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Der Schraubendampfer »das Meteor«, welcher vom Ludwigsburger Hafen dem Ostseebade Möln die Passagiere zuführt, hatte eine zahlreiche, fröhliche Gesellschaft an Bord. Noch glitt er auf dem breiten Strom dahin, wo die wehende »frische Kühlte« am Julinachmittag nur als Annehmlichkeit gefühlt wurde.
Alles war auf Deck, und weil die flachen Ufer des Blicks nicht lohnten war die Unterhaltung der verschiedenen Gruppen, die sich zusammengefunden, um so lebhafter.
Nur Einer, ein bis ans Kinn in Schwarz gekleideter Herr, nahm an dem Hin und Her der Worte wie der Menschen keinen Antheil, sondern saß, der steinerne Gast im lustigen Gewühl, stumm und regungslos auf derselben Stelle, die er gewählt hatte, als das Schiff den Anker lichtete.
Er sah, indem er saß, alt und altersmüde aus. Das kurzgeschnittene, ursprünglich schwarze Haar war stark ergraut, sein Gesicht eins von denen, welche sofort Eindruck machen, und welche man schwer vergißt. Einst sicherlich schön, war es jetzt fleischlos, wachsfarben, von zahllosen kleinen Runzeln und Fältchen durchfurcht. Aber die edlen Linien des Profils waren unentstellt.
»Er hat das Profil eines Cassius,« sagte die klassisch gebildete Gesellschafterin zu ihrer Baronin.
»Ich möchte wohl wissen, wer jener schweigsame Herr ist?« gestand eine muntere Blondine ihrem Cavalier, der den Teller mit dem Glas Limonade hielt.
»Der Glückliche,« flüsterte ein Zweiter, dicht hinter der Schönen.
»Wie kann man so neugierig sein!« sprach die Mutter.
»Aber Mama, man will doch wissen, mit wem man in den nächsten vier Wochen verkehrt.«
»Wer sagt Dir denn, daß er in Möln bleibt?«
»Jedenfalls ist er für die Gesellschaft kein Gewinn,« fiel Der mit der Limonade ein. »Ein unheimlicher Patron. Ich halte ihn für einen Jesuiten.«
»Und ich,« meinte der Andere, »ich hielte ihn für einen Croupier, wenn in Möln nur eine Spielbank wäre.«
»Aber wie kann man –«
»Wechseln wir das Thema, Mama! Zu einem Disput ist er denn doch nicht interessant genug – Himmel!«
Die Blondine stieß einen Schrei aus, denn von der nahen See ließ der stärkere Wellengang sich spüren. Als das Schiff ins Meer steuerte, wo Wind und Wogen es ziemlich unsanft empfingen, erhob sich der Herr in Schwarz und ging, zwischen den bald sich lichtenden Gruppen hindurch, mit dem sicheren Tritt eines alten Seefahrers, auf und nieder.
Es war, als rüttle das Schwanken des Schiffes seine Lebensgeister auf. Er erschien plötzlich unruhig und ungeduldig.
Zuletzt bat er den Kapitän, die Kommandobrücke besteigen zu dürfen …
Die Küste kam bald wieder in Sicht. Eine weitgeschwungene Bucht, hohe, herrlich bewaldete Dünen.
In der Richtung des Schiffes sah man die Waldwände geöffnet und in ein welliges Thal. Dort zog sich eine Ortschaft mit recht stattlichen Häusern bis zum Strande hinab; die Kirche lag am höchsten.
»Möln,« sagte der Kapitän zu dem Fremden.
»Und wo liegt Wittenhagen?«
»Wittenhagen? dort auf der äußersten Spitze, wo die Düne steil ins Meer fällt. Sie sind der Erste, der nach dem Nestchen fragt.«
»Noch mehr, ich will nach dem Nestchen.«
Der Kapitän schmunzelte. »Viel Comfort werden Sie dort nicht finden.«
»Ich will heute noch hin. Wie lange hat man zu gehen?«
»Gute zwei Stunden. Der Weg am Strande ist der nächste. Aber ich rathe Ihnen dazu heute nicht. Wählen Sie lieber den windgeschützten durch den Wald.«
Der Blick des Fremden wanderte den Strand entlang, als ob er die Entfernung messe. Weiterhin von Möln bis zu der erwähnten Landspitze war die Küste einsam. Die dunkelgrünen Höhen drängten sich oft dicht bis an die Woge. Nur einmal noch theilten sie sich ähnlich wie bei Möln, und in einer Art Waldesbucht erhob sich ein zinnengekröntes Schloß.
