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3.

Wenige Tage später fand Heinz eines Morgens in seinem Zimmer einen Besucher vor, einen jungen Herrn in elegantem Rock, aber von wenig eleganter Figur, dick und aufgeschwemmt, mit blassen Wangen und mißvergnügten braunen Schlitzaugen. Es wollte Heinz bedünken, als wenn der Herr mit etwas weitgehendem Interesse die auf seinem Schreibtisch umherliegenden Papiere gemustert hätte. Übrigens war er nicht im mindesten verlegen, sondern hielt dem Eintretenden in rundem Schwung seine Rechte hin.

»Guhnott.«

»O, Sie sind der Bruder von ...?«

»Ja, ich bin der Bruder von ... Sie waren so freundlich, meiner Schwester aus der Verlegenheit zu helfen. Ich möchte Ihnen meinen Dank abstatten.«

Eilig zog Heinz einen Stuhl herbei.

»Ne, danke, von scharfkantigen Sitzgelegenheiten bin ich kein Freund. Von Plüschsesseln noch weniger. Falls Sie den Korbstuhl loseisen können ... Danke sehr. Was haben Sie für meine Schwester ausgelegt, wenn ich fragen darf?«

»Eine Mark zwanzig.«

»Mehr nicht?«

»Mehr nicht.«

Guhnott entnahm einem winzigen Juchtenportemonnaie ein Goldstück.

»Leider kann ich's nicht kleiner machen.«

Heinz kramte in seinem ehrwürdigen kalbsledernen Geldbehälter umher, fand aber außer einem Taler nur Nickelstücke. Darum öffnete er seinen Schreibtisch, in dessen Schublade der Rest seines Wechsels in Drei- und Zweimarkstücken sauber aufgeschichtet lag. Neugierig sah sein Besucher ihm zu.

»Halten Sie diese Aufbewahrungsart für praktisch? Da maust Ihnen die Wirtin doch die Hälfte davon.«

»Aber ich bitte Sie, die Frau ist tadellos ehrlich.«

»Dann ist sie 'n weißer Rabe. Ich verwahrte in München meine Gelder immer in 'ner eisernen Kassette. Aber weil mein Budendrache trotzdem noch in meinem Schreibtisch herumkramte, habe ich einen Zettel mit einigen heftigen Grobheiten hineingelegt.«

»Da werden Sie sich aber kaum beliebt gemacht haben.«

»Zum Beliebtmachen pflege ich auch keine Bude zu mieten. Übrigens 'ne famose Aussicht, die Sie da haben.«

»Ja, die Berge sind schön.«

»Na, das nun weniger. Diese Hügel, die so tun, als wenn sie Berge wären – lachhaft. Die ganze Gegend ist äußerst kitschig. Ich meinte das Mädel da unten. Tadellose Figur. Kennen Sie sie?«

»Nein.«

»Ihr Pech.«

Nachdem der junge Herr Guhnott weidlich auf Stadt und Universität geschimpft und Heinz erzählt hatte, daß er in Rom, Paris und München Kunstgeschichte studiert habe und jetzt mit seiner Doktorarbeit beschäftigt sei, die einiges Aufsehen erregen würde, empfahl er sich, indem er Heinz ans Herz legte, den Besuch doch ja bald zu erwidern; nach seiner Überzeugung seien sie sich entschieden sympathisch.

Wenn Heinz diese Empfindung auch nicht gerade im Überfluß erwiderte, machte er doch seinen Gegenbesuch in der Villa Guhnott.

Zum erstenmal in seinem Leben wurde er von einem Diener in einen Salon geführt. Er traf hier nicht nur Margot wieder, sondern lernte auch ihre Mutter kennen.

Frau Guhnott stellte sich dem Neuling als eine bezaubernd weltsichere und bezaubernd liebenswürdige Dame dar. Ihre anmutig beschwingte Unterhaltung, die alles berührte und über alles wegglitt, ihre weichfließenden Bewegungen waren in Harmonie mit ihrer schönen Gestalt, die Fülle und Elastizität vereinigte, und ihren jugendlich zarten, wenn auch etwas puppenhaften Zügen unter dem schon ergrauten Haar.

