Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11.

Seitdem war das Lebensschifflein des jungen Tann in ein pfeilgeschwindes Fahrwasser geraten. Zwei Jahre vergingen im Flug.

In Berlin attachierte er sich besonders an seinen Freund Brandis von den Zimbern, den er dort wieder getroffen hatte.

Das neue Studium machte ihm die Arbeit zur Lust. Brandis, der sah, wie viele Kollegs er belegt hatte, versicherte ihm zwar, er würde sie nicht alle durchhalten können. Ihm bliebe ja kaum Zeit zum Mittagessen. Heinz lachte ihn aus. In der Anatomie, in den Hörsälen vergaß er Hunger und Durst. Sein glückliches Gedächtnis bewältigte leicht die Menge Namen, die sich der junge Student der Medizin einprägen muß. Bald würde er sein Physikum machen.

Das war der Anfang. Der gewöhnliche Verlauf. Das Eigentliche und Außerordentliche lag weit dahinter. Und danach verlangte ihn. Wie ein junger Löwe, der sich seiner Stärke bewußt geworden ist, lechzte er nach ernsthaftem Kampf und wälzte in seinem Kopf schon Probleme, die auf dem Arbeitsfelde seines Vaters lagen.

Jeden Ersten bekam er den fünffach versiegelten Brief von der Bank, der ihn für einen Monat zum Krösus machte, ihm erlaubte, sich elegant zu kleiden, in guten Restaurants zu essen und Vergnügungen mitzumachen.

Bei so viel Glück sonnte sich seine Seele ein wenig in ihrem eigenen Licht. Der unverhoffte Schicksalswechsel erschien ihm als eine Belohnung dafür, daß er der Versuchung widerstanden hatte, sich an seinen Vater zu wenden. Nun hatte er dasselbe erreicht, ohne seinem guten alten Papa wehtun zu müssen.

Das Leben erschien ihm als ein freundliches, wohlgehegtes Land, in dem sich zurechtzufinden man nur des rechten Gefühls bedurfte.

Was konnte ihn noch von seinem Glück trennen? Er würde seine Examina machen und Irmgard heiraten. Er freute sich schon auf den Tag, wo er bei der mürrischen alten Dame um ihre Hand anhielt. Sie würde zweifellos einige Einwendungen machen, oder er würde diese glänzend widerlegen. Und mit dem verzeihlichen Optimismus seiner Jugend zählte er ihr seine Hoffnungen als bare Münze vor.

Bis dahin freilich hieß es Geduld haben und sich damit abfinden, daß er die Geliebte nur selten sah. Häufiger traf er mit Margot zusammen, die oft mit ihrer Mutter nach Berlin herüberkam.

In diesen Weihnachtsferien nahm Heinz eine Einladung des Professors Guhnott nach Oberhof an, der auch Irmgard und ihre Mutter gefolgt waren.

Es war die Zeit der großen Sportwoche.

Schnee so weit das Auge reichte. Stahlblanke Abhänge, wie Topase funkelnd oder von violettem Flimmern überhaucht. Auf der Chaussee, die sich durch schwarzgrüne Waldnacht hindurchwand, wo Eiszapfen drohten, und zwischen sonnigen Halden, wo es von zahllosen Bächlein rieselte, herrschte ein lebensgefährliches Gewimmel. Schnarrende, tutende Autos, Pferdeschlitten mit bimmelnden Glöckchen und unzählige Lenkrodel, die zu Tale sausten, wobei die apfelsinenfarbenen, himbeerroten, spinatgrünen, ultramarinblauen, zebrahaft gestreiften Insassen einen unbeschreiblichen Lärm verursachten aus Trillerpfeifen und Kindertrompeten, oder indem sie einfach mit vollster Lungenkraft: »Bahn frei! Bahn frei!« schrien. Darüber aber wölbte sich die Himmelsglocke von Azur, stromweise ergoß sich das Sonnengold, und in der kristallklaren Luft tanzte ein Blitzen und Gleißen, als wären alle Diamanten der Welt pulverisiert und hier verstreut worden.

