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Der Marktflecken Helmburg liegt in einem breiten Thalkessel, das gleichbenannte Schloß dagegen hoch in den spitzkuppigen, grünen Bergen, welche das Thal im Süden abschließen und Vorberge sind für ein mächtigeres, in schroffen Wänden ansteigendes Kalkgebirge. So in stolzer Höhe und doch im Felsenabgrund, steil unter den Schneekanten, aus dem Tannenwald ragt das Schloß.
Wer vom Markte her die Straße kommt, die das Helmburgthal über die Bergrücken hinweg mit den jenseitigen Thälern verbindet, hat nach einstündigem Steigen das Schloß zur Linken. Durch das Gitterthor sieht er auf einen freien, geräumigen Platz, dessen Hintergrund die Schloßfaçade bildet; hier grenzt ein Seitenflügel des Palasts, dort eine Kirche ihn ein. Letztere, das älteste Monument des gewaltigen Ganzen, ist ein gothischer Bau aus dem vierzehnten Jahrhundert; zwei Thürme zeichnen ihre dem Platz zugekehrte Façade aus. Wo das uralte, im dreißigjährigen Kriege verwüstete Mönchshaus gestanden, erbauten die Grafen Helm, nachdem sie das ungeheure Grundstück an sich gebracht, den Palast, allein auch er wurde von einem gewissenszagen Erben den Cisterziensern als Wohnung eingeräumt und blieb es bis zum Anfang dieses Jahrhunderts. Er ist ein Renaissancebau mit gothischen Reminiscenzen. Eine Säulenarkade schmückt das untere Geschoß, im Innern befinden sich schöne Treppen, gewölbte Festsäle und prächtige Portale.
Der gegenwärtige Besitzer der Helm'schen Majoratsherrschaft wohnt seit dem Tode seiner Frau auf Helmburg, die übrigen Güter sind verpachtet, sein Palais in der Stadt steht leer. Der Kinderlose, Sechzigjährige findet nur noch an der Jagd Vergnügen; an den Nachmittagen ruft seine Büchse das Echo in den Felsen wach – sonst wird die Einsamkeit und Stille der Bergnatur wenig gestört. Das Schloß ist eine Einsiedelei, wenn auch eine prächtige; die nachbarlichen Gutsbesitzer nennen es »die verwunschene Burg«, die Dörfler aber immer noch »das Kloster«, und wie im gepflasterten Hofe da und dort Gras zwischen den Quadern wuchert, so fehlt es auch im Innern nicht an Spuren der Verwaisung und Verödung.
Selbst die Ankunft der Gäste brachte nur ins Einerlei der Tagesordnung Abwechselung, aber nicht Lust und Leben in die Räume. Das bewohnte Rechteck und die Kirche an dem großen, kahlen Platz liegen im grellen Sonnenlicht wie verzaubert, und im Dunkel der Nacht erscheinen die gewaltigen Steinmassen trotz der Reihe erleuchteter Fenster düster, ungeheuer, drohend.
»Sei der Himmel uns gnädig,« sagte Egon schon am ersten Tage zum Bruder. »Stell' Dir das Leben hier vor, wenn es regnet!«
Richard, während der Fahrt durch die anmuthigeren Gegenden von heiterster Laune, verfiel unter dem Bann dieser ernsten Umgebung dem finstern Geist, dem eitle Trübsal Nahrung ist.
Papa Wiek dagegen, welchen die Reise mehr erschöpfte, als er eingestand, pries sich glücklich, wieder in einem Lehnstuhl sitzen zu können und andere Kost zu haben, als Wirthshauskost. Seine Tochter und die Gesellschafterin fanden das Schloß höchst romantisch, also vorläufig wundervoll.