Erst nachdem Viktor eingetreten war, verwirrte sich dieser Eindruck ein wenig. Frau Guhnott schien nicht so sehr die Mutter als die jüngere Schwester ihrer Kinder zu sein. Namentlich Viktor behandelte sie wiederholt so von oben herab, daß Heinz errötete.

Die Geschwister luden ihn ein, mit ihnen Tennis zu spielen. Heinz wunderte sich im stillen über so viel unverdiente Liebe. Doch erfuhr er dann von einem Kollegbekannten, daß der junge Guhnott wegen verschiedener Geschichten aus seiner Münchener Verbindung in Unfrieden geschieden sei und deshalb auch mit den hiesigen Verbindungen keinen Verkehr habe. Diese Isolierung ließ es begreiflich erscheinen, daß er sich neue Bekanntschaften suchte.

Eines Nachmittags beobachtete Heinz wieder durch das Zeißglas seiner Wirtin Irmgard, die die allzu dichten Ranken der Rosenlaube beschnitt.

Bald beugte sie sich hintenüber, indem sie die Arme erhob, bald kniete sie und zeigte ihm ihren entzückenden Halsansatz. Da ließ sie plötzlich das Messer fallen, sah das aus ihrem Finger quellende Blut, machte einige Schritte, indes sie blasser und blasser wurde, und brach schließlich zusammen.

Im ersten Augenblick hatte Heinz das Gefühl, laut um Hilfe rufen zu müssen. Doch dann riß er alle seine Geisteskräfte zusammen, erraffte aus der Kommode eine Handvoll sauberer Taschentücher, vom Waschtisch eine halbvolle Flasche mit Kölnischwasser und stürzte hinunter.

Nun kam es ihm zugut, daß er den Staketenzaun so genau studiert hatte. Die Lücke war zum Hindurchschlüpfen gerade groß genug. Im Nu war er neben der Ohnmächtigen. Er wickelte ein Tuch um die heftig blutende Wunde und bestrich ihr mit dem Wasser die Stirn.

Aus sammetdunklen Augen traf ihn ein wirrer Blick.

»Was ist? Wer sind Sie?«

»Ruhig! Ruhig, gnädiges Fräulein. Sie haben sich ein bißchen erschreckt.«

»Wovor?«

»Vor einer Kleinigkeit! Riechen Sie, bitte, kräftig an dem Fläschchen! Atmen Sie recht tief ein! So ... Ist Ihnen ein bißchen besser?«

Sie machte eine Bewegung, hob ein wenig die Hand, hatte aber kaum das gerötete Tuch bemerkt, als sie von neuem erblaßte.

»Ach, das Blut! Wie kann man nur so feige sein!«

»Das ist keine Feigheit.«

Und er zählte ihr eifrig die größten Helden des Altertums auf, die an ähnlichen Idiosynkrasien gelitten hätten.

»Dann brauche ich mich ja nicht zu schämen,« lächelte sie.

Sie erhob sich und machte mit seiner Hilfe einige Schritte zur Laube.

»Nun muß ich Ihnen ein bißchen weh tun, damit die Wunde aufhört zu bluten. Schreien Sie, bitte, wenn's brennt!«

Er entfernte schnell das durchblutete Tuch und drückte sanft ein mit Kölnischwasser getränktes auf die Wunde.

»Schmerzt es sehr?«

»Kaum.«

»Sie sind wirklich kolossal tapfer! Ein Mann hätte wenigstens Au gesagt.«

»Wie kommen Sie überhaupt hierher?«

»Durch den Zaun. Ich wohne da im Nachbarhaus. Was haben Sie übrigens für einen entzückenden Garten.«

»Der gefiel mir auch so, daß ich Mutter beredete, das Haus zu mieten.«

»Was? Sie wohnten nicht immer hier?«

»Erst seit einem Jahr.«

»Und ich dachte, Sie wären hier geboren. Zwischen all den Frühlingsblumen. So, jetzt hört's gleich auf. Wir werden einen festen Verband darum legen.«

»Wie geschickt Sie das machen! Sind Sie Mediziner?«

»Leider nicht. Ja, mir gefiel die Aussicht auch gleich riesig. Damals blühten die Kirschbäume. Sie standen gerade im Garten und guckten in den Himmel, als jemand Irmgard rief. Da sagte ich zu der Wirtin: das Zimmer nehme ich.«

»Weil jemand Irmgard rief?«

»Ja, auch darum. Mir gefiel der Name so gut.«

»Aber jetzt muß ich ins Haus. Ach, bitte – bleiben Sie noch ein paar Minuten! Meine Mutter könnte sonst erschrecken, wenn sie Sie sieht.«

»Natürlich! Mütter haben auch ihre Idiosynkrasien.«

Sie lachte leise.

