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24.

Die Dienerschaft war noch nicht zurückgekehrt, nur Frau Guhnotts Jungfer befand sich im Haus und empfing die drei.

»Lisa, du kennst ja Herrn Doktor Tann. Mein Verlobter!«

Die alte Person machte eine tiefe Verbeugung und lächelte durch ihre verweinten Augen.

»Meine innigsten Glückwünsche! Wenn das doch die gnädige Frau noch erlebt hätte. Es war immer ihr Herzenswunsch.«

Während sie noch ablegten, sagte Heinz:

»Wir können wohl noch einen Augenblick allein bleiben?«

»Selbstverständlich,« antwortete Viktor. »Wohin geht ihr?«

»In mein Zimmer,« erwiderte seine Schwester.

Hatte Margots leidenschaftliches Wünschen diesen peinlichen Vorgang herbeigeführt, trug er selbst durch seinen gestrigen Brief mit Schuld daran? Genug, Heinz wollte in dieser Stunde noch den Irrtum aufklären, mit schonenden, aber unzweideutigen Worten.

Margot hatte seinen Arm genommen, schwer und matt hing sie darin, während sie die Treppen hinaufstiegen, ließ ihn auch nicht, als Heinz jetzt die Tür ihres Zimmers öffnete.

»Sollen wir uns nicht setzen?«

Aber sie stand wie festgewurzelt, immer noch dicht an der Tür. Ihr Kopf preßte sich gegen seine Brust, so daß ihre unregelmäßigen Atemzüge sich ihm mitteilten. Nun fühlte er Tränen auf seine Hand rieseln.

»Margot, komm doch zu dir!«

Sie antwortete nicht, warf nur einen kurzen Blick zu ihm empor und fuhr fort, lautlos zu weinen. Vorhin hatte sie ihn durch die Berührung ihrer eisigen Hand erschreckt, jetzt schien sie ganz in Hitze und Feuchtigkeit zu zerfließen.

»Setz' dich! Komm! Wir müssen noch miteinander reden, ehe dein Bruder wiederkommt.«

Er zog sie halb zu dem kleinen Ecksofa von lila Seide, wo er sie wie eine Willenlose mit sanftem Druck zum Sitzen niederzwang. Sobald er aber selbst auf einem Sessel Platz genommen hatte, war sie an seiner Seite, indem sie den Kopf auf seine Knie legte.

»Margot, nun höre ...«

»Ach, bitte, laß mich! Laß mich!«

Eine so leidenschaftliche Angst lag in diesem halb geflüsterten Ruf, daß er schwieg.

Vor ihm stand auf einem englischen Zierschrank eine Rokokouhr von, emailliertem Porzellan mit einem Schäferpaar als Aufsatz. Die Uhr hatte ein wisperndes Ticken. Eine Minute lang wollte er warten und Margot Zeit gönnen, sich zu beruhigen. Aber während er die Uhr anstarrte, wurde das Flüstern des Pendels zu einer Kette von harten, spitzigen Schlägen.

Seine Gedanken jagten auf immer weiteren Bahnen. Die Vorstellung drängte sich ihm auf, wie es einem zum Tode Verurteilten zumute sein müsse in seinen letzten Augenblicken. Dabei drückte seine Hand sich unwillkürlich auf das weiche Blondhaar ihres Kopfes. Dennoch war er fest entschlossen, alles zu sagen. Nichts könnte fürchterlicher sein als die auf einer solchen Lüge gegründete Zukunft.

Er umspannte mit seinen Händen ihre Wangen.

»Margot! Komm zu dir! Du mußt nicht mehr weinen.«

Sie richtete sich auf, und ihr tränenüberströmtes Gesicht erinnerte ihn an das auftauchende Gesicht einer Ertrinkenden.