Helene aber betrachtete den Aufenthalt ausschließlich von der praktischen Seite; für sie hatte nur der Schloßherr Interesse, und allein die Sorge, wie ihr Verhältniß zu ihm sich gestalten werde, beschäftigte sie. Werde ich ihn beherrschen, fragte sie sich, wie den gutmüthigen Wiek, den energielosen Richard? und forschte in seinem noch kräftig gefärbten, wenn auch runzeligen Gesicht … Graf Helm hörte schwer; im geselligen Verkehr deshalb zu großer Aufmerksamkeit gezwungen, hatte er den Mund offenstehend und die Augenbrauen emporgezogen, wie es auch blöder Menschen Gewohnheit ist. Aber er war weder geistlos, noch von nachgiebigem Charakter, gottesfürchtig und wohlthätig, aber auch stolz auf seine Abkunft und ein Enthusiast für die Standesehre. Von jener Ritterlichkeit gegen Damen, die auch dem Greise wohl ansteht, machte er doch einen Unterschied zwischen Fräulein von Wiek und Helene Waldemar, was der letzteren nicht entging. Sie war bald mit sich einig, setzte Stolz dem Stolz entgegen, und gerade darum gestaltete sich der Verkehr zwischen diesen Beiden zum höflichsten, den man sich denken kann. Doch heimlich beobachtete Helene den Alten und erkannte aus allen Anzeichen, daß seine Neffen, die Schwermuth des Einen und der Leichtsinn des Anderen, ihm Herzleid verursachten.
Am vierten Tage machte man einen Ausflug ins Thal und kehrte, vom Helmburger Pfarrer begleitet, zum Mittagsmahl heim, das bis zum Abend sich hinzog. Das Gespräch kam auf die Kirche, und der Pfarrer, ein tüchtiger Musiker, rühmte den herrlichen Klang ihrer Orgel. Man beschloß, nach aufgehobener Tafel die Kirche zu besichtigen und das Orgelspiel des Geistlichen zu hören.
Sowie die kleine Gesellschaft durch das spitzgiebelige Portal in die Kirche trat, dämpften sich die Stimmen zum Flüsterton. Graf Helm und die Holberge waren Katholiken. Die Uebrigen betrachteten den Tempel mit der Theilnahme, die das Neue, und mit der Scheu, die das Fremde einflößt. Zwischen den dichtgedrängten Pfeilern leuchtete das rhythmisch wechselnde Roth und Blau der bemalten Fenster, oben von den Gewölbkappen blinkten goldene Sterne auf blauem Grunde; doch das hellste, wenn auch immer nur gedämpfte Licht waltete im Chor, welcher mit einigen Stufen über das Langhaus sich erhebt.
Die Damen und Herren schritten langsam bis zur Steinbrüstung am Chor, nur Herr von Wiek ließ sich in einem reichgeschnitzten Beichtstuhl nieder.
Da begann der Pfarrer auf dem Empor über dem Eingang zu spielen. Das gestirnte Gewölbe füllte sich mit sanften Orgeltönen, sie schienen aus dem Azur niederzuschweben, dann schwollen sie mächtiger an, und wie der Geistliche mit vollem Werke schloß, schwang sich die Kraft der Töne hinauf und hinab, dröhnte um die Säulen und brauste wie ungestüme Sehnsucht durch das Mittelschiff zum Hochaltar.
Der ältere Holberg stand zwischen Helenen und seinem Oheim. Eine eigenthümliche Bewegung bemächtigte sich seiner, da die Orgel tönte, und plötzlich sank er auf den Chorstufen in die Kniee, legte die Arme über die Brüstung und barg schluchzend sein Haupt …
Seine Braut und Mademoiselle wurden mit gerührt, Egon sah wieder die Folgen des unmäßigen Kaffeetrinkens, und Graf Helm schüttelte halb mitleidig, halb unwillig den Kopf, nur Helene blickte den Weinenden verächtlich von der Seite an und hatte sofort den rechten Namen für diesen unerwarteten Gefühlserguß eines reifen Mannes: sie schloß von dem starken Affect auf das schwache Gemüth.
… Sobald die Musik verstummte, faßte, beruhigte sich Richard, ja, er blickte heiter und wurde beredt, als sie wieder im Freien waren. Wanda hing sich an seinen Arm und schaute mit schwimmenden Augen zu ihm auf, der ihr nach der Scene in der Kirche ungemein poetisch erschien.
Man schlenderte gemächlich über den Schloßhof und ging eine Strecke weit bergab. Die Gipfel der östlichen Berge standen angeglüht, während um andere Gebirge blaue Abendschleier zogen.