»Ja, leider!«

Dann reichte sie ihm die unverletzte Rechte.

»Vielen, vielen Dank! Ich würde Sie bitten, uns zu besuchen. Aber wir leben ganz zurückgezogen.«

»Darf ich morgen übern Zaun mal fragen, wie's Ihnen geht?«

»Das dürfen Sie.«

Eine grämliche Stimme rief: »Irmgard.«

Sie legte den Finger auf den Mund.

»Noch eine Minute hierbleiben!«

»Noch fünf!« flüsterte er entzückt.

Ein rascher, aufleuchtender Blick. Dann eilte sie behend davon.

Heinz wartete mit der Uhr in der Hand, bis die Zeit um war, worauf er zu einem Seitenfenster der Laube hinauskletterte, wie ein Indianer durch das Gebüsch kroch und so auf einem ziemlichen Umweg den Staketenzaun erreichte.

Am nächsten Morgen hatte er von sieben bis neun Kolleg. Danach stürmte er seiner Bude zu und nahm seinen Beobachtungsposten ein. Da klopfte es. Es war der junge Guhnott.

»Grüß Gott! Sagen Sie mal, Sie wollten doch meinem alten Herrn in seiner Schneiderwerkstatt zusehn. Wenn Sie Lust haben, bringe ich Sie hin. Das Kolleg beginnt um zehn cum tempore

Heinz war nicht wenig erschrocken.«

»Das ist ja famos! Das heißt, gerade heute ... Ich habe nämlich eine Verabredung. Aber ich könnte ja nachkommen. Ja, das ginge.«

Er war immer röter geworden, während er bald auf seinen Besucher, bald zum Fenster hinausblickte.

In diesem Augenblick öffnete sich die Gartentür des Nachbarhauses, und Irmgard stieg die kleine efeuumrankte Treppe hinunter. Jetzt hatte sie Heinz erblickt und schwenkte lächelnd ihre von dem Verband befreite Hand.

Viktor hatte alles beobachtet.

»O, Sie Scheinheiliger! Hat sich da einen Fensterflirt zugelegt. Sie müssen mich dem Mädel vorstellen. Kommen Sie!«

Vergebens machte Heinz allerhand Ausreden. Viktor ergriff seinen Hut und eilte die Treppe hinunter.

»Also los, stellen Sie mich vor!«

»Ich bin's ja selbst nicht mal.«

»Na, so ein Blödsinn! Das Mädel möchte doch entschieden anbändeln.«

Kaum hatte Viktor Irmgard erblickt, als er mit einigen knappen Verbeugungen den Hut zog.

»Bitte tausendmal um Verzeihung – kolossale Kühnheit – übrigens mein Name ist Guhnott – würden Sie wohl die Güte haben, mir zu sagen, was das da für eine Pflanze ist? Ich interessiere mich nämlich fabelhaft für Botanik.«

Irmgard war errötend ein wenig zurückgetreten.

»Welche?«

»Die da auf der Grotte.«

»Das ist Azalea pontica

»Ne, ne, verzeihen Sie, die andere.«

»Die kenne ich selbst nicht.«

»Höchst merkwürdig. Es muß eine botanische Seltenheit sein, könnte ich vielleicht einen kleinen Zweig bekommen?«

Wie von ungefähr reichte Irmgard das Zweiglein Heinz hinüber, obwohl Viktor ihr näher stand.