»Schloß Wiek,« antwortete der Kapitän dem fragenden Blick.
Die stahlgrauen Augen des Fremden erglänzten seltsam, als er den Namen nachsprach:
»Wiek.«
In demselben Augenblick ließ sich ein dumpfes Rollen vernehmen. Im Westen stand ein Gewitter.
»Das gibt eine artige Bö,« sagte der Kapitän.
Aber sie waren am Ziel …
Der Herr in Schwarz stieg als der Letzte aus dem letzten Boot. Sein Gepäck bestand in einem Mantelsack.
»Ins Hotel?« fragte ein barhäuptiger Junge, dem der Wind das Haar aus der Stirne strich.
»Nein, aber führe mich auf den Weg nach Wittenhagen.«
Der Knabe sah ihn mit erstaunten Augen an.
Das Fischerdorf Wittenhagen liegt auf hoher Düne, denn unten am Strand ist nicht Raum genug für Haus und Hof. Auf diesem sonst einsamen Strande tummelten sich jetzt Männer und Frauen, um die triefenden Kähne zu bergen. Die Gewitterbö hatte die Fischer heimgejagt; schon klatschten die Wogen tosend ans Land, wo der Sand aufwirbelte. Am düstern Horizont sah man eine Jacht auf und nieder schwanken und, nur noch mit dem Sturm-Stagsegel steuernd, die offene See zu gewinnen suchen.
Die Leute am Ufer spähen nur selten nach dem windgebeugten Maste aus, aber droben auf der Düne in einem Häuschen, das dicht am Abhang steht, verfolgt ein Mädchen angstvoll den Kampf des armen Küstenfahrers.
Dies Mädchen in schlichtem städtischem Kleid ist von seltener Schönheit. Der Kopf mit der Wucht lichtbrauner Flechten, die regelmäßigen Gesichtszüge erinnern an die Madonnen der Maler.
Doch ist nichts Frauenhaftes in der Erscheinung. Helene Waldemar – so heißt das Mädchen – besitzt den ganzen Reiz der ersten Jugend. Ihre Wangen färben sich schnell, der untadelige Körper hat die Geschmeidigkeit einer Sylphe, die großen tiefblauen Augen strahlen, strahlen selbst jetzt, trotzdem erst Angst und nun Kummer ihren Blick umflort. Kummer, denn da das sturmbedrängte Boot zuletzt in die schwarzen, dichten Wolkenmassen, welche am Horizont dem Meer zu entsteigen scheinen, verschwindet, wendet sich Helene vom Fenster in die Stube zurück – zum Schmerzenslager ihrer Mutter.
Das Krankenzimmer ist ein niedriges Gemach mit der ärmlichen Ausstattung des Hausbesitzers, welcher Fischer ist wie fast alle Bewohner des Dorfes.
Fünf Jahre sind's, daß Helene's Mutter, an Leib und Seele gebrochen, nach Wittenhagen kam. Wenn sie an der See Genesung erwartet hatte, war's vergebliche Hoffnung; sie siechte dahin. Doch schien es vielmehr, als ob sie überhaupt nur Angesichts des Meeres zu sterben verlangte.
Arm und unglücklich – durch fremde und vielleicht auch durch eigene Schuld; völlig vereinsamt, Tage und Nächte lang schweigsam in Erinnerungen versunken, welche die Tochter nicht kennt und nicht kennen soll … Wenn sie sprach, so war's, um das Mädchen der Theilnahmlosigkeit zu zeihen, verrieth aber Helene ihr innerstes Mitleid, wies die Kranke dasselbe mürrisch zurück.
Die Unglückliche hatte nur einen Trost: die Schönheit ihres Kindes! Wenn Helene an langen Winterabenden kokett sich ein buntes Band in die Flechten schlingt oder übermüthig letztere löst, so daß ihr Haar wie ein Mantel sie umgibt, zuckt es über das gramgefurchte Gesicht der Mutter wie Triumph, eine ungesunde Gluth färbt die Wangen, leuchtet aus den Augen. Sie wird lebendig, wird beredt.
