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[20]

Tag, Heinz.«

»Tag, Georg.«

Es war Doktor Brand», der sich vor kurzem als Spezialist für Ohren- und Nasenkrankheiten etabliert hatte.

»In die alte Behausung zurückgekehrt?«

»Die Bude gefällt mir. Teuer ist sie auch nicht. Und die Straße ist still. Man kann ungestört arbeiten.«

»Standpunkt! Ich habe mich mitten ins Gewimmel gestürzt. Brunnenstraße. Eckhaus. Riesenschild. Dazu 'ne Nachtglocke. Falls eener nachts 'nen Schnupfen kriegt.«

»Und die Praxis?«

»Macht sich. Viel zu tun ist ja nicht, bei dem verdammten schönen Wetter. Übrigens du, deine Veröffentlichung ist famos. Die macht Furore.«

»Freut mich.«

»Ernsthaft! Mich haben schon verschiedene Leute daraufhin ankrakeelt. Gestern sprach ich mit dem Assistenten von Guhnott darüber.«

War sagte der?«

»Weiter nichts als: So'n Aas! Warum fällt unsereinem das nicht ein? – Ich war natürlich neugierig, wie sich der hohe Chef dazu stellt.«

»Und der?«

»Schweigt sich aus.«

»Hat's wahrscheinlich gar nicht gelesen.«

»Doch! Die Nummer hat aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch gelegen. Aber gesagt hat er keinen Ton. 's ist ihm wahrscheinlich in die Nase gestiegen, daß so'n junger Dachs, so'n Außenseiter ihm das Wasser abgräbt.«

»Aber davon ist doch keine Rede.«

»Na? Jedenfalls ist es 'ne famose Sache. Ich habe mich übrigens 'n bißchen mit dir dicke getan und erzählt, wie ich dich gewissermaßen aus der Taufe gehoben habe. Erinnerst du dich noch an dein Jungfernkolleg bei Guhnott?«

»Das werde ich wohl nie vergessen.«

»Was warst du damals begeistert! Und jetzt machst du ihm Konkurrenz. Übrigens mit dem Guhnott muß es, weiß der Teufel, faul stehen.«

»Wieso denn?«

»Gestern hat er 'nem Patienten aus Versehen den Fazialis durchschnitten.«

»Das kann jedem passieren.«

»Immerhin, es ist symptomatisch. Aber auch sonst geht's bei ihm drunter und drüber. Mir scheint, der Mann kommt ins gefährliche Alter.«

»Rauchst du nicht?«

Heinz war das Thema peinlich. Aber Brandis, der im Schuß war, ließ sich nicht unterbrechen.

»Ne, danke! Übrigens hat er jetzt 'n reizendes Mädel in seiner Klinik. Du kennst sie. Warst sogar mal in sie verschossen. Die kleine Raumer aus Jena.«

Heinz sprang auf, um seine Erregung zu verbergen, ging zum Schreibtisch, dann fiel ihm ein, daß er seine Zigarrentasche im Mantel verwahrte. Er holte sie vom Flur und reichte sie seinem Freund.

»Also jetzt nimm eine!« sagte er beinahe barsch. »Sie sind ganz leicht. Das reine Stroh.«

»Menschenskind, meine Schleimhäute sind ja schon so ausgedörrt wie'n alter Schinken im Rauchfang. Das ist nun schon die achte heute. Dabei muß ich doch meinen Patienten mit gutem Beispiel vorangehen.«

Er nahm aber doch eine und hatte sie kaum angezündet, als er fortfuhr:

»Irmchen Raumer, 'n süßes Mädel. Dunkle Augen. Brünett. Und konnte so reizend lachen. Na, seitdem ihre Mama mit Tode abgegangen ist, befindet sie sich in der Klinik als Schwester. Und der Guhnott hat sich, wie's scheint, ihrer ein bißchen heftig angenommen. Das heißt, der Assistent, der mir's erzählt hat, behauptet, es wäre rein platonisch zugegangen. Die beiden hätten wohl mal Autofahrten in den Tiergarten gemacht. Aber nur vormittags.«