»Laß mich doch! Laß mich doch weinen! Ich kann ja nicht anders. Ich kann's ja nicht fassen, daß ich leben soll. Wenn man so lange tot war wie ich. Das Herz abgestorben. Alles erstarrt. Und auf einmal ... ich kann's nicht fassen. Du mein! Dein Leben meins! Du Geliebter, um den ich gelitten habe. Glühende Marterschmerzen! Du, der mich durch seine Kälte, wer weiß wie oft, in den Tod getrieben hat. Weißt du, was du jetzt getan hast? Was ich empfinde. Hier! Sieh her!«

Sie nestelte ein winziges Fläschchen von Rubinglas hervor, das an einer dünnen Halskette befestigt war, die sie zerriß, da sie sich nicht gleich lösen wollte.

»Nimm's! Und wenn du nach Haus gehst, wirf es ins Wasser! Mit einem weiten Schwung.«

»Was ist das?«

»Ein Mittel für müde Leute. Nicht mehr für mich. Denn ich darf ja leben! Glaub' mir, es wäre schade um mich gewesen. Es stecken so viel Kräfte in mir. Nun will ich dir dienen. Nun wollen wir es weit, weit bringen, zu etwas ganz Großem.«

»Und dies Gift hättest du genommen ...«

»Wenn ich dich hätte lassen müssen.«

Er betrachtete es, peinlich berührt, und steckte es mit absichtlicher Gleichgültigkeit in die Tasche. Im nächsten Augenblick aber kehrte die Vorstellung von vorhin, nur etwas verwandelt, zurück. Er fühlte sich als den Henker, der im Begriff steht, sein Amt zu vollziehen.

»Steh doch auf, Margot!«

Sie küßte rasch die auf seinem Knie liegende Hand und nahm auf dem Sofa Platz. So saßen sie einige Augenblicke, ohne zu sprechen. Sein verlorener Blick richtete sich von neuem auf die Uhr. Es war noch stiller als vorhin. Selbst das Ticken war nicht mehr zu hören, weder scharfe stechende Schläge noch feines Wispern. Es hatte sich gleichsam verloren aus diesem toten Raum.

Da klopfte es. Ein Diener stand in der Tür.

»Herr Geheimrat wünscht Herrn Doktor Tann zu sprechen.«

»Geh nicht!« sagte Margot rasch.

»Warum nicht?«

»Weil ... Bitte, tu's nicht ... Es gibt nur ein Unglück.«

Sie umklammerte sein Handgelenk. Er machte sich los und folgte dem Diener.

Mit verzweifelter Geste blieb Margot stehen. Dann schlich sie ihm nach.

Guhnott stand am Fenster und blickte hinaus. Er schien den Eintretenden nicht zu bemerken. Erst als Heinz sagte: »Hier bin ich!« drehte er sich langsam um, indem er sich zugleich aus seiner vorgebeugten Haltung aufrichtete. In der einen Sekunde, wo das Gesicht aus dem fahlen Dämmerlicht sich ins Dunkel kehrte, hatte Heinz einen tiefen Eindruck von diesen gefurchten, zerrissenen Zügen, von den mit schweren Tränensäcken umhangenen Augen, in denen der Gram sich noch mit etwas Abgründigem und Finsterem verwob.

Guhnott machte eine unbestimmte, wie es schien, gewohnheitsmäßige Handbewegung, als wenn Heinz Platz nehmen sollte.

»Ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen.«

Seine ehemals so tiefe, sonore Stimme klang greisenhaft.

»Von meiner verstorbenen Frau. Unter den Personen, denen sie Legate vermacht hat, befinden auch Sie sich. Und zwar hat sie Ihnen ... hinterlassen eine Summe von ... fünfzigtausend Mark.«

»Mir?«

»Ich muß wissen, ob Sie dieses Vermächtnis annehmen. Es wird wohl das letztemal sein, daß wir uns sehen.«

»Mir hat sie das hinterlassen und ihre Kinder enterbt?«

»Wenn Sie das Testament lesen wollen, hier ist es.«

Guhnott nahm die zusammengefalteten Blätter unter einem Briefbeschwerer hervor und reichte sie ihm. Dann trat er wieder ans Fenster, mit seiner Linken den Knauf umklammernd, als wenn er sich daran festhielte.