Egon hatte Helenen den Arm geboten. Weiter zurück folgten der Pfarrer und Mademoiselle Sophie, und als letztes Paar der Graf mit Herrn von Wiek.
»Wie gefiel Ihnen mein Bruder vorhin?« fragte Egon. »Ist es nicht rührend, wenn ein Cyklop wie er hinkniet und weint?«
Helene gab eine ausweichende Antwort. »Ich glaube nicht,« sagte sie, »daß Orgeltöne jemals auf Sie einen ähnlichen Eindruck machen werden.«
»Da mögen Sie Recht haben. Ich bin über Dergleichen hinaus. Ja – der Schwarzrock hört uns ja nicht – Orgeln und Glocken sind mir unausstehlich. Du lieber Gott, das Leben ist kurz, und die Erde kein Jammerthal. Sie verstehen mich – Sie sind viel zu gescheidt, um nicht aufgeklärt zu sein. Aber verrathen Sie das dem Onkel, das heißt, meinem Onkel nicht! Der haßt die Aufklärung. Nicht aus religiösen, sondern aus politischen Gründen. Wir, die wir Nichts haben, als unseren klaren Verstand, sind freilich mehr oder minder alle revolutionär.«
Helene lächelte zu der treuherzigen Unverschämtheit. »Ich nicht,« versetzte sie. »Ich wäre stolzer, als irgend Eine, auf Geburt und Besitz.«
Er warf einen schlauen Blick auf seine Begleiterin.
»Also despotische Gelüste? Begreife auch das. Und Sie sind in der glücklichen Lage, dies Alles noch erringen zu können. Sie brauchen nur mit dem kleinen Finger zu winken, mit dem rosigsten aller kleinen Finger …« Er ergriff verstohlen die Hand, die auf seinem Arm ruhte, und drückte, obzwar sie den rosigen Finger unterm Handschuh verborgen hatte, einen Kuß darauf. Helene zog sie sehr sanft zurück, lachte leicht und aber blickte ihm tief in die Augen.
»Wissen Sie, was Sie sind?« fuhr er mit verhaltnem Feuer fort. »Ein Dämon sind Sie, oder sagen wir, eine Fee! eine Zauberin! Liegen wir nicht Alle schon zu Ihren Füßen? Mein Bruder auch.« Er stieß den eigenthümlichen Lacher aus, der seine blinkenden Zähne zeigte.
Helene kannte bereits den Ton, den man mit seines Gleichen anschlägt.
»Sie sind ein Geck,« erwiederte sie. »Ihr Bruder, der eine so reizende Braut besitzt –«
»Reizend – das ist eins von den Wörtern, die Alles und Nichts sagen. Sehen Sie doch die Kleine an, reden Sie mit ihr! Mein Bruder, der Millionär, wird mit ihr eine Null mehr haben, aber vor der Eins.«
»Man muß sich vor Ihnen in Acht nehmen. Sie sind medisant.«
» Sie behalten freilich Ihre Gedanken für sich, aber ich möchte mich um alle Welt nicht vor Ihnen lächerlich machen! wie, zum Beispiel, der gute Richard vorhin.«
»Ich rede nicht mehr mit Ihnen.«
»Helene, Wanda!« rief Herr von Wiek hinter ihnen. Er verspürte die Abendkühle und drängte zur Heimkehr.
Nach dem Thee, welchen man im kleinen Speisesaal trank, setzten sich der Graf, Egon und der Geistliche an den Spieltisch. Papa Wiek bat seine Tochter um einige Klavierstücke, wahrscheinlich um den Schlaf, der im Beichtstuhl von kurzer Dauer gewesen, bei den gewohnten Klängen des Pianinos fortzusetzen. Auch Richard fühlte sich nach der mäßigen Bewegung im Freien müd und abgespannt. Er rückte einen Lehnstuhl in den Schatten, hörte mit halbem Ohr auf die Musik und folgte mit den Augen den Bewegungen Helenens. Diese blieb eine Weile lauschend auf der Schwelle des anstoßenden Saals stehen und wandelte dann langsam durch die Reihe prächtiger Gemächer. Drei, vier waren glänzend erleuchtet, dann kam ein dunkler Raum, des Grafen Arbeitszimmer. Helene setzte jedes Mal ihren Gang bis dahinein fort und kehrte dann wieder an den Eingang des Speisesaals zurück. Wann sie gesehen wurde, schwebte ein berückendes Lächeln um ihren Mund, aber sobald sie den Blicken der Gesellschaft entzogen war, wurde ihr Gesicht ernst und nachdenklich.