Brandts blies einen Ringel, schaute tiefsinnig hinein und brummte:

»Vom medizinischen Standpunkt wüßte ich eigentlich nicht, warum die Vormittagsstunden ungefährlicher als andere Tages- und Nachtzeiten sein sollten. Was sagst du dazu?«

»Ich?«

»Na ja, du kennst doch das Mädel. Bei Guhnott hast du auch verkehrt. Hältst du ihn für fähig, daß er mit einer Schwester, die noch dazu seine Schutzbefohlene ist, was anfängt?«

Heinz hörte Margots Stimme: »Er wagt dir nicht mehr in die Augen zu sehen. Denn er ist schuld, daß du mit Irmgard auseinander gekommen bist ...« Er dachte an das Bild mit seiner verräterischen Unterschrift: »Mein Herz ist ganz – ganz voll von dir.«

Wenn jemand vor einem Jahr die Frage an ihn gerichtet hätte, die jetzt Brandis stellte, er hätte entrüstet »Nein« geantwortet. Er hätte für die Unschuld der beiden seine Hand ins Feuer gelegt. Jetzt aber ...

Ein bohrendes Wehgefühl durchdrang ihn, ein ganz persönlicher Gram: Er fühlte, daß ihm etwas Schönes und Kraftvolles, das ihn in allem Unglück aufrecht gehalten hatte, gegen ein Niedriges und Quälendes vertauscht worden war.

Verwundert sah Brandis den Freund an, der sich hinter dem Rauch seiner Zigarre wie hinter einem Schleier verbarg, ohne jedoch das Zittern seiner Lippen und die Blässe seines Gesichts ganz verstecken zu können.

Dem scheint die Geschichte ja verflucht nahe zu gehen, dachte er. Da habe ich hübsch ins Fettnäpfchen getreten.

»Also eigentlich hast du recht. Keine Antwort ist hier die beste Antwort. Was Gewisses weiß man ja doch nie. Und uns geht's schließlich nichts an. Übrigens, wie steht's? Ich muß in die Prinz-Albrecht-Straße. Begleitest du mich ein Stück?«

Bis in die Nähe des Potsdamer Platzes ging Heinz mit, dann verabschiedete er sich, um bei Josty eine Tasse Kaffee zu trinken. Das war seit einiger Zeit seine Gewohnheit. Diese halbe Stunde bedeutete für ihn die einzige Erholung am Tage. Dann pflegte er über den Potsdamer Platz auf die endlose Leipzigerstraße hinunter zu blicken, die um diese Spätnachmittagsstunde in Dunst und Rauch ertrank. So viele Menschen sich auch vor seinen Augen bewegten, er sah keinen davon, und seine Gedanken, die rastlos mahlenden Gedanken eines Gehirns, dem geistiges Arbeiten zum Zwang geworden ist, wurden von diesem Gewimmel ebenso wenig berührt wie die Wolkenzüge am blauen Sommerhimmel.

Heute war es anders. Heute zerteilte sich vor seinen starrenden Augen die wogende Masse zu tausend verschiedenen Einzelwesen, und jede weibliche Erscheinung, die in der Ferne auftauchte, ließ ihn erzittern bei dem Gedanken, sie könne Irmgard sein.

Was geht's dich an, daß Irmgard in Berlin ist? sprach eine Stimme zu ihm. Ist nicht alles aus? Bist du nicht gänzlich geheilt? Willst du dich zu allem, was du ausgestanden hast, auch noch lächerlich machen?

Aber eine andere Stimme, mit der sich das gütige, zuversichtliche Antlitz seiner Mutter verband, klang auch in ihm und erweckte erstorbene Seelenkräfte zu neuem Leben.

Plötzlich erhob er sich. Er wollte Gewißheit haben.

Auf dem kurzen Weg über die Potsdamer Straße spielten sich hundert Szenen der vergangenen Zeit vor seinem geistigen Auge ab. Tage des Glücks, Stunden verbitterten Grübelns folgten wirr aufeinander. Aus dem regelmäßigen Schlagwerk seines Innern war ein brodelnder Kessel geworden.