»In der Tat interessant,« sagte dieser. »Übrigens da sich der Zufall uns so tadellos gnädig erwiesen hat – dürfte ich noch eine Bitte wagen, gnädiges Fräulein? Mein Freund Tann, meine Schwester und ich spielen zweimal die Woche Tennis. Wir suchen noch eine Dame. Wollen Sie sich nicht beteiligen?«

»Ach ja, das wäre herrlich!« sagte Heinz, der bis jetzt, verlegen über die Dreistigkeit seines Bekannten, stumm dagestanden hatte.

»Ich würde es gern – aber Mama wird's nicht erlauben.«

»Wenn Sie sie tüchtig bitten?«

Sie schüttelte leise den Kopf.

»Mama ist sehr streng.«

»Ich habe eine Idee,« nahm Viktor wieder das Wort. »Ich schicke Ihrer Frau Mutter meine alte Dame ins Haus. Die kann eine fabelhafte Beredsamkeit entwickeln.«

»Ach ja! Ach ja! Das ist famos!« sagte Heinz.

»Nur wird sich Mama ein bißchen wundern, wenn ...«

»I, da weiß ich auch einen Ausweg. Ist Ihre Frau Mutter schon im Frauenverein?«

»Nein.«

»Na also. Höchste Zeit! Meine alte Dame ist da Matadorin. Wann ist Ihre Frau Mutter zu Haus?«

»Von zwölf ab bestimmt.«

»Dann wird morgen punkt zwölf der Angriff beginnen. Auf Sturmläuten werden wir verzichten. Dafür aber können Sie uns beide mit gefalteten Händen in Heinzens Bude knien sehn, wo wir den Sieg für unsere Waffen erflehn. Auf Wiedersehn, gnädiges Fräulein.«

Viktor streckte ihr keck über den Zaun die Hand hin, in die sie zögernd für einige Sekunden ihre Fingerspitzen legte. Auch Heinz nahm ihre Hand und fragte rasch, während Viktor dem Haus zuging:

»Ihr Finger?«

»Fast wieder gut.«

»Keine Schmerzen?«

»Kein bißchen.«

»Das freut mich.«

Irmgard lächelte, und es war ihm, als wenn er noch einen kurzen, leisen Druck ihrer Hand verspürte.

Da Viktor seinen Spazierstock oben gelassen hatte, mußten sie noch einmal zu Heinz hinauf.

Während Viktor mit selbstgefälligem Lächeln sich die Krawatte vor dem Spiegel zurechtband, sagte er:

»Ja, da stehn Sie nun, Parsifal, und sperren Mund und Nase auf.«

»Warum nennen Sie mich Parsifal?«

»Na, weil Sie so ... ein schöner Dümmling sind,« hatte Viktor auf der Zunge. Er sagte aber: »ein reiner Tor sind. Sie können mir dankbar sein. Das habe ich doch elegant gemacht.«

»Ja, ich hätte mir's wahrhaftig nicht getraut.«

»Ne, ne, das glaub' ich. Sehn Sie, die Natur schafft. stets Ausgleiche, wie meine philosophische Schwester sagt. Wenn Sie zu Ihrem blonden Siegfriedgesicht und Ihrer Schlankheit auch noch meine Frechheit hätten, Ihr Glück bei den Mädels wäre ja einfach ekelhaft. Aber nun zu unserem Gevatter Schneider!«

Eine Mauer aus Ziegelsteinen und Eisengitter umschloß den Platz, auf dem in einem umfangreichen Komplex von alten und neuen Gebäuden die Kliniken vereinigt waren.

Auf einen kurzen Gruß von Viktor öffnete der Mann in der Pförtnerzelle das Tor und ließ die beiden eintreten. Nachdem sie die Wendeltreppe zu den amphitheatralischen Sitzreihen hinaufgestiegen waren, sagte Viktor:

»Setzen Sie sich nur nah an die Tür, falls Ihnen schlecht wird. Ich gehe derweil in die ›Göhre‹ frühstücken und hole Sie dann wieder ab. Mich interessiert die Schlächterei nicht.«

Heinz nahm auf einer der oberen Reihen Platz. Der mit weißen Kacheln ausgelegte, halbkreisförmige Raum unten war noch völlig leer. Nur ein Operationsbett und eine Beleuchtungstafel für die Röntgenaufnahmen standen dort.