Einmal trat sie an den Tisch im zweiten Salon, wo Wanda's Gesellschafterin in einem Album blätterte.
Mademoiselle Sophie war um einige Jahre älter, als Helene; sie erschien, ein kleines Persönchen mit spitzen Zügen und eckigen Formen, neben der hohen, classisch schönen Anderen noch winziger, und altjüngferlich und zofenhaft.
»Ich habe Ihnen Grüße zu bestellen, Fräulein Waldemar.«
»Mir?«
»Ja, Herr Titus empfiehlt sich Ihnen. Sie müssen nämlich wissen, daß ich mit ihm verlobt bin. Es geschah brieflich. Das überrascht Sie!? Ja, es ist eben noch tiefes Geheimniß und soll's vor der Hand bleiben. Sie verstehen mich.«
»Warum schenken Sie gerade mir Ihr Vertrauen?«
»Weil Etwas im letzten Briefe des guten Titus steht, das ich Ihnen sagen muß. Was aber würden Sie von solchem Briefwechsel denken, wenn wir nicht Brautleute wären?«
»Was steht in dem Brief?«
»Jemand interessirt sich für Sie. Ein sehr gescheidter und auch hübscher Mann. Zwar nur bürgerlich, aber angesehen und einflußreich.«
»Der Legationsrath?«
»Ei, wie Sie roth werden! Ja, Herr Legationsrath Burg, der Chef meines Bräutigams. Er habe wiederholt von Ihnen gesprochen, schreibt Titus, und das wolle Viel sagen, da er sonst sehr kühl und verschlossen und ablehnend sei. Er – der Legationsrath – bewundere Sie. Nun, sind Sie nicht erfreut?«
Helene blickte einige Secunden lang sinnend vor sich nieder. Dann warf sie stolz den Kopf zurück und sagte: »Das sind Thorheiten.«
»Je nun, wer weiß! Soll ich in meinem Briefe Nichts von Ihnen berichten?«
»Nichts, mein liebes Fräulein …… Wann gedenken Sie zu heirathen?«
»Wenn Gott uns am Leben erhält, übers Jahr am ersten April. Der erste April ist nämlich mein Geburtstag.«
»Lieben Sie Herrn Titus?«
»Gewiß, er ist ein sehr gebildeter, sehr achtbarer junger Mann.«
»Sie nehmen Ihre Herzensangelegenheiten recht vernünftig. Ich hatte Sie im Verdacht, eine kleine Schwärmerin zu sein.«
»Nun ja, ich schwärme wohl für Mancherlei, zum Beispiel für das Landleben, für Fräulein von Wiek, für Gedichte. Ich finde die Liebe, wie sie in Romanen geschildert wird, himmlisch. Aber in der Wirklichkeit hat sie eine praktische Seite, namentlich für uns. Ach, wir Armen!«
Helene sah wiederum vor sich hin. Dann sprach sie: »Wanda spielt heute mit besonderem Feuer.«
»Weil sie verliebt ist. Und wie wär' es anders möglich! In der Kirche heute – war es nicht rührend? Der gute Herr von Holberg.«
Helene ließ sich nicht weiter hierauf ein, sondern setzte ihren Gang durch die Zimmer fort. Im Dunkeln trat sie in den Erker und blickte in die sternenlose Nacht hinaus, die Alles verschlungen hatte, in den Abgrund von Finsterniß, aus dem auch nicht ein Waldesrauschen drang.
Aber Helene sah andere Sterne blinken.