Aber plötzlich blieb er stehen, getroffen von der Wucht des einen Gedankens: Wie war es möglich gewesen, daß er sich die Gewißheit, der er jetzt mit jedem Schritt entgegeneilte, nicht schon früher verschafft hatte? Wie hatte er sich bei dem, was Irmgards Mutter ihm gesagt, was Margot ihm erzählt hatte, beruhigen können? Warum hatte er nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt, um von Irmgard selbst sein Schicksal zu erfahren?

Sein Ehrgeiz, seine Arbeit – die hatten ihn festgeschmiedet und seinen Willen gelähmt. Im Dienst der Wissenschaft hatte er sein Glück versäumt.

Aber nun, wo er etwas war, wo er wenigstens ein vorläufiges Ziel erreicht hatte, wollte er gutmachen, was sich gutmachen ließ. Und mußte denn wirklich alles verloren sein?

Immer heller strahlte in ihm das Licht eines mutigen Glaubens an das Glück, das die Erinnerung an seine Mutter entzündet hatte.

Der Pförtner ließ ihn ohne weiteres eintreten. Auf dem Gang traf er eine Schwester.

»Kann ich Fräulein Raumer sprechen?«

»Wen darf ich melden?«

Er nannte seinen Namen.

»Einen Augenblick.«

Aber eine Endlosigkeit verstrich, bis das junge Mädchen kam und erklärte, sie habe Schwester Irmgard nicht finden können. Wahrscheinlich sei sie im Garten. Am besten sehe er selbst nach.

Auf den verschlungenen Wegen lag gedämpftes Sonnenlicht. In den Zweigen der hohen Bäume zwitscherten Vögel. Ein blühendes Azaleenbeet prangte auf grünem Rasengrund, in den unzählige weiße Gänseblümchen eingestreut waren. Patienten in leichten sommerlichen Kostümen ergingen sich oder saßen auf Bänken.

Heinz fragte einen Wärter nach Irmgard.

»Soviel ich weiß, war sie vorhin im Waschhaus.«

Er folgte der bezeichneten Richtung. Da sah er zwei Schwestern, die jede einen Packen geplätteter Wäsche auf den vorgestreckten Armen trugen, aus einem niedrigen Gebäude kommen. In der einen erkannte er schon aus der Entfernung Irmgard. Sie hatte ein blauweiß gestreiftes Leinenkleid an.

Er ging ihnen entgegen, zog den Hut. Irmgard erhob ihr Gesicht. Jetzt erkannte auch sie ihn. Beide näherten sich einander, langsam, als würden ihre Schritte von einer unwiderstehlichen Gewalt gebremst. Irmgard blieb hinter der andern Schwester zurück. Eine Spannung, eine Angst lag in ihnen beiden, wie sie die Lokomotivführer zweier aufeinanderzufahrender Züge empfinden mögen.

»Schwester ...«

Irmgards Gesicht wurde weiß wie die Leintücher in ihren Händen, aber sie hatte noch die Kraft zu sagen:

»Wen wünschen Sie zu sprechen?«

»Dich selbst, Irmgard.«

Und ohne daß sie es ihm wehrte, nahm er ihr die Last ab und legte sie auf eine Bank nieder.

Sie warf einen hilfesuchenden Blick auf die Schwester, die sich jetzt verwundert umblickte, und rief ihr nach:

»Ich komme gleich.«

Aber sie blieb stehen. Bewegungslos, mit gesenktem Kopf, so daß sein Blick auf den weißen Scheitel zwischen ihren dunklen Haaren fiel.

»Ich hörte, daß du hier bist. Vor einer Stunde hat mir das jemand erzählt. Ich bin gekommen, um dich zu sehen. Ich mußte wissen, wie es dir geht.«

Sie antwortete nicht. Nicht einmal ein Atemzug verriet ihm, daß Leben in ihr sei.

»Wie geht es dir?«

Für eine Sekunde erhob sie ihr Gesicht

»Gut.«

Wie wenig hatte sie sich verändert – und war doch eine ganze andere geworden. Die Stirn, die Wangen, der Mund – dieselben, die er geküßt hatte. Aber in ihren Augen suchte er vergeblich den Ausdruck von einst.