»Du gleichst mir, wie ich Deine Jugend hatte! So war ich! Schönheit ist ein köstliches Geschenk. Hüt' es wohl! Schönheit erobert das Glück, wenn sie mit Klugheit gepaart ist. Sei klug! Denk' immer an das Antlitz Deiner Mutter, das nur vom Unglück entstellt wurde.«
Und wenn Helene zugleich in Scham und heimlichem Stolz erröthend das Gesicht an der Brust der seltsamen Schmeichlerin zu bergen suchte und davon sprach, daß sie kein Glück begehre, als die Mutter wieder gesund und lebensfroh zu sehen, lächelte diese bitter und hatte keine andere Antwort, als »Thörin!« oder »Mein Tod befreit Dich.«
Einst rief Helene, von den natürlichen Regungen des Herzens hingerissen, voll Unwillen: »Mutter, weißt Du denn nicht, daß Du Dich mit diesen entsetzlichen Worten gegen Gott und Dein Kind versündigst?!«
Da starrte Frau Waldemar mit gläsernem Blick die Kühne an, als ob sie eine fremde Sprache gehört, die sie seit langer Zeit vergessen. »Ich hatte ein Herz,« sagte sie dann, »und das war mein Unglück.«
So, in der dumpfen Schwüle des Krankenzimmers, wuchs Helene auf und entfaltete sich doch zur wunderschönen Blume, Dank der liebevolleren Mutter Natur, deren Hauch erquickend sie umfing, sobald sie aus der Hütte trat, das Meer zu Füßen und den Wald im Sprung erreichbar.
Ihre Seele!? … Aber was ist denn die Seele? In der Jugendzeit Erinnerungen an gute oder böse Lehren und Beispiele. Dachte Helene aber an ihre Kindheit zurück – sie that es ungern – fiel ihr nur Trübes ein. In großer, geräuschvoller Stadt ein untrautes Daheim – das schon halb verwischte Bild des Vaters, um so deutlicher dagegen sein ewiger Zwist mit der Mutter. – – Im Vergleich mit jener Vergangenheit war das Leben in der ländlichen Einsamkeit köstlicher Gewinn.
Helene lernte nicht mehr, als die Fischerkinder, und hatte bei der Pflege der Kranken noch freie Zeit genug, sich im Forst zu tummeln oder am Strand dem Wellenschlag zu lauschen, der ihre Sinne in Träume wiegte, welche aus den Rosenwölkchen am Horizont prächtige Schlösser bauten.
Sie verkehrte mit Niemand. Die Leute im Dorfe hatten an die beiden einsamen Frauen längst sich gewöhnt; die Welt hinterm Walde blieb Helenen verschlossen – nur ihre Gedanken wagten sich heimlich dahin – Gedanken, die eben auch nur unbestimmte Träume waren.
Ihr siebenzehnter Sommer war's. Er brachte ein Ereigniß … Der Arzt aus Möln hatte die Kranke wieder einmal besucht. Nachdem er sich verabschiedet, begehrte Frau Waldemar zu schreiben – seit Jahren den ersten Brief …
Helenens Herz pochte, als sie dem Boten den versiegelten Brief übergab.
Er war an ihren Vater gerichtet.
Von jenem Tage bemächtigte sich eine fieberhafte Ungeduld der Kranken. Sie enthüllte nicht, was sie bewegte, aber Helene ahnte es.
Das Mädchen sagte sich zitternd: Die nächsten Tage bringen eine Wandlung in dein Geschick!
»Die armen Menschen!« seufzte Helene, indem sie vom Fenster zum Krankenlager trat.
Frau Waldemar fuhr erschreckt empor.
»Hörtest Du Jemand?«
»Nein – wie sollt' ich auch bei diesem Sturm! Die armen Menschen!«
»Von wem sprichst Du?«
»Von den Schiffern, die heut auf dem Meer sind.«
Die Kranke schüttelte ungeduldig den Kopf. »Das ist ihr Beruf – mit Wind und Wellen zu kämpfen – mit Wind und Wellen. – Habe doch lieber mit mir Mitleid! Ich kenne ein Meer, das fürchterlicher ist, als alle diese … schwarz und still – ich werde bald in diese See versinken. Meine Kräfte schwinden.«
Was ist Helenen der Angstschrei Sturmbedräuter gegen den Seufzer der Mutter! Ob das Schiff, an dessen Geschick sie eben so innigen Antheil nahm, am Felsen strande, oder über der Tiefe vom Blitz getroffen werde, für Helene ist es schon versunken, vergessen.