Und sein Bruder auch, wiederholte sie sich, was der jüngere Holberg gesagt. Wenn ich wollte – Wäre denn das Unrecht an Wanda so groß? Was wird sie aus ihm machen? Er wird ihre kleinlichen Launen ertragen, Ihre albernen Wünsche erfüllen, Ihre nichtigen Lebensloose theilen, ich dagegen würde ihm Feuer, Muth, Ehrgeiz geben, würde ihn zum Manne stählen, ihn mit mir auf die höchsten Stufen heben. Ich finde Gold, wo Wanda ewig nur taubes Gestein haben wird. Wär's also Unrecht, wenn ich –
Sie richtete sich horchend auf …
Jemand trat ins Zimmer, sie hörte die vom Teppich gedämpften hastigen Schritte. Eine Gestalt irrte im Dunkel dorthin, dahin; sie näherte sich dem Erker. Helene blieb unbeweglich, aber schon legte sich eine Hand auf ihren Arm.
Richard hatte sie entdeckt …
»Ich suchte Sie.«
»Wünscht Wanda Etwas von mir?«
»Nein. Wanda spielt noch. Hören Sie!« Und allerdings war der Klavierlärm auch hier noch aufdringlich genug.
Helene hatte sich erhoben. An Richard vorbei konnte sie nicht, seine Hünengestalt stand vor dem Erker wie eine Mauer.
»Man hört hier schlecht. Ich will in den Salon zurück.«
Er rührte sich nicht. »Warum gingen Sie fort?«
Helene mußte über die Frage lachen. Sie wäre doch wahrhaftig nicht weit gegangen, meinte sie.
»Wollten Sie allein sein?«
»Vielleicht!« lautete die mit einiger Ungeduld gegebene Antwort.
»So störte ich Sie?«
»Vermuthen Sie – aus Träumen? Ich träume nicht. Lassen Sie uns zur Gesellschaft zurückgehen.«
»Aber ich habe Ihnen Etwas zu sagen.«
»Ich rede gern Aug' in Auge.«
»Was ich Ihnen sagen will –«
»Können Sie mir ja ebenso gut vor Wanda sagen.«
Eine Pause. Dann hob Richard wieder an. »Sie verspotten mich. Ich verdien' es … Geben Sie mir Ihren Arm.«
»Ich sehe,« entgegnete Helene und schlüpfte an ihm, der in den Erker getreten war, vorüber. Sobald sie in lichten Räumen sich befand, schritt sie ohne Hast.
Richard folgte ihr nicht …
Fräulein von Wiek war ganz bei den Noten, der junge Holberg beim Whist. »Coeur und nochmals Coeur!« rief er soeben. Nur Graf Helm blickte über die Karten hin auf die Eintretende und von ihr nach der Thür. Helene verstand den Blick, doch der bittere Zug, welcher um ihren Mund sich zeigte, verschwand sofort, und sie hatte das holdeste Lächeln, da sie, neben den Stuhl Wanda's tretend, ihren Arm leicht um deren Nacken legte.
Wanda ließ sich im fortissimo nicht stören. »Eins – zwei. Eins – zwei,« zählte sie, ohne Erbarmen gegen Tasten und Pedal.
Nachdem die letzten Accorde verklungen waren, drückte Helene ihrer Base einen Kuß aufs Ohrläppchen – für das »wundervolle« Spiel.
»Aber wo ist denn Richard?« fragte die Virtuosin mit dem Ausdruck der Enttäuschung, nachdem sie der Abwesenheit ihres Bräutigams inne geworden.
Helene antwortete nicht, dagegen ließ Papa Wiek sich wieder hören. »Einzig, einzig, mein liebes Kind,« sagte er. »Von wem war das Stück?«
»Du schliefst ja die ganze Zeit, und Richard machte sich davon, und die Herren spielen. Ein dankbares Publicum.«
»Wir waren ganz Ohr,« betheuerte Egon, freilich ohne aufzusehen. »Hochwürden, Sie geben.«
»Komm, Helenchen; Du bist hier die einzige fühlende Brust.«
»Und ich, gnädiges Fräulein.« Mademoiselle Sophie war zu den Damen getreten.
»Sie hätten besser gethan, mir umzublättern!« Damit ließ die Uebelgelaunte ihre Gesellschafterin betroffen stehen und zog ihre Cousine mit sich ins andere Zimmer.