Natürlich waren sämtliche Hotels bis unter das Dach gefüllt. An einem runden Tisch des Kurhauses saß Professor Guhnott mit seiner Gesellschaft.

Der Professor gab sich ganz der Lust des Augenblicks hin. Aus dem sonnverbrannten Gesicht strahlten die blauen Augen in studentischem Übermut. Er neckte alle Welt. Besonders Irmgards Mutter mußte leiden, die er wegen ihres Glaubens an die Kurpfuscher, wegen ihrer Traumdeutereien und ihrer Chiromantie aufzog. Die spitznasige kleine Frau hörte seine Scherze mit verbindlichem Lächeln an, rächte sich aber im stillen dafür, indem sie Frau Guhnott zu ihren Ideen bekehrte. Diese hatte sich schon eine Flasche magnetisches Wasser aufschwatzen lassen, das sie zweifelnd und doch nicht ganz ungläubig gegen ihre Magenbeschwerden trank.

Heute aber war zum Necken keine Stimmung. Das Gespräch drehte sich nur um das am Nachmittag bevorstehende Bobsleighrennen. Jeder von dem jungen Volk hatte seinen Favoriten. Margot wettete auf die »Fliege«, die von Erfurter Offizieren gesteuert wurde. Irmgard war für »Wickersdorf II«. Heinz hatte mit der Mannschaft des »Kondor« heute morgen eine Fahrt mitgemacht. Man fragte ihn nach seinen Eindrücken. Herrlich, wie es im Hui hinunterging durch dunklen Wald, dann tat sich plötzlich der Blick in meilenweite Täler auf, aber rasch war man in der großen Kurve – in einer sprühenden Gischt von Schnee, förmlich als wäre man in wildschäumende Meerbrandung getaucht.

»Und wie war Ihnen zumute?« wandte Viktor sich plötzlich an Irmgard.

Das junge Mädchen fuhr erschrocken zusammen. Professor Guhnott murmelte ein zorniges Wort, Frau Raumer aber ließ Messer und Gabel fallen.

»Was? Du hast doch nicht die Tollheit begangen ...?«

»Erschrecken Sie nur nicht, gnädige Frau,« half Guhnott seinem Schützling. »Es sieht gefährlicher aus, als es ist. Bei einer sicheren Mannschaft kann so leicht nichts passieren.«

Frau Raumer aß nach einem langen Atemzug stumm weiter. Irmgard aber wußte, ihr stand eine böse Szene bevor.

»Wie konntest du das sagen?« stellte nachher Professor Guhnott seinen Sohn zur Rede.

»Es fuhr mir so heraus.«

»Nein, das entfuhr dir nicht. Das geschah aus Böswilligkeit. Schäm' dich!«

Viktor warf seinem Vater einen heimtückischen Blick nach.

Schon vor der Reise war es zwischen Vater und Sohn zu einem erregten Auftritt gekommen. Viktor hatte endlich seine lang verheißene Doktorarbeit beendet. Ein mit Guhnott befreundeter Professor, dem dieser sie zu privater Durchsicht übersandt, hatte geantwortet, die Arbeit sei an sich recht tüchtig, nur leider abgeschrieben.

Schlimmer als diese Blamage, die Viktor achselzuckend mit der Bemerkung trug, daß alles Vernünftige schon einmal gedacht, also abgeschrieben sei, kränkte ihn Irmgards Benehmen. Früher hatte sie sich wenigstens mit ihm gezankt, jetzt vermied sie jedes Zusammentreffen mit ihm. Mit Heinz dagegen steckte sie, wie er behauptete, fortwährend zusammen. Dabei übersah er freilich, daß in Gesellschaft der beiden sich fast immer sein Vater befand.

Seine maßlose Eifersucht riß ihn in Gegenwart seiner Schwester zu förmlichen Wutanfällen hin. Also das war das Resultat von Margots herrlichem Plan! Darum hatte man den widerlichen Kerl aus seiner Armseligkeit herausgerissen, damit er ihm seine Flamme abspenstig machte! Das war die vorausgesetzte Hochherzigkeit und Dankbarkeit dieses falschen Halunken!