Während Heinz noch zögernd die Blätter hielt, als fürchtete er sich, sie zu öffnen, huschten die verschiedenartigsten Gedanken durch sein Hirn.

Hier auf diesem Fleck hatte er das letztemal Guhnott gesehen, hatte ihm sehnsüchtig freudig die Sohneshand entgegengestreckt und war zurückgestoßen worden. Nun war er verstrickt in Feindschaft und Haß ... sollte auch noch teilhaben an diesem Geld, das er flüchtete wie etwas Ansteckendes und Giftiges.

Die kalligraphischen Buchstaben der Schreiberhand verwischten sich vor seinen Augen, während er las:

»Ich widerrufe alle früheren Verfügungen von Todes wegen und bestimme als meinen letzten Willen folgendes:

Zu meinem Erben setze ich meinen Gatten, den Geheimen Medizinalrat Professor Dr. Guhnott, ein. Für den Fall, daß mein Gatte sich weigert, diese Erbschaft anzutreten, soll sie als Stiftung für medizinische Zwecke verwandt werden, über die mein Gatte das alleinige Bestimmungs- und Verfügungsrecht hat.

Meine Kinder aus erster Ehe, mein Sohn Viktor Friedrich Anton Brunner und meine Tochter Margot Ida Elisabeth Brunner, sollen nur den Pflichtteil erhalten, jedoch jedes Kind mindestens einen Betrag von fünfmalhunderttausend Mark.«

»Was heißt das?« murmelte Heinz, während die Blätter aus seiner Hand auf den Tisch fielen.

»Sie wünschen?«

»Da steht ... jedes Kind bekommt fünfmalhunderttausend Mark?«

»Hat Ihnen Margot das nicht gesagt?«

»Nein! Ihr Bruder sagte ...«

»Der Sie betreffende Passus steht hier,« unterbrach Guhnott ihn. »Unter den Legaten, an dritter Stelle.«

Heinz las:

»Herrn Doktor Heinz Tann vermache ich, außer den ihm früher bis zum heutigen Tag als Darlehn gewährten Summen, auf deren Rückzahlung ich hierdurch ausdrücklich verzichte, einen weiteren Betrag von fünfzigtausend Mark, und bitte ihn aus alter Freundschaft, mir die letzte Freude zu machen und dies Geschenk nicht auszuschlagen. Es soll ihm die Möglichkeit erleichtern, bei seiner Heirat ganz seiner Neigung folgen zu können.«

Als Heinz das gelesen hatte, setzte sein Herzschlag aus. Seine Augen umdunkelten sich. Er preßte die Faust gegen die Schläfe, rang nach Atem.

Von neuem starrte er auf den Bogen in seiner zitternden Hand, auf diese steile Kanzlistenschrift, die wie Stacheln in seine Augenhöhlen drang, die ihn durchbohrte bis in die Tiefen seiner Brust.

»Warum zeigen Sie mir das?«

»Weil es meine Pflicht ist, den letzten Willen meiner Frau zu erfüllen.«

»Ihre Pflicht! ... Ihre Pflicht! ... Sie haben so immer Ihre Pflicht erfüllt ... gegen Ihre Frau .. gegen mich!«

Furchtbare Worte, die aus Heinzens Innerem schäumten wie eine schmutzige Flut, gellten in seinen Ohren wider. Er sprach sie nicht aus. Er starrte den alten Mann an, gegen den alle seine einstige Liebe jetzt in Haß verwandelt war.