»Ich finde das ewige Kartenspielen abscheulich. Wie froh bin ich, daß mein Bräutigam auch darin seinem Bruder unähnlich! Aber, daß er vom Finale sich dispensirte, verzeih' ich ihm nicht.«
Dennoch heiterte ihr Antlitz sogleich sich auf, da der Vermißte ihnen entgegenkam. Das seinige blickte um so finsterer.
»Du hast gut reden,« erwiederte er auf Wanda's sanfte Vorwürfe. »Wenn Du wie ich littest!«
»Du erschreckst mich. Bist Du nicht wohl?«
»Nicht wohl? Nur nicht wohl? Es hämmert und rast in meinem Gehirn. – Spotten Sie doch, Fräulein Helene! – – Ich habe geschmolzenes Blei in den Adern und dann wieder eisige Kälte.«
Wanda schmiegte sich voll zärtlicher Angst an den Klagenden. Er habe sich in der Kirche erkältet; er müsse noch eine Tasse recht heißen Thee trinken …
Richard wiegte ungeduldig den Kopf. »Als ob mir mit Thee geholfen würde! Nein, mir fehlt Euer Arzt, der Doctor aus Möln. Der verstand mich zu behandeln. Der allein. Ich bin kränker, als Ihr denkt.«
»Wie mögen Sie Ihre Braut so ängstigen!«
»Vergebung,« nahm Wanda ihrer Cousine mit einer Art Eifersucht das Wort von den Lippen. »Du kannst Richard nicht beurtheilen. Das Aeußere täuscht oft. Mein Bräutigam ist in Wahrheit ungemein zart organisirt.«
Herr von Holberg schien endlich mit Etwas zufrieden zu sein, denn er küßte seiner Braut die Hand.
Helene dagegen blieb ungerührt.
»Herrn von Holberg bietet sich hier die beste Gelegenheit, seine Nerven zu stählen,« bemerkte sie trocken. »Jagden, Bergpartien –«
»Bergpartien?« rief er entsetzt. »Leute meines Schlages leiden immer an Schwindel. Schon die Vorstellung, an den Rand eines Abgrundes zu treten und in die Tiefe zu schauen, erfüllt mich mit Grauen … Nun werden Sie mich völlig verachten,« setzte er mit Bitterkeit hinzu.
»Ich wollte an einem der nächsten Tage den Mönchstein besteigen und hatte gehofft, Sie würden mein Führer sein … So werd' ich Ihren Bruder bitten müssen.«
Helene warf das so hin und schien Richard's Ueberraschung, die plötzliche Gluth, welche ihn bis über die Stirne färbte, das Aufflackern seines eben noch so matten Blickes nicht zu bemerken. Auch Wanda entging es, sie ärgerte sich über den Ton, den Base Helene gegen ihren Verlobten anschlug. Was berechtigte sie zu dieser Ueberlegenheit? Was nahm die arme Verwandte sich heraus? … Und Wanda warf sich in die Brust und streckte das Näschen in die Höhe. »Die Herren sind aufgestanden,« sprach sie sehr kühl, sehr vornehm, »sieh nach, ob Papa Nichts befiehlt!« Aber die vornehmere Gelassenheit, womit Helene dem Winke nachkam, machte ihr das Blut überwallen.
»Du bist gegen meine Cousine viel zu höflich! Du verwöhnst sie!« schmähte sie den Verlobten, als Jene kaum aus dem Zimmer war. »Was ihr nur einfällt! Du ihr Führer! Das werd' ich Papa sagen.«
Sie nahm seinen Arm, und Beide gingen langsam auf und nieder. Aber der leise Druck Wanda's ward von ihm nicht erwiedert.
Die Leidenschaft für dieses Weib ist mein Ruin, sagte sich Richard, als er, in seinen Zimmern angelangt, stöhnend in den Sessel sank. Er fühlte sich so müde, bis zur Erschöpfung müd und dennoch ruhelos. Bald sprang er empor und stürmte durch den Raum.
Wenn nur jetzt Niemand kommt, dachte er, Niemand! Ich hasse sie alle – auch meinen Bruder!