Solchen Szenen gegenüber bewahrte Margot eine verächtliche Gleichgültigkeit. Ihr war der Bruder mit seiner Würdelosigkeit geradezu ein warnendes Beispiel. Sie wäre lieber an ihrer Qual verblutet, als daß sie ihren Stolz unter die Füße getreten hätte. Innerlich aber litt ihre feiner organisierte Natur hundertmal schlimmer als er.

Schon der Gedanke an dies Beisammensein mit Heinz in Irmgards Gegenwart hatte sie mit Unruhe und peinigenden Ahnungen erfüllt. Aber sie hatte sich gesagt, es handele sich ja nur um zwei Wochen. Ein halbes Jahr fast hatten die beiden sich nicht gesehen, und bald würde wieder ein halbes Jahr oder noch mehr vergehen, das sie voneinander trennte.

Aber sie hatte nicht bedacht, daß zwei Wochen vierzehn Tage sind, vierzehnmal vierundzwanzig Stunden, und daß eine einzige Stunde oft mehr Qual verursachen kann, als ein in eifersüchtiger Liebe sich verzehrendes Herz zu ertragen vermag.

Sie hatte sich geschworen, nichts gegen die beiden zu unternehmen und dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Als guter Kamerad, der keinerlei Ansprüche stellt, wollte sie mit vergnügter, harmloser Miene sich dem Bunde der beiden zugesellen.

Aber schon nach wenigen Tagen bemerkte sie, daß diese Verstellungskunst ihre Kraft überstieg. Wenn sie frühmorgens die beiden in der Hotelhalle traf, in traulich wichtiger Unterhaltung, von ihrem Liebesglück wie von heimlichem Sonnenschein umwebt, oder wenn sie, der andern zuvorkommend, mit Heinz sich unterhielt und dann bemerkte, wie sein eben noch gleichgültiges Gesicht beim Herannahen Irmgards aufleuchtete, wie er mitten im Satz emporsprang, ihr entgegeneilte, oft mehrere Stufen die Treppe hinauf – was er niemals bei Margot tat –, wie er von dem Augenblick an ein ganz anderer wurde und festtägliche Lichter aufsteckte: dann wälzte sich über sie etwas wie eine graue, erdrückende Schneewolkenmasse. Sie, der es sonst nicht an schlagfertigem Witz und munteren Einfällen fehlte, erstarrte innerlich, versank in mattes Schweigen, wurde übellaunig und konnte oft nicht einmal eine Art ungewollter Bosheit unterdrücken.

Und später flößte die Erwartung dessen, was mit erbarmungsloser Gewißheit kommen würde, ihr so viel Schwermut und Grauen ein, daß sie am liebsten wie eine Kranke den ganzen Tag im Bett geblieben wäre.

Die Schneeluft, die der andern Gesichter in frischem Feuer erglühen ließ, zeichnete auf ihre gelbliche Haut nur rote Flecken. Ihre Augen waren von bläulichen Zirkeln umschattet. Ihr Aussehen war so auffallend, daß die andern sich nach ihrem Befinden erkundigten. Sie antwortete: »Ein bißchen Kopfschmerz.« Diese Fragen, diese Antworten wurden mit der Zeit stereotyp, und ebenso stereotyp wurde die Flut von Qual, die dabei in ihr emporstieg. Besonders auf Heinzens Gesicht glaubte sie jedesmal einen unerträglichen Mitleidsausdruck zu bemerken.

Sie tat ihm unrecht. Auch in anderer Beziehung. Gewiß drängte Heinz sein natürliches Gefühl an Irmgards Seite, und in seiner Harmlosigkeit kam ihm nicht der Gedanke, sich zu verstellen. Aber zugleich war er ehrlich bemüht, seine Freundin darüber nicht zu vernachlässigen und die kleinen Dienste der Ritterlichkeit, die eine Dame von ihrem Kavalier fordern kann, auf beide gerecht zu verteilen. Beim Schlittschuh-, beim Skilaufen kam es oft genug vor, daß Irmgard von dem Professor und seinem Sohn umgeben war, während Heinz sich an Margots Seite hielt.