Und ebenso hielt Guhnott auf ihn den Blick gerichtet, mit steinerner Schwere und steinerner Härte. Und wenn in seinem leiderfüllten Herzen noch Raum gewesen wäre für eine Freude irgendwelcher Art, so hätte es ihm Genugtuung bereitet, das Gesicht dieses Menschen sich verzerren zu sehen in dem Gefühl seiner Schande.

Beide – Vater und Sohn – standen sich gegenüber: zwei Todfeinde. Und die Luft dieses Raumes war so mit Spannung geladen wie die eines Zimmers in der Sekunde, bevor mit ohrenbetäubendem Knall der Blitz einschlägt.

Der heimtückische Greis, der mich um mein Glück betrogen hat ... so dachte der eine.

Der ehrlose Streber, der seine Liebe verraten hat ... so dachte der andere.

Und doch, wunderbar genug: unter dieser tiefen Schicht von Irrtum und Haß entzündete sich, wenn auch noch so schwach, in diesen wenigen Sekunden ganz von selbst das Licht der Wahrheit.

Mitleid und Ehrfurcht vor diesem Antlitz voller Schmerzen regten sich verworren in Heinz.

Staunen und die Frage: Können eines Menschen Züge so lügen? raunten in Guhnotts Innern.

Hätten sie das, was ihnen auf der Zunge schwebte, ausgesprochen ... ein furchtbarer Streit wäre losgebrochen, aber die messerscharfen Worte hätten das Lügennetz zerrissen.

Es kam nicht dazu. Während sie sich noch mit Blicken maßen, trat Margot ein. Fast lautlos öffnete sie die Tür, so daß nur Guhnott sie im ersten Augenblick bemerkte. Schwarz auf schwarz stand sie in ihrem Trauerkleid vor der dunklen Wand. Nur ihr blasses Gesicht mit den dunklen Lippen leuchtete fahl aus der Abenddämmerung.

»Ihr sprecht von dem Legat. Nimm es nicht, Heinz! Das ganze Testament widerspricht ja dem Geist unserer Mutter.«

»Ich möchte Ihre Meinung wissen,« sagte Guhnott.

»Meine Meinung?« erwiderte Heinz. »Die sollen Sie schon erfahren. Aber erst habe ich mit Margot zu sprechen. Komm, bitte!«

Als die beiden Margots Zimmer betraten, erhob Viktor sich von seinem Stuhl.

»Wo wart ihr? Bei ihm? ... Ich rate euch, wenn ihr je wieder mit ihm zu sprechen habt, tut es nicht anders als in Gegenwart eines Rechtsanwalts. Hier ist noch manches dunkel. Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen.«

»Da hast du recht!« erwiderte Heinz. »Auch ich habe noch verschiedenes zu fragen. Ich muß dich bitten, uns nochmals auf kurze Zeit allein zu lassen.«

Mit einem gekränkten Blick auf seine Schwester zuckte Viktor die Achseln und sagte dann, zu Heinz gewandt:

»Übrigens war ich auf der Post und habe an deine Eltern telegraphiert. Ich dachte, du vergißt es vielleicht.«

»Telegraphiert? An meine Eltern? Was denn?«

»Deine Verlobung.«

»Bist du wahnsinnig?« schrie Margot auf.

»Wie kommst du dazu, dich in meine Angelegenheiten zu mischen?« fragte Heinz in zitterndem Zorn. »Aber es ist ja gleich. Laß uns, bitte, allein. Ich rufe dich, wenn wir fertig sind.«

Während Heinz einen Augenblick stillstand, um für das, was er sagen wollte, nach Worten zu suchen, überkam ihn noch einmal die Vorstellung eines Henkers, der sein Amt vollzieht. Aber diese Vorstellung hatte keine Macht mehr über ihn.