Sie läßt sich vorm Bett auf die Kniee nieder und umschlingt besorgt ihre Mutter.
Aber diese löst sich von den Armen.
»Ich verwünsche den Sturm,« sagt sie … »Morgen, morgen ist vielleicht zu spät – ich verwünsche den Sturm.«
Ihre Finger gleiten gespenstisch auf der Decke hin und her.
Helene wagt das Schweigen, in das die Mutter verfällt, nicht zu brechen.
Indeß wird es völlig dunkel im Gemach. Draußen heult der Wind und erschüttert das Haus im Grunde.
Nach einer Weile erhebt sich das Mädchen, um wieder aus dem Fenster zu sehen.
Die Gewitterwolken, die vom Westen nahten, entluden sich nicht; schwer und düster, dräuen sie nur in ihrem Dahinziehen und lassen dem Sturm allein die Stimme.
Das Mädchen kehrt – beklommen, ruhlos – zum Krankenpfühl zurück.
»Helene,« sagt Frau Waldemar plötzlich. »Ich weiß, ich werde bald sterben.«
Das Mädchen schluchzt, doch die Mutter hört es nicht. Ihre Gedanken schweifen über das schwarze geheimnißvolle Meer, wovon sie gesprochen, kehren aber dann wieder in die Gegenwart zurück, mit verdoppelter Ungeduld.
»Geh,« beginnt sie, »geh vor's Haus! sieh den Strandweg hinab, ob Du nicht Jemand kommen siehst.«
Das Häuschen, das die beiden Frauen bewohnen, ist das letzte, wenn man des Weges von Möln kommt; es liegt auf der äußersten Dünenspitze, und nur ein schmaler Rasenplatz trennt es vom Abhang. Längs des letzteren zieht sich ein Stück vom Zaun hin, der das bescheidene Grundstück umhegt. Dort hat man an lichtem Tag eine entzückende Aussicht. Zur Rechten dehnt sich die See ins Grenzenlose, zur Linken hat man die Waldesküste. Bei sehr klarer Luft kann man die weißen Häuserreihen Möln's schimmern sehen.
Kunstlos ausgegrabene Stufen führen zum Strand hinab.
Wie Helene aus der Thür tritt, faßt sie der ungestüme Wind, zerzaust ihr Haar und läßt das Tuch, das sie in der Eile sich umgeschlungen, flattern. Der wehende Sand trifft prickelnd ihr Gesicht.
Ihr erster scheuer Blick richtet sich aufs Meer. Fernab ist wogende Finsterniß unter wolkigem Himmel. Vom Hügelrande hinab sieht Helene auf die Wellenkämme, die zum Ufer rasen. Es heult und donnert, rauscht und zischt, fern und nah, überall. Die See ist furchtbar wie der Sturm, und der Sturm wie die See.
Beim fahlen Schein, welchen der Himmel über ihr bewahrt, sieht sie die Bäume schwanken, aber dort inmitten des Waldes leuchten gastlich die Fenster von Schloß Wiek.
Unwillkürlich späht der Blick des Mädchens nach diesen glänzenden Punkten. Dann hüllt sie sich fester ins Tuch und biegt um die Hütte in die Dorfstraße.
Da liegt Alles im Dunkel. Die Fischerleute sind solcher wilden Wiegenlieder gewohnt und schlafen heut wie immer ihren traumlosen Schlaf.
Helene schreitet, so rasch sie es im Sande und unter den Windstößen vermag, die Straße dahin. Sie kennt keine Furcht. Aber das Herz ist ihr schwer. Die Angst um die Mutter hat ihr die Ungeduld der letzteren mitgetheilt. Sie weiß, wer der Erwartete ist, und fragt sich, ob er kommen werde trotz Nacht und Sturm.
Rief da nicht Jemand?!