Der Duft von Chloroform und Äther weckte in Heinz bestimmte Erinnerungen. Als Sekundaner hatte er mit dem Sohn eines Landarztes verkehrt. Eigentlich hatte seine Freundschaft weniger dem Sohn als dem Vater gegolten, mit dem er öfter zu Patientenbesuchen über Land fuhr. Und er entsann sich, wie der vierschrötige Mann mit dem kupferfarbigen Gesicht den Bauern einen Arm oder ein Bein einrenkte, was den Patienten grimmiges Wehgeschrei und dem Doktor Ströme von Schweiß entlockte. Der gemütliche Alte, der Freude an seiner Wißbegierde hatte, lehrte ihn auch mittels des Skeletts und anatomischer Tafeln den Bau des menschlichen Körpers. Von dieser Zeit datierte Heinzens Interesse für die Medizin.

Das ganze erste Jahr über hatte er den Verkehr mit der anderen Fakultät vermieden. Nun aber war er doch der Versuchung erlegen. Gleich würde er einen der ersten Meister seines Fachs sehn. Mehr noch als durch seine Operationskunst hatte Guhnott sich durch seine kühnen und glücklichen Versuche auf dem noch wenig bebauten Gebiet der Transplantationen einen weit über Deutschland hinausragenden Namen gemacht.

Heinz befand sich in einer ihm selbst unbegreiflichen Aufregung. Vergebens sagte er sich, er sei ja nur als unbeteiligter Zuschauer hier. Ihm war zumute, als stände er an einer Wende seines Schicksals.

Die Sitzreihen halten sich gefüllt. Es waren lauter Kliniker, Studenten in höheren Semestern, welche diese Vorlesung besuchten. Auch Damen befanden sich darunter.

Gleichzeitig begann es sich unten zu beleben. Krankenwärter in weißen Operationsmänteln rollten fahrbare Nickelkessel herein, denen eine Schwester mit einer Zange die sterilisierten Instrumente entnahm. Ein Assistenzarzt trug auf Glasplatten befindliche Röntgenaufnahmen herbei.

Neben Heinz hatte ein stark nach Jodoform duftender Student Platz genommen, dessen eine Gesichtshälfte fast unter schwarzen Bandagen verschwand. Er erzählte einem unter ihm sitzenden Bekannten, er hätte gestern eine »dicke Sache« gehabt und einen ekelhaften Brummschädel.

Heinz fragte ihn vorsichtshalber, ob sein Platz auch frei sei?

»Das gerade nicht,« erwiderte der Student. »Aber Sie können getrost sitzen bleiben. Der Inhaber liegt noch zu Bett.«

Als jetzt ein untersetzter Herr mit energisch-vergnügtem Faunsgesicht durch die Eisentür, die die Klinik vom Operationssaal trennte, eintrat, fragte Heinz, ob das der Geheimrat wäre.

»Ne, ne, das ist sein zweiter Assistent. Sie sind wohl zum erstenmal hier?«

»Jawohl.«

Der Student geruhte ihn von der Seite zu mustern.

»Aktiv, wenn ich fragen darf?«

»Nein.«

»Keine Lust?«

»Lust schon, aber keinen Wechsel.«

»I, wofür gibt's denn Manichäer?«

»Mal muß man doch blechen. Und meine Alten haben's nicht.«

»Schade! Könnten 'nen guten Schläger abgeben. Da ist er.«

Der Geheime Medizinalrat Professor Doktor Guhnott war eingetreten. Noch stand er im Hintergrund und beugte sich freundlich zusprechend zu einem bleichen, auf einem Fahrbett hereingeschobenen Kind hinunter. Jetzt machte er einige Schritte zur Mitte. Groß, von hünenhaftem Brustumfang, trug er auf muskulösem Hals einen mächtigen Kopf mit kurzgeschorenem Blondhaar und dunklerem Vollbart. Aus seinen kräftigen, strengen Zügen sprach eine gewaltige, durch Gelehrtenarbeit verinnerlichte Lebensenergie. Diese Züge hatten etwas Ehrfurcht-, ja Furchterregendes, was aber durch den gütigen, hellen Blick seiner blauen Augen gemildert wurde.

Die Studenten, die eben noch geschwatzt, gefrühstückt, ihre Zeitung gelesen, hatten ihn kaum bemerkt, als augenblickliche Stille eintrat.