»Wir alle sind wahnsinnig, wenn wir das, was vorhin passiert ist, ernst nehmen. Die Schuld an diesem Irrtum ... daß es so kam ... daran bin ich selbst schuld. Ich hatte deinen Bruder mißverstanden. Er sagte mir, ihr wäret enterbt. Darauf schrieb ich dir: Du könntest auf mich bauen. Meine Zukunft gehörte dir. Aber ... nie ... nie habe ich einen Augenblick geglaubt, du würdest das so auffassen, daß ich um dich anhalten wollte. Ich liebe dich nicht. Ich bin dein Freund. Ich bin dir dankbar für alles, was du und deine Mutter an mir getan haben. Aber Dankbarkeit ist keine Basis für eine Ehe. Ich kann nicht dein Mann werden. Ich machte dich und mich unglücklich. Verstehst du?«

Sie schrie nicht auf. Sie brach nicht in Tränen aus. klammerte sich nicht an ihn fest. Mit einem unerträglichen Zug der Angst und des Leidens in ihren großen, trockenen Augen sah sie ihn unverwandt an.

»Ich begreife ja, wie du zu diesem Irrtum kamst. Aber begreife auch du, daß ich wegen eines mißverstandenen Briefes nicht unser beider Leben ruinieren kann! Begreife doch, Margot!«

»Ich begreife.«

Wie eine Ertrinkende, in dem Gefühl, daß dunkle Wasser über sie hereinbrachen, hatte sie nach ihm gegriffen, sich an ihn geklammert. Und die Flut war zurückgewichen, und alle Unmöglichkeiten ihrer Träume hatten sich in Wirklichkeiten verwandelt. Nun brauste sie wieder heran und er ... er stieß sie zurück. Er wollte nicht mit ihr ertrinken. Das verstand sie. Aber etwas in ihr, stärker als sie, versuchte noch zu kämpfen und sagte:

»Ich habe nicht geglaubt, daß du mich liebst. So selbstsüchtig bin ich nicht. Nur helfen wollte ich dir, dir deine Sorgen abnehmen, teilhaben an deiner Arbeit. Du solltest deine Freiheit behalten wie früher.«

»Dazu brauchten wir doch nicht zu heiraten. Was wäre das für eine Ehe? Eine Qual für uns beide.«

Sie erwiderte nichts.

Er aber begann, während er sie mit hochgezogener Stirn unverwandt anblickte, zu grübeln. Da und dort fing das Dunkel des Irrtums, in dem er jahrelang gelebt, an sich zu spalten.

»Wann ist dir dieser Gedanke an eine Heirat überhaupt zuerst gekommen?«

»Heute. Durch deinen Brief.«

»Und doch muß deine Liebe älter sein.«

»Die stammt vom ersten Tag unserer Bekanntschaft her.«

Das hatte er gewußt und nicht gewußt. Nicht wissen wollen! Aber in seiner Tiefe hatte es sich geregt und jene fast feindselige Fremdheit wachgehalten, die er ihr gegenüber niemals losgeworden war.

»Aber damals am Rhein ... du erinnerst dich wohl noch ... da sagtest du, du hättest deine Liebe unterdrückt.«

»Kann man denn das?«

Beide schwiegen. Die Uhr wisperte ihr feines Tiktak. Jemand kam die Treppe herunter. Viktor steckte seinen Kopf zur Tür hinein. Margot winkte ihm zu gehen. Wieder wurde es still. Von neuem wisperte die Uhr, wie verborgene Dinge, die sich zu regen beginnen.

Sie hatte ihn geliebt und gehofft, ihn zu besitzen. Und alles, was sie für ihn getan, war wohl geschehen um dieser Hoffnung willen. Und ... hatte sie sich bloß damit begnügt?

Lauter und lauter begannen die feinen Töne zu hämmern.

»Margot ... was du mir über deinen Stiefvater und Irmgard erzähltest ... ist das wahr?«

Sie antwortete nicht. Aber in ihrem scheinbar reglosen Gesicht verriet sich ein Ausdruck von Qual, daß es ihn erbarmte.