Aber deren hadernde Liebe war unfähig, diesen guten Willen zu würdigen. Ihr zerquältes Herz suchte krampfhaft nach Ursachen zu grollen. Immer wieder stieg der Gedanke in ihr auf: sie würde alles ertragen können, wenn Heinz nur seine Liebe nicht so schamlos zur Schau trüge, wenn er nur auch gegen sie ein klein wenig gut wäre.

Übrigens erregte Heinzens Benehmen in diesen Tagen auch noch den Unwillen anderer Leute.

Frau Guhnott hatte bis dahin seine Liebe zu Irmgard mit sentimentalem Wohlwollen betrachtet. Was gab es auch Erfreulicheres in dieser poesielosen und von lauter egoistischen Motiven entstellten Welt als ein lauterer Liebesbund? Doch sobald sie merkte, daß dies Interesse mit dem ihres Sohnes widerstritt, bekam die Angelegenheit ein ganz anderes Gesicht.

Vor einem halben Jahr hätte die Zumutung, daß sie ihren Sohn einem armen Mädchen gönnen sollte, sie noch empört. In letzter Zeit aber machte sie sich immer ernstere Sorgen um Viktors Zukunft. Von Verwandten, die ihn in Berlin heimlich beobachtet hatten, war ihr mitgeteilt worden, daß sein Lebenswandel keineswegs einwandfrei sei. Man hatte sie sogar dringend vor einer gewissen kleinen Schauspielerin gewarnt. Viktor wies diese Verdächtigungen mit großer Entrüstung zurück und erklärte, die stark duftenden Briefe, die er von Zeit zu Zeit erhielt, rührten von einem Bekannten her, der als moderner Ästhet sich auch die Kultur des Geruchsinnes angelegen sein lasse. Aber die Mutter schwebte seitdem in steter Angst um ihn, und als eines Tages seine unbeherrschte Eifersucht ihr verriet, wie es wirklich um sein Herz bestellt war, atmete sie erleichtert auf.

Leichtbeweglich wie sie war, besprach sie mit Margot diesen Plan einer Heirat, wie eine Angelegenheit, die letzten Endes nur von ihrer Einwilligung abhing. Daß Irmgards Herz schon vergeben war, behandelte sie als ein unschwer zu beseitigendes Hindernis. Und was vollends Heinz betraf, so wies sie darauf hin, daß Frau Raumer dessen Bewerbung ja nie und nimmer zugeben würde. Außerdem hatte man wohl das Recht, von ihm ein wenig Dankbarkeit zu erhoffen ... Es handelte sich da eben um eine erste Liebe, um etwas Reizendes und tief Rührendes, das jedoch den Erfordernissen des praktischen Lebens unmöglich standhalten konnte ... Ja, bald gelangte sie zu der Ansicht, daß Heinz selbst dies einsehen müsse und gut daran täte, mit seinen Huldigungen etwas zurückhaltender zu sein.

Es lag für Margot eine unheimliche Verlockung darin, ihre Mutter in diesen Absichten zu unterstützen. Aber sie war tapfer genug zu widerstehen, sagte weder ja noch nein und kümmerte sich auch nicht um das, was die beiden alten Damen von nun an heimlich miteinander besprachen.

Frau Raumer nahm die vorsichtigen Andeutungen ihrer Freundin als ein Zeichen der Fürsorge Gottes. Ihr war der verliebte Studiosus Habenichts schon längst ein Dorn im Auge. Seinetwegen hatte Irmgard manchen Nadelstich zu fühlen bekommen, und nur die Rücksicht auf den Geheimrat hatte ihre Mutter zurückgehalten, gegen Heinz energischer vorzugehen.