Ein Assistent überreichte dem Geheimrat einen Bogen. Dieser winkte einem mageren Mann im Straßenanzug näherzutreten, der sich verbeugte und der Korona ein lautschallendes: »Moin, meine Herren,« zurief.

»Meine Herren,« begann Guhnott, »der Herr, der Sie soeben so vernehmlich begrüßt hat, ist ein anderthalb Jahre zurückliegender Fall von Karzinom.«

Seine Stimme war sonor, aber von leichtem Fluß.

»Ich habe dem Patienten die Zunge bis zum Gaumen exstirpiert. Machen Sie mal den Mund auf! Seinerzeit hat ein Kollege mir bittere Vorwürfe gemacht, daß ich dem Patienten – er ist Versicherungsagent – die Ausübung seines Berufs unmöglich machte. Ich habe ihm erwidert: Erstens vergessen Sie, daß im Jenseits der Patient seinen Beruf auch kaum wird ausüben können. Und zweitens wollen wir mal abwarten. Inzwischen hat der Patient wieder sprechen gelernt und entwickelt eine ganz respektable – ich möchte fast sagen: Zungengeläufigkeit. Sprechen Sie doch den Herren mal was vor.«

Der Agent berichtete nun mit gut vernehmbarer Aussprache, daß er seit einem Jahr seinen Beruf wieder ausübe und unter anderen auch den Kollegen des Herrn Geheimrat bewogen habe, sein Leben zu versichern.

Die Studenten waren von dieser Mitteilung so entzückt, daß sie dem Brauch zum Trotz, der Beifallsäußerungen bei klinischen Vorlesungen verbietet, trampelten.

Um zu zeigen, daß es auch mit dem Schlucken noch ginge, leerte der Agent in großen Zügen ein Glas Wein und verabschiedete sich.

Inzwischen war das blasse, kleine Kind herangerollt worden, das voller Angst seine Puppe umklammerte und zu weinen begann. Aber Guhnott sprach zu ihm mit der gütigen Stimme einer Mutter: es solle sich doch nicht fürchten, gleich könne es ja wieder auf seine sonnige Veranda. Die Herren möchten nur seine Puppe sehn. Wie hieß sie noch? Rosa? Sie solle doch ihre Rosa mal zeigen. Und während das Kind noch halb stolz, halb ängstlich seine Puppe hervorholte, lüftete Guhnott schnell das Laken und erklärte an dem gekrümmten, atrophierten rechten Bein Sitz und Art der Erkrankung. Die eleganten und behutsamen Bewegungen seiner schlanken Hände, die die erkrankte Stelle berührten, glichen denen eines Klavierspielers, der den Tasten das weichste Piano entlockt.

Erst als das Kind draußen war, erklärte Guhnott, daß hier ein Fall vorliege, bei dem der Arzt sich seiner ganzen Verantwortung bewußt sein müßte. Nichts sei leichter, als eine Resektion des tuberkulösen Kniegelenks vorzunehmen. Dann sei das Kind in vier Wochen kuriert, habe aber auch sein ganzes Leben ein steifes Bein. Er wolle daher bis zum Äußersten damit warten.

»Denn das Messer, meine Herren, ist die ultima ratio. Schlimm, wenn man es zu früh ergreift. Noch viel schlimmer freilich, wenn man damit wartet, bis es zu spät ist.«

Dem nächsten Patienten war eine Revolverkugel durch den Hals in den Rücken gedrungen. Ein Student wurde vorgerufen und mußte die Nerven, Muskeln und Arterien nennen, an denen vorbei das Geschoß seinen Weg genommen hatte.

»Sie können von Glück sagen, alter Herr. Die Kugel hat einen wahren Eiertanz aufgeführt und keinen Schaden getan. Wir nehmen Sie Ihnen heraus, und in acht Tagen sind Sie kuriert. Aber welcher Kerl hat denn auf Sie geschossen?«

»'s is ...,« stotterte der alte Mann, während ihm die Tränen hervorschossen. »Mein eigener Sohn is es gewäsn. Er wollte Geld.«

»Ihr eigener Sohn?«

»Ja, der Stiefsohn.«

Eine sekundenkurze Spanne Zeit zeigte Guhnotts Blick den starren Ausdruck eines Menschen, der über jäh hervorbrechenden Gedanken seine Umgebung vergißt. Er schloß die Augen. Als er sie öffnete, war sein Gesicht um einen Schatten blasser.

