafterin.
»Hier.«
Das Buch, das Mademoiselle begierig entgegennahm, war die » Geschichte des Geschlechts von Helm.«