Sie hatte ihn geliebt, und was würde nun aus ihr? Er fühlte sich für sie verantwortlich.

»Man soll sein Leben nicht auf ein einziges stellen Das Leben ist nicht so arm. Auch ich glaubte mal, ich ginge kaputt. Und doch lebe ich.«

»Aber ich! Wozu? Wozu? Mein Grundsatz ist alles oder nichts.«

Er legte seine warme Hand auf ihre eiskalte und sprach auf sie ein, rang mit ihr mit heißen, eifernden Worten, überzeugt von der Unmöglichkeit, sie dem Tod zu entreißen, und doch mit dem festen Willen dazu. Er war entschlossen, die ganze Nacht bei ihr auszuharren und sie auch am nächsten Tag unter Obhut zu behalten. Er wiederholte immer dasselbe, daß niemand die Möglichkeiten des Lebens vorausahnen könne. Was der Mensch für das Ende halte, sei oft genug erst der Aufstieg zur Vollendung. Ja, in jedem Leben, das sich über die platte Mittelmäßigkeit erhebe, gebe es diesen toten Punkt, der überwunden werden müsse. Er erinnerte sie an jenen Abend am Rhein, an dem sie sich Freundschaft geschworen hatten. Er blieb bei seinem Pakt. Noch einmal trug er ihr seine Freundschaft an. Nicht in kläglichem, halbem Verzicht sollte sie ihr Leben weiterführen, sondern sie sollte ihrer Leidenschaft, den reichen Kräften ihres Innern ein größeres, würdigeres Ziel geben. Warum nützte sie nicht ihre Begabung und teilte sein Studium? War das nicht ein Mittel, um in noch ganz anderem Maß als bisher in seiner Arbeit mitzuleben?

Kein Wort, keine Regung ihres Gesichts verriet ihm den Eindruck seiner Worte. Nur ihre Augen, diese wie von einem trockenen Feuer verzehrten Augen, bekamen allmählich einen anderen Glanz, als wenn wirklich ein neuer Lebensfunke in ihrer Seele sich entzündete.

Er aber, durchdrungen von dem Gefühl, daß der Mensch, dem er so viel verdankte, nicht über ihm zugrunde gehen durfte, beschwor sie, um seinetwillen müsse sie leben, wenn nicht alles, was sie ihm bisher gewesen, verdunkelt, wenn nicht auf seine ganze Zukunft ein schwarzer Schatten fallen sollte. Sie lächelte, ihn beschwichtigend, gegenüber dieser Angst. Nein, sie wollte nicht mehr sterben. Sie wollte versuchen zu leben. Und sie baute seinen Plan weiter aus, überlegte, welche Universität sie wählen sollte. Er schlug ihr vor, in Berlin zu bleiben. Sie erwiderte, sie sehne sich fort, in Paris studiere eine Freundin von ihr.

Noch einmal erschien Viktor und wurde endgültig fortgeschickt.

Eine weitere Stunde verstrich. Die Nacht sei bald zur Hälfte vorüber, wisperte tröstend die Uhr. Und jede Minute, die verrann, bedeutete einen Schwimmstoß näher ans rettende Ufer aus dem dunklen Todesstrom.

Von Zeit zu Zeit bat Margot ihn, zu gehen. Aber er verlängerte sein Bleiben unter immer neuen Vorwänden.

Was ihn hielt, war nicht mehr nur sein Verantwortungsgefühl und das leidenschaftliche Verlangen des Arztes, ein Leben zu retten. Etwas von jener verhängnisvollen Kraft, die Margot überwältigt hatte, war in ihn übergegangen. Indem er immer stärker fühlte, was sie gelitten hatte, litt er mit ihr. Nie war er ihr menschlich so nahe gewesen wie in dieser Stunde, und seine wiederholte Beteuerung, daß er ihr Freund sei und ihrer Freundschaft bedürfe, war aufrichtig. Aber zugleich regte sich unabweislich in ihm der Argwohn, daß sie eine Schuld gegen ihn verberge. Etwas, das auf ihr lastete und sie nicht zur Freiheit gelangen ließ.