Dem nur auf das Medizinische eingestellten Blick der Hörerschaft mochte der Vorgang entgangen sein. Heinz hatte ihn bemerkt.

In der nächsten Sekunde war Guhnott schon wieder Herr seiner selbst.

Auf einen Wink wurde ein Fahrbett hereingerollt mit einem alten Mann darauf. Guhnott strich ihm freundlich durchs Haar.

»'s tut nicht weh.«

Nach kurzen erläuternden Worten wurde dem Patienten die Maske aufgesetzt. Der zweite Assistent schnürte, um Blutverlust zu vermeiden, das zu operierende Bein ab.

Ohne seinen Vortrag zu unterbrechen, streckte Guhnott seine Hände aus, über die die Operationsschwester Gummihandschuhe zog. Eine andere Schwester streifte weiße Gummischuhe über seine Stiefel. Er war jetzt vom Kopf bis zu den Füßen in Weiß. Eine dritte rollte den Instrumentenwagen heran.

Das dumpfe Murmeln des in tiefer Narkose liegenden Patienten war inzwischen verstummt. Noch ein letztes Mal wurde das Knie mit Alkohol abgerieben. Zugleich fiel aus einer Bogenlampe durch komplizierte Spiegel reflektiertes, sonnenhelles Licht auf die zu operierende Stelle.

Umringt von seinen Assistenten, den Schwestern und Wärtern trat Guhnott jetzt an den Kranken heran, das Messer leicht zwischen Daumen und Zeigefinger haltend Ein einziger kreisrunder Schnitt legte die Kniescheibe frei.

»Blendend!« stieß Heinzens Nachbar aus.

Nun glitt die vernickelte Säge mit feinem Knirschen durch den Knochen. Das erkrankte Kniegelenk wurde herausgelöst und auf einen Teller gelegt.

Der jodoformduftende Student flüsterte dem aufgeregt starrenden Heinz zu:

»Die Eleganz! Die Leichtigkeit! Zum Küssen. Wenn der Patient die Operation bezahlen müßte, könnte er mindestens zweitausend Mark blechen. So hat er alles umsonst.«

Die vernickelten Arterienklammern und Haken blitzten im elektrischen Licht. Rosig schimmerte das freigelegte Fleisch. Kaum zwei oder drei Blutstropfen unterbrachen die Symphonie in Weiß der blanken Laken, der sauberen Anzüge, der wie Schnee strahlenden Kacheln des Fußbodens und der Wände.

Jetzt wurde der Operationstisch beiseite gerollt. Das Abbinden der Adern, das Zusammennähen der Haut besorgten die Assistenten.

Ein anderer Kranker wurde hereingerollt. In neuem Kampf wurde der herandrohende Tod siegreich überwunden.

Als Heinz um zwölf das Auditorium verließ, dehnte ein zitterndes Hochgefühl seine Brust, die sich aufbäumende Lebensenergie dessen, der zum erstenmal an die Stätte seines wahren Berufs geführt worden ist.

In dieser Stunde war er entschlossen, aller Welt zum Trotz seine Grammatiken zu verbrennen und Skalpell und Pinzette zu ergreifen. Er mußte ein Mann werden wie Professor Guhnott, der ihm Empfindungen der Bewunderung und Verehrung abgerungen hatte wie noch nie ein Mensch auf Erden.

Als er am Ausgang der Klinik Viktor traf, schlug er ihm auf die Schulter.

»Mensch, Sie Glücklicher, Ihr Vater ...«

»Stiefvater, wollten Sie sagen. Was ist mit ihm los?«

»Nichts!« antwortete Heinz, durch den höhnischen Ton im Innersten erkältet.

»Ja, er versteht zu imponieren, mein alter Herr – solange man ihn nicht näher kennt. Und sein Handwerk versteht er wirklich. Wer schließlich, was ist das Ganze anderes als eine bessere Schlächterei?«

»