Desto eifriger aber förderte sie ihren Herzenswunsch Frau Guhnott gegenüber. Und in den langen Nachmittagsstunden, wahrend das junge verliebte Volk sich über Eis und Schnee tummelte, saßen die beiden Damen in einer molligen Ecke der Halle und mischten die Schicksalskarten beim künstlichen Blinkfeuer des Kamins und bei vielen Tassen Tee mit geheimnisvoll andeutenden Phrasen und gefühlvollen Seufzern.

Und derweil kämpfte Margot den grausamen, hoffnungslosen Kampf gegen ihre Leidenschaft. Jeden Abend fragte sie sich mit wachsender Verzweiflung: Was will ich denn eigentlich? Über meinen eigenen Schatten springen. Mir das entreißen, was mit meinem Herzen verwachsen ist wie mein Herz selbst mit meinem Leib? Ohne Trost zu finden, vertiefte sie sich in ihre Bücher. Die sonst so wohltätigen Beschwörungen erwiesen sich als machtlos, die Worte mit ihrem kühlen, lindernden Sinn verdampften vor den brünstigen Gluten ihres Innern.

Eines Abends betrat Margot ihr Zimmer, ließ sich stöhnend auf den Bettrand nieder und starrte mit dem Blick einer Hypnotisierten vor sich hin, während sie zugleich mechanisch über Stirn und Augen strich, als suchte sie etwas davor Befindliches fortzuwischen.

Was denn? Was denn? wiederholte sie, sich krampfhaft beruhigend. Was ist denn geschehen? Sie haben sich gute Nacht gesagt ... sich die Hände gedrückt ... sich angelächelt ... Warum nicht?

Aber in diesem Händedruck, in diesem Lächeln hatte sich etwas verborgen wie ein heimliches Versprechen, wie ein Erschauern unter der Ahnung eines nahen Glücks.

Und in Margots Hirn trieben jetzt aufregende Vorstellungen ein qualvolles Spiel.

Langsam begann sie sich zu entkleiden, ließ achtlos ihre Sachen zu Boden fallen. Dann kämmte sie die Haare zur Nacht, indem sie sich mit vergrämtem Ausdruck im Spiegel betrachtete. Wie war sie sich von Grund aus verhaßt!

Eine schwere, trockene Wärme strömte aus der Heizung. Sie öffnete das Fenster.

Die Eisluft drang herein wie der Atem des draußen lauernden Todes. Aus dem schwarzen Himmel stachen die glitzernden Sterne gleich Eissplittern.

Margot spürte mit schmerzlicher Lust, wie ihre Glieder erstarrten. Aber die Gluthitze ballte sich nur noch dichter in ihrem Kopf zusammen und drohte ihn zu zersprengen. Die ersehnte Mattigkeit wollte nicht kommen, statt dessen bewegten sich ihre Vorstellungen in immer wüsterem Tanz.

Am nächsten Morgen erwachte sie mit unerträglichen Kopfschmerzen und klingelte das Zimmermädchen herbei, um sagen zu lassen, daß sie nicht zum Frühstück komme.

Das Zimmermädchen war eine mitfühlende Person. Zwischen sich und Margot witterte sie eine heimliche Verwandtschaft. Von unscheinbarem Äußern, das intelligente Gesicht entstellt durch eine rötliche Narbe, rächte sie sich für die Gleichgültigkeit der Gäste, die sie als eine prompt dem elektrischen Läutewerk gehorchende Maschine betrachteten, dadurch, daß sie ihnen desto mehr Interesse entgegenbrachte. Ihre Neugierde war nicht ohne Bosheit. Sie liebte es, aus dem Zustand der Koffer, der Kleider, der Wäsche, aus unbedeutenden Kleinigkeiten Lebensinhalte zu erraten. Umherliegende Briefe ließ sie niemals ungelesen.

Was es mit der Familie Guhnott und ihren Gästen für eine Bewandtnis hatte, hatte sie längst herausgebracht. Daß Margot das Bild Heinzens besaß, daß dieser wieder Irmgards Photographie nachts neben sein Bett stellte (wo er sie eines Morgens vergaß), sagte ihr genug.