So wiederholte er seine Frage, ob das, was sie ihm über ihren Stiefvater und Irmgard erzählt hätte, wahr sei.

Von neuem erschien dieser gequälte und ängstliche Ausdruck auf ihrem Gesicht.

»Sag's doch!« bat er. »Ich versteh' ja so gut, wie du dazu gekommen bist. Du liebtest mich, und Irmgard war dir im Wege.«

»Als ich es dir erzählte, habe ich's geglaubt.«

»Und jetzt?«

Obwohl sie sich nicht bewegte, fühlte er doch, daß sie vor ihm zurückwich und sich verschloß.

»Erinnere dich, Margot, einmal, da meintest du's wirklich gut mit mir. Da dachtest du nicht an deine Wünsche. Da schenktest du, weil dein Herz reich und weit war. Erinnerst du dich?«

Sie strich über ihre Stirn, schloß die Augen und wandte sich ab.

Offenbar verstand sie, was er meinte. Jene einzigartige Stunde eines fast überirdischen Glücks, wo sie ihm um ihrer Liebe willen ihre Hilfe angeboten hatte, wo ihr Herz leicht und frei geschlagen hatte, obwohl sie fühlte, daß sie ihn nie besitzen würde ... jener kurzen, längst vergessenen Stunde dennoch überdauernde Erlösungskraft schien wieder in ihr lebendig zu werden und überhauchte ihre unschönen Züge mit einem verklärenden Schimmer.

»Und jetzt, Margot? Was glaubst du jetzt von den beiden?«

Sie blickte ihn an.

»Frag' doch Irmgard selbst!«

»Du schickst mich zu ihr ... weil du nicht mehr daran glaubst?«

In kraftloser Ermattung sank ihr Kopf nach vorn, sie stützte ihn und beschattete ihre Augen mit der Hand.

»Hab Dank, Margot! Und wir sind wirklich Freunde?«

Sie erwiderte leise den Druck seiner Hand.

»Aber nun geh auch!«

Doch noch immer blieb er, zurückgehalten von seiner Angst, bis er merkte, daß sie der Anspannung nahezu erlag.

»Ich kann nicht mehr. Begreife doch! Selbst wenn ich das wollte, was du fürchtest, ich könnte es einfach nicht. Ich hab' nur den einen Wunsch, ins Bett zu sinken und zu schlafen.«

Da ging er, endlich beruhigt.

Im Augenblick des Abschieds aber, während ein stummes Bitten ihrer Augen, eine Regung seines Herzens zusammenklangen, zog er sie an sich und drückte einen langen Kuß auf ihre Lippen.

Als er fort war, entnahm Margot ihrem Bücherschrank einen Band Montaigne und las darin den Essay: »De juger de la mort d'autruy«. Bald aber ließ sie das Buch sinken. Alle Müdigkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden. Ein tief nachdenklicher Mensch saß sie da, der die Wage, auf der Sein und Nichtsein liegen, in der Hand hält, und die Schale des Lebens leer und leicht findet.

Gegen Morgen aber schrieb sie die folgenden Zeilen auf einen Briefbogen:

»Du findest mich in der Blücherstraße. Ich kann nicht mehr und ich mag nicht mehr. Ich habe geglaubt, wir beide wären füreinander bestimmt. Auf dies Ziel habe ich hingearbeitet im Guten wie im Bösen. Für dies Ziel wollte ich leben und sterben. Der Tod ist die einzige Rechtfertigung für mich. Du mußt ihn mir schon lassen. Aber auf Dein Glück soll kein Schatten fallen. Leb' wohl! Deine Margot.

Hab' Dank für den Kuß!«

Dann verließ sie leise das Haus.


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