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Am folgenden Morgen sahen die Erwachenden die Welt draußen häßlich verändert. Eine graue Wolkendecke hatte sich über den Wald gelegt, in dessen Zweigen der Regen rauschte, und Nebel krochen am Rasen hin. Der Wind pfiff und klagte, ohne zum beflügelten Sturm anzuwachsen.
Man war in die Zimmer gebannt, in welchen ein trübes Zwielicht waltete.
Waldemar und Tochter hatten im Schloß übernachtet. Als Helene nach beendigter Toilette bei ihrem Vater eintrat, saß dieser mit einer Zeitung in der Fensternische und blickte zur Erwiederung ihres Grußes nur flüchtig empor, alsbald wieder in die Lectüre sich vertiefend. Endlich legte er das Blatt bei Seite … Helene stand zwei Schritte von ihm, in die schwanken Bäume und ziehenden Nebel draußen blickend, selbst unbeweglich.
»Du siehst etwas blasser aus, als gewöhnlich,« hub Waldemar an, nachdem er die Schweigende prüfend betrachtet hatte, »zwar nicht zu Deinem Nachtheil, doch will ich nicht hoffen, daß Du im Schloß schlechter schläfst, als in der Hütte, denn –« Er brach ab und lächelte geheimnißvoll. »Träumte Dir nichts?«
»Nichts.«
»Freut mich. Traumloser Schlaf der beste Schlaf … Wie gefällt Dir Herr von Wiek?«
»Gut, denn er ist sehr gut gegen mich.«
»Treffliche Logik. Du fängst an, Dich zu bilden. Nur sei auch darauf gefaßt, daß man Dir heute ein weniger freundliches Gesicht zeigt: Reiche Leute haben Launen.«
»Das scheint mir auch.«
»Wie so?«
»Das gnädige Fräulein war gestern wie ein Apriltag veränderlich, sie behandelte mich einmal wie eine liebe Schwester und dann wieder wie – wie eine Nebenbuhlerin.«
Wieder spielte ein bedeutsames Lächeln um seine Lippen. » Vielleicht Beides aus Instinct,« sagte er. »Doch, von Base Wanda ist vorläufig nicht die Rede, sondern ob Du überhaupt hier festen Fuß fassen kannst. Wenn Alles so geht, wie ich hoffe, trennen sich von heute ab unsere Wege … Nun, bist Du nicht neugierig?«
»Die Neugierde würde mir Ihnen gegenüber wenig nützen,« entgegnete Helene, die Schultern zuckend.
Waldemar stand unwillig auf. »Du mußt Deinen Stoicismus nicht bis zur Apathie treiben. Sein Temperament beherrschen können und kein Temperament besitzen, ist zweierlei. Uebrigens ist Deine Ruhe nur Schein, und Du magst vor Anderen eine Maske tragen, nicht aber vor mir. Wenn ich Dir also mittheile, daß ich mich gestern endlich Deinem Onkel zu erkennen gab und heute Deinetwegen mit ihm verhandeln werde, so zeige immerhin Dein wahres Gesicht und freue Dich!«
Diese Mittheilung bewirkte nur ein schwaches Aufleuchten in Helenens Augen. »Verzeihung, Vater,« erwiederte sie, »daß ich in der That nicht sehr überrascht bin; allein ich hatte längst dergleichen erwartet. Eben weil Sie unserer Verwandten niemals mehr erwähnten, machte ich mir meine eigenen Gedanken.«
Der Alte sah seine schöne Schülerin mit nicht verhehltem Triumphe an. »Du ein Mädchen?« rief er; »hundert Jahre bist Du alt und so klug, dies bedenkliche Compliment nicht mißzuverstehen. Aber – aber – ruhig Blut! die Verwandtschaft kann ebensowohl unsere Hoffnungen, die wir also bereits beide auf Herrn von Wiek gesetzt haben, zu nichte machen, als fördern. Dein Onkel war mein Feind und wird mein Feind bleiben, wie auch die Jahre oder vielmehr das Wohlleben, gute Küche und langes Schlafen ihn verändert haben. Wenn Du ihn gewinnen willst, mußt Du mich verlieren.«
Helene wendete sich mit einer Regung des Unwillens ab.
»Um so mehr hast Du Grund,« setzte er mit ironischem Ton hinzu, »seine künftigen Wohlthaten nicht empfindsam, sondern als seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit entgegenzunehmen.« Er wollte Mehr sagen, doch da er Schritte auf dem Corridor vernahm, legte er den Finger auf die Lippen.