Während Marie an diesem Morgen Margots Waschtisch aufräumte, schwatzte sie wieder ihre oft gehörte Litanei, die gewöhnlich die Einleitung zu kleinen, indiskreten Mitteilungen über die Hotelgäste bildete.

»Ach ja, so ein Hotel ist das reine Theater. Unsereiner erlebt Sachen ... Es ist nur gut, daß man weiß, was man den Herrschaften schuldig ist. Und ich bin schon gar nicht neugierig. Ich tue meine Arbeit, alles andere ist mir egal. Aber man macht trotzdem seine Erfahrungen. Ich weiß ganz genau, was feine Herrschaften sind, und was Herrschaften sind, die nur so tun. In dem Punkt kann mir keiner was vormachen. Freilich auslernen tut man nie. Was ich gestern abend wieder gesehen habe ...«

Margot lag, die Arme unter dem Kopf verschränkt, den trüben Blick ins Leere gerichtet, ohne auf das Geschwätz zu antworten.

Marie trug den Porzellaneimer hinaus und kam nach einigen Augenblicken mit einer Kanne frischen Wassers wieder.

»Ja, ja,« begann sie von neuem, »mich geht's ja nichts an. Unsereiner stellt sich am besten blind und stumm. Sonst kriegt man womöglich noch selber die Schuld. Und geglaubt wird einem doch nie. Es ist nur – man hat's doch nicht gern, wenn Klatschereien entstehen. Namentlich bei Herrschaften, die man hochschätzt. Aber es gibt zu schlechte Menschen, gnädiges Fräulein, die hinter jedem was Schlechtes sehen.«

»Was ist denn eigentlich los?« fragte Margot endlich.

Marie trat vor das Bett, blickte Margot melancholisch an und erwiderte:

»Es ist nämlich – ich sage es nur aus Interesse an den Herrschaften. Sie müssen ein bißchen vorsichtiger sein.«

»Wer denn?«

»Fräulein Raumer und der junge Herr Tann. Es ist ja ein Glück, daß ich in der Geschirrkammer war und nicht einer von den Kellnern oder der Hausdiener. Das Volk nimmt ja kein Blatt vor den Mund.«

Margot holte tief Atem und forderte das Mädchen auf, zu sagen, was sie gesehen hatte. Dieses versicherte noch einmal, sie erzähle es nur, um das gnädige Fräulein zu bitten, daß sie die beiden warnte, und rückte dann endlich damit heraus, daß, kurz nachdem Irmgard mit ihrer Mutter das Schlafzimmer betreten hätte, sie noch einmal herausgekommen, daß gleich darauf auch Herr Tann erschienen wäre und beide sich auf dem Gang geküßt hätten.

Margot, die diese Erzählung ohne eine Bewegung angehört, nahm die Hand von ihren Augen und fragte kurz:

»Auf dem Gang oder in seinem Zimmer?«

»Auf dem Gang. Ach, gnädiges Fräulein, Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Ich erzähle es doch nur aus guter Absicht.«

»Ich verstehe.«

Das Zimmermädchen war gegangen. Margot saß aufgerichtet, auf ihre geballte Rechte gestützt. Immer von neuem wiederholte sie sich, daß das, womit ihre Einbildung sie gepeinigt hatte, wahr sei. Zum Teil wenigstens wahr. Und was mochte noch folgen! Sie mußte den Freund aus den Händen dieser leichtsinnigen Person, die keine Moral, keine Scham hatte, befreien.

Nach einer Weile schellte sie und sagte zu dem eintretenden Mädchen:

»Marie, ich kann mich da nicht hineinmischen. Auch meine Mutter nicht. Aber es ist Ihre Pflicht, das, was Sie gesehen haben, Frau Raumer mitzuteilen.«

Marie senkte den Kopf und murmelte:

»Das habe ich mir auch schon gesagt. Es ist wohl das Beste.«


 << zurück weiter >>