»Es war ja immer dein Wunsch, Schwester zu werden. Und nun fühlst du dich wirklich befriedigt?«

»Vollkommen.«

»Wie lange bist du hier?«

»Seit Mutters Tod. Seit einem halben Jahr.«

»Und ich habe das nicht gewußt! Wie oft bin ich hier vorbeigekommen. Ich bin ja die ganzen Jahre in Berlin gewesen. Wußtest du das nicht?«

»Ich hörte es.«

»Und hast dich nie darum gekümmert?«

»Nein.«

Wieder traf ihn ein Blick, und es lag nicht nur Fremdheit darin, sondern unwillige Abneigung. Obwohl sie keine Bewegung machte, hatte Heinz das Gefühl, daß sie in diesem Augenblick sich von ihm entfernte. Und vielleicht hätte sie das auch getan, wenn nicht Bestürzung und Scheu sie zurückgehalten hätten.

»Ich hatte darauf gehofft. Denn ich konnte es doch nicht, da ich deiner Mutter versprochen hatte, mich dir nicht mehr zu nähern. Weißt du das nicht?«

Sie schwieg. Erst als er seine Frage wiederholte, brachte sie mit gebrochener Stimme hervor:

»Sie hat's mir gesagt.«

»Also. Ich war gebunden. Ich hatte mein Ehrenwort gegeben. Aber du warst frei. Und doch kein Wort von dir. Keine Aufklärung. Da dachte ich, du willst nicht. Mußte ich das nicht denken?«

Keine Antwort.

»Ist dir diese Aussprache lästig? Quäle ich dich? Dann sag's. Dann geh' ich.«

Aber auch hierauf gab sie kein Zeichen.

»Deine Mutter sagte mir damals, ich hätte dich kompromittiert. Ich müßte sofort abreisen. Auch du hättest eingesehen, daß aus unserer Heirat nichts werden könnte, und wolltest nichts mehr von mir wissen. Da bin ich abgereist.«

»Warum hast du mich nicht gefragt?«

Er grübelte nach. Er suchte diese furchtbare Stunde seiner Unterredung mit Irmgards Mutter in sich zu rekapitulieren, Sekunden, schleppende unglückselige, vernichtende Sekunden verstrichen.

»Sie behauptete es so fest, da glaubte ich ihr schließlich Ich wollte ja mitkommen und dich herunterrufen lassen. Wer dann dachte ich, ich müßte es dir ersparen, daß du es mir selbst ins Gesicht sagtest.«

Wieder traf ihn ein Blick, in dem zu lesen war, daß sie ihm nicht glaubte.

Da stieg die Erinnerung an alles, was er gelitten hatte, mit heißem Groll in ihm auf.

»Wenn ich nicht richtig gehandelt habe, so habe ich mich noch in der Nacht meiner Abreise eines Besseren besonnen. Da hätte noch alles gut werden können. Aber es war ja nicht allein deine Mutter, die uns auseinandergebracht hat. Es war noch jemand ganz anders, der war mein Feind und ist es heute noch. Und ehe ich nicht weiß – ich wollte nicht von ihm sprechen. Ich wollte seinen Namen nicht nennen in diesem Augenblick. Aber er steht ja noch immer zwischen uns, auch jetzt, wo deine Mutter tot ist. Ein Wort, Irmgard kann alles erklären – kann alles zu Ende bringen. Soll ich es sagen? Wirst du mir antworten?«

»Was meinst du?«

»Wie stehst du zu Professor Guhnott?«

»Professor Guhnott ist der einzige Mensch, der es immer treu mit mir gemeint hat.«

»Aber an mir hat er desto gemeiner gehandelt.«

»Er an dir?«

»Jawohl! Er ist schuld, daß wir auseinander gekommen sind.«

»Daran bist du schuld! Du allein!«

»Irmgard!«

Er eilte ihr nach, da beschleunigte sie ihre Schritte. Er suchte ihren Arm zu ergreifen, aber sie riß sich los und stürzte davon.


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