»Jemand kommt – möglicher Weise schon ein Herold meines Herrn Schwagers.«
Wenige Secunden später trat ein Diener ein und lud Waldemar, wie dieser erwartet hatte, zum Schloßherrn. –
Während Helene, nun doch mit stark erregten Nerven, von unbestimmten Hoffnungen, wie von Furcht, daß auch die Nebel in Nichts zerflößen, gequält, oben zurückblieb, und Herr von Wiek ebensowenig seine Unruhe zu bekämpfen vermochte, verrieth Waldemar nicht die geringste Gemüthsbewegung. Er schien kaum die Spannung eines Waidmanns zu haben, der seines Zieles sicher ist, nahm gelassen gegenüber dem Schloßherrn Platz und fing von der letzten kriegerischen Fanfaronade des Marquis H. im französischen Senat zu plaudern an. Wiek rückte fiebernd auf dem Sessel hin und her. »Ich bitte um Entschuldigung,« benutzte er die erste Pause Waldemar's, »ich bin heute außer Stande, politischen Debatten zu folgen – politisire überhaupt nicht. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn wir sofort zur Sache kämen. Sie haben mich gestern überrascht …«
»Ja? Hoffentlich nicht allzu unangenehm, lieber Schwager. Wir sind ja beide keine jugendlichen Hitzköpfe mehr. Ich schlage vor, wir reichen uns über einem gewissen Grabe, über das nun auch schon Gras gewachsen, versöhnt die Hand.«
»Ueber einem Grabe?« fragte aufhorchend der Andere; »einem Grabe? Meine Schwester wäre –«
»Todt, seit Jahr und Tag, lieber Schwager. Leider gestatteten mir die Umstände nicht, Ihnen die Todesanzeige zu schicken.«
Ein tiefer Seufzer rang sich aus Wiek's Brust, auf welche der Kopf schwer sich niedersenkte.
»Meine arme, unglückliche Schwester!«
»Unglücklich? Das Wort scheint mir für unsere theure Todte, Ihre Schwester, meine Frau nicht ganz zutreffend. Ich möchte Jemand, der bis zum letzten Athemzug seiner Natur und seinen Grundsätzen getreu bleibt und sozusagen als Sieger in die Gruft steigt, nicht unglücklich nennen.«
»Eben ihre Grundsätze waren ihr Unglück. Doch lassen wir das! … Wo – wo starb meine Schwester?«
»O, fast darf ich sagen, auf der Scholle, wo ihre Wiege gestanden, wenigstens ganz nahebei: In Wittenhagen, lieber Schwager.«
Herr von Wiek fuhr betroffen in die Höhe. »In Wittenhagen? Wittenhagen!« rief er aus. »Und ich wußte Nichts davon! Man ließ meine Schwester hundert Schritte von mir sterben, ohne mich zu benachrichtigen, mich, der, wenn er sie auch nicht vom Tode retten, doch ihr das Sterben durch seine Verzeihung erleichtern konnte! Das war –«
»Ihrer Schwester ausdrücklicher Wille,« fiel Waldemar dem Empörten ins Wort. »Hat einmal eine Frau eine starke Seele, dann beschämt sie in eiserner Consequenz jeden Mann. Ich bin, wie gesagt, weniger hart, fühle seit dem letzten schwersten Schlag ein wahres Bedürfniß, daß zwischen den Ueberlebenden endlich Friede werde. Und deshalb nahm ich Ihre Einladung, die allerdings dem unbekannten Waldemar, nicht Ihrem Schwager Marwald galt, ohne Zaudern und als einen Wink von oben an.«
Wiek antwortete auf diese Worte, die mit der freundlichsten Miene und im wärmsten Ton gesprochen doch wie Hohn klangen, nicht sofort. Nach einer Pause fragte er, den Schwager mit ebensoviel Widerwillen als Furcht betrachtend: »Ist das Mädchen Fräulein Helene ihr – meiner Schwester Kind?«
»Unser Kind, Ihre Nichte, lieber Schwager.«
»Arme, unglückliche Waise!«
»Das Loos, das ich meinem Kinde bereiten kann, wird allerdings kein freundliches sein. Ich habe von meiner Frau, geborenen ›von Wiek‹ keine Glücksgüter geerbt. Aber Sie, lieber Schwager, Sie haben den Ueberfluß. Wenn Sie Helenen das wiedererstatten, was die Mutter zwar nur ein natürliches Recht zu beanspruchen hatte, wird sie ziemlich gut gebettet sein.«
»Herr!« brauste Wiek empor.
»Lieber Schwager?«
Der Kopf des Anderen senkte sich wieder zur Brust. Die gerunzelte Stirn verrieth, daß er, wenn auch mit Widerwillen zu erwägen begann. »Ich würde meine bemitleidenswerthe Verwandte,« sprach er nach einigem Nachdenken, »morgen in mein Haus nehmen, wenn – wenn sie nicht auch Ihre Tochter wäre.«
»Das war's, was ich von Ihnen hören wollte,« erwiederte Waldemar mit schneidendem Ton. »Also die Zeit zwischen heut und jenem Tage, an dem Sie mir Ihr elterliches Haus verboten, die lange, entsetzlich lange Zeit hat Sie nicht milder, versöhnlicher, gerechter gestimmt?«
»Zwischen heut und jenem Tage liegt noch der, an dem Sie meine Schwester zu schmachvoller Flucht verleiteten. Das war eine Beleidigung unserer Familienehre, die durch Nichts mehr gut zu machen ist.
»Wer zwang mich, den Ihrigen den Krieg zu erklären, wer anders, als Sie? Sie wissen so gut wie ich, daß Ihre Eltern mir anfänglich wohlgesinnt gewesen. Hätten Sie dieselben nicht unermüdlich wider mich gestachelt, so würden sie sicher zuletzt die Wahl Ihrer Schwester gebilligt haben.«
»Ich that's, weil ich Ihren wahren Charakter, dem Nichts heilig war, kannte. Der Weltstürmer paßte nicht in unsere strengconservative Familie.«
»Aus trägem Most wird kein guter Wein. Zeigen Sie mir den jungen Mann, der arm und namenlos, aber begabt, nicht kampfbegierig und ehrsüchtig ist. Ein wenig Großmuth von Ihrer Seite hätte mir eine glänzende Laufbahn eröffnet. Statt dessen thaten Sie Alles, um meine Zukunft im Keim zu vernichten, verdächtigten mich meinen Freunden, unterstützten meine Feinde. Sie brachten mich dahin, daß ich Ihre Schwester fast ebensosehr um der Rache, als um ihrer selbst willen liebte.«
»Dies Geständniß rechtfertigt mich heute aufs neue.«
»Nichtsdestoweniger bin ich Ihr Schwager. Uebrigens täuschen wir uns nicht! Nicht meine Moral, sondern meine dunkle Herkunft war Ihnen ein Aergerniß. Der Bürgerliche paßte nicht in Ihre Familie. Und doch ist die Kreuzung keine so üble gewesen, wie Ihnen nachträglich durch meine Helene bewiesen wird. Sie ist schön, geistvoll und wohlerzogen.«
»Ist sie auch gut?«
»Auch gut. Ich setze voraus, daß Sie klug und gut nicht für einen Widerspruch halten.«
»Ich weiß das Talent zu schätzen, aber das Herz gilt mir mehr. Ich sehe vor Allem aufs Herz. Meine Wanda hat das beste Herz auf der Welt.«
»Wenn das der Fall ist, wird sie gewißlich auch für ihre Cousine Herz haben, die unschuldig unglücklich ist … Besprechen wir die Angelegenheit ohne Zorn! Wenn ich Ihnen zugestehe: Ihre Schwester und ich haben einen dummen Streich begangen, indem wir uns verheiratheten; wenn ich Ihnen bekenne: wir haben Noth und Bitternisse ein volles Maaß dafür geerntet, so haben Sie ja ihre Genugthuung! Aber mit der Bestrafung der Schuldigen finde die Tragödie auch Ihr Ende! Verzeihen Sie dem Kinde seine Eltern! … Ich selbst bin heimathlos, ohne sicheres Brod. Man hat mir den geraden Weg versperrt, so mußte ich die krummen wählen; hat mich so lang zum Abenteuern gezwungen, daß ich jetzt in schlichtbürgerlichen ruhigen Verhältnissen nicht mehr athmen könnte. Solchem Manne ist ein Kind eine Last und ein Vorwurf, und solch ein Vater dem Kinde ein Fluch … Sie hören, ich bin verdammt aufrichtig. Ich bin überhaupt besser, als der Ruf, den ich Ihrer Familie verdanke. Oder zollen Sie mir auch für das Zartgefühl keine Anerkennung, daß ich bis heute aus meiner vornehmen Verwandtschaft kein Kapital geschlagen? Gewähren Sie mir die erste Bitte, und ich verspreche Ihnen: sie ist die letzte; befreien Sie mich von der Sorge für mein Kind, und ich befreie Sie für immer von Ihrem Schwager!«
Wiek sah noch nicht ganz entschlossen vor sich hin, endlich raffte er sich zu den Worten auf: »Gut, ich will mir die Sache überlegen.«