O, der ist der Glückliche. Ihm ist Alles ein Spiel; er gewinnt lachend die Herzen und lacht, wenn er verliert, ein Goldstück oder ein Herz. Warum wurde nicht mir solch leichter Sinn, sondern das Temperament unserer Mutter, die immer schwarz sah und Alles schwer nahm!? … Es ist um wahnsinnig zu werden!
Er setzte sich wieder und starrte mit weitgeöffneten Augen ins Leere.
Seine Gedanken jagten sich. Erinnerungen an die Kindheit kamen, aber auch sie waren trüb. Was hatte er von den Bizarrerien der Mutter gelitten, bald von ihr vergöttert, bald mit herbster Strenge gequält! Und schon damals war Egon der Glücklichere, die wechselnden Launen der Mutter mit Gleichmuth ertragend, der Stolz und Schrecken der Erzieher, ein gefürchteter Liebling …
Waren die späteren Jahre freundlicher? Unter Italiens azurnem Himmel, im Wirbel des fröhlichen Paris, während der träumerischen Fahrt auf dem Nil, in der Oede der Wüste?! Von Land zu Land, von Genuß zu Genuß, und kein Land eine Heimath, kein Genuß eine Freude! … Was rauscht plötzlich durch seine Gedanken! Es ist die See – die See, deren Wogen ihm Helene entgegentragen …
Helene!
Was sind die anderen Frauen alle gegen sie? … Die Gestalt, das Haupt … Und so unnahbar! … Ach, wer den Marmor sich beleben sähe, wem diese Augen sprühten, wen diese Lippen küßten …
Er richtete sich mit einem Griff nach dem Herzen empor. Das ist nicht das Rauschen der See in seinen Träumen, das ist sein Blut, das sind seine Pulse!
Nun mühte er sich ab, an Anderes zu denken, nicht mehr in Bildern zu denken, gleich einem Haschischtrunkenen … Wie war doch die Melodie, welche Wanda spielte?! – das arme Mädchen! … Unsinn! er hielte Zehn gegen Eins, wie sein Bruder sagen würde – Zehn? nein, Hundert gegen Eins, daß sie sich trösten würde, wenn –
Wo waren seine Augen, als er um sie freite! Aber es ist geschehen, er hat sein Wort verpfändet und – da galopiren die Pulse wieder – er will es halten, er, der Edelmann, der künftige Graf Holberg-Helm auf Helmburg!
Er schlug sich auf die Brust. »Ich werde mich opfern, der Standesehre opfern. Das ist tapfer, »das ist groß! O, ich bin doch ein Anderer, als mein Bruder! Der würde das nicht … Hundert gegen Eins, Herr Bruder, du würdest das nicht!«
Wieder mit sich zufrieden, ja, stolz auf sich selbst, durchmißt er das Gemach … »Ich werde mich den Staatsgeschäften widmen. Die Grafen Helm stehen an den Stufen des Throns … Mein Einfluß ist unberechenbar … Ich werde Minister, Reichskanzler, berühmt werden. Helene soll sehen, wen sie an mir verlor …«
Er trat auf die Schwelle des angrenzenden Zimmers. »Gnädiger Herr?« sagte der Bediente, welcher dort auf die letzten Befehle Holberg's harrte.
Dieser fuhr entsetzt zurück. »Wer da?!« fragte er mit bebenden Lippen und starrte die Erscheinung an. Freilich faßte er sich bald, sammelte die Gedanken und tobte nun gegen den Verwunderten, warum er ihn erschrecke, was er da müssig stehe, und daß er sich trollen solle.
»Den haben sie mir als Spion geschickt!« schoß es ihm durch den Kopf, indem er dem Gehenden einen tückischen Blick nachsendete. »Sie vermuthen, daß ich laut denke … und ich thu's, fürchte ich … War es nicht vorhin der Fall? … Was mag er gehört haben?«
Er grübelte nach und fand Nichts; dann fuhr er mit schwerer Hand über die Stirn.
»Ich weiß es nicht … ich bin so müd … Gott gebe mir traumlosen Schlaf!« …