» Vater!« schreit sie als Antwort und erschrickt dann über sich und ist froh, daß der Wind sich auf ihre Stimme gestürzt und sie erstickt hat.
Sie schreitet weiter.
Ihr Vater! Ist er der Erwartete, und warum wünscht sie, daß er es sei? Ihr graut vor ihm! Ach, dieser Drang ihm entgegen hat Nichts mit kindlicher Liebe zu thun. Warum soll sie ihn lieben? Liebte er sein Kind? Verließ er nicht die Mutter und sie, überließ sie der Armuth und Sorge? Aber die Sterbende verlangt nach ihm. Die Sterbende! Wenn dieses wahr würde, wen hätte sie dann? was würde dann? Fort! fort! Vielleicht bannt Er den Tod zurück; vielleicht ist Versöhnung für die Mutter Genesung!
Da taucht plötzlich eine Gestalt vor Helenen auf und ruft sie an …
Ja, er ist's. Sie hört den Vaternamen von seinen Lippen, weiß nicht, was sie ihm stammelnd erwiedert, wendet sich den Weg zurück, hastig, als fliehe sie vor ihm … und er folgt ihr wie ihr Schatten …
Aber letzterer, der eigene Schatten, wenn er auch auf einsamste Waldwege fiel, setzte sie niemals in Angst. Was sich jetzt an ihre Fersen heftet, ist unheimlich und treibt sie zur Hast …
Der Schatten, der Helenen folgt, fiel schon voraus in die Hütte mit den hellen Fenstern.
Er verdüstert mehr und mehr das Gesicht der dort Harrenden.
Noth und Krankheit haben die einst gefeierte Schönheit der Frau Waldemar zerstört; der Wiederkehrende wird Nichts mehr davon in ihrem Antlitz finden, aber sie hat noch immer das leidenschaftliche Herz, das einst sein mächtigster Verbündeter gewesen, da er mit viel Besseren, als er, um die Schöne warb.
Dies Herz – oder sagen wir Temperament – sollte ihr Alles ersetzen, Charakter und Religiosität. Doch weil diese eben unersetzlich sind, fehlte Frau Waldemar sehr bald die Würde, welche die Frucht des Charakters, und der Trost, welcher der Gewinn der wahren Frömmigkeit ist. So wurde sie zu der Unglücklichen, die jetzt auf dem Siechenbette den Gatten erwartet, nicht um sich in Liebe mit ihm zu versöhnen, sondern mit seinem Haß sich zu verbünden.
Die Aufregung der Kranken steigerte sich während Helenens Abwesenheit ins Unerträgliche. Ihr Zorn loderte auf, daß die Tochter nicht längst zurück sei, und dann wünschte sie wieder, daß Helene ginge, die Nacht hindurch und länger und so weit, bis sie Ihn gefunden.
Wohl fielen ihr auch die vergangenen froheren Zeiten ein, und sie dachte daran, wie sie einst an so manchem Abend mit wogender Brust dem Schritte eben dieses Mannes entgegen gelauscht. Doch kein Rühren erfaßte sie; ihr Wimmern galt nicht der Schuld, sondern nur dem traurigen Erfolg ihres Lebens.
Da vernimmt sie – trotz dem Sturm – Schritte im Flur. Helene kommt zurück und nicht allein! Die Kranke richtet sich mit plötzlich gewonnener Lebenskraft hoch in den Kissen auf, ihre Arme strecken sich aus, freilich nicht zum freudigen Empfang. sondern nur in der Freude, daß wenigstens ihr letzter Lebenswunsch befriedigt werde.
Die Thür öffnet sich – Helene stürzt mit wirrem Haar, glühendem Gesicht in die Stube, auf der Schwelle aber steht, den Hut in der Hand, zaudernd ein Fremder – ja wohl, ein ihr Fremdgewordener!
Wie Helene am Bett der Mutter halb ohnmächtig niedersinkt, weist diese mit einer kurzen gebieterischen Geberde auf die Thür der anstoßenden Gemächer und sagt mit eisigem Ton nichts, als »Geh!«
Helene wirft einen fragenden Blick auf die harte Frau, dann gehorcht sie, zwar mit schwerem Schritt, doch ohne sich umzusehen.
Da Mann und Weib allein sind, faßt sich Jener – es ist der Herr in Schwarz – ein Herz, tritt rasch an das Krankenlager und versucht, indem er sein Knie beugt, die Hand – die einst so schöne Hand zu ergreifen.
Doch sie entzieht ihm dieselbe.
»Keine Heuchelei,« sagt sie kalt. »Ich habe Sie nicht dazu gerufen.«
Er richtet sich auf, und Beide betrachten sich eine Weile schweigend, Frau Waldemar mit unversöhnlichem, er mit scheuem Blick.
Wenn beim ersten Wiedersehen eine weiche bessere Regung in ihm war, so ist sie jetzt erloschen.
Seine Gattin bricht das Schweigen zuerst.
»Wenn ich Dich bat, nicht zu heucheln,« sagt sie, »geschah's, weil Du an einem Sterbebette stehst.«
Noch einmal versucht er sie sanfter zu stimmen und flüstert Etwas von Hoffnung. – Sie will es nicht hören.
»Ich verlasse die Welt,« fährt sie fort, »und habe keinen Grund, um sie zu klagen. Nur Eins bekümmert mich – das Schicksal meiner – unserer Tochter … Ich will, daß sie glücklich werde, und weiß, wie sie das werden kann … Du hast meinen Brief gelesen und, wie Dein Kommen beweist, meine Absichten und Pläne mit Helene gebilligt. Dafür bin ich Dir dankbar … Nun rufe Helene.«
Er geht langsam durch das Gemach und sagt, die Thür der Nebenstube öffnend: »Helene!«
Das Mädchen erscheint. Ihre Aufregung ist ertödtet, oder sie weiß dieselbe zu beherrschen.
Frau Waldemar befiehlt ihr, näher zum Licht zu treten. Helene gehorcht; ihre Hand streicht das thaufeuchte Haar aus der Stirn, aber ihr Blick bleibt zu Boden geheftet.
Wie sie nun, vom Schein der Lampe voll beleuchtet, dasteht, wandert das Auge der Mutter von ihr zu ihm.
Acht Jahre sind verflossen, seit Waldemar sein Kind zum letzten Mal gesehen. In seiner Erinnerung lebte es immer als die schüchterne Kleine. Während seiner Abwesenheit hat sich das holdeste Wunder vollzogen.
»Helene,« nimmt die Mutter endlich das Wort. »Dieser Herr ist Dein Vater … Du weißt, einem Vater muß man gehorchen« – Er zuckt unter dem grimmigen Hohn, womit sie das Wort Vater betont – »Du wirst's … Gib ihm die Hand!«
Jetzt blickte Helene auf, und vor ihrem strahlenden Auge senkt sich das seinige.
Vater und Kind reichen sich schweigend die Hände. Will Helene die väterliche an die Lippen ziehen und küssen? Nein – sie vermag es nicht. Ahnt sie, daß nicht Sehnsucht nach Weib und Kind ihn zurückgeführt? Die dunkle Wolke um den Vater hat sich nicht gelichtet.
Ihre Hand beginnt leise zu zittern. Das Grauen befällt sie, das sie als Kind vor ihm empfand, er aber erinnert sich, daß er nach der Kleinen schlug, wenn sie scheu wie eine Katze vor ihm floh.
Und eben diese schnöde Erinnerung gibt ihm die Herrschaft über sie, jetzt senkt sie die Wimpern. Er hält ihre Hand – an welche Abgründe wird er Helene führen!!
»Nun sag' mir Gutenacht und geh!« spricht die Mutter.
Das Mädchen beugt sich über die Kranke, haucht ihr einen Kuß auf die Stirn und begibt sich nach ihrer Kammer.
Frau Waldemar aber wendet sich, sobald Helene fort ist, mit triumphirender Miene zu ihrem Gemahl.
»Du bist überrascht, betroffen,« spricht sie. »Nicht wahr? Helene ist schön. Sie ist schöner, als ich je gewesen.«
Er kann die glatte Zunge nicht ganz beherrschen und sagt der Kranken, Elenden mit einem höflichen Lächeln: »Wenn auch das nicht –«.
»Still,« unterbricht sie ihn verächtlich, »Helene ist schön, um Könige zu beherrschen, und, warum ich am meisten juble: Sie hat nicht das Herz, das thörichte Herz, das ich in ihrem Alter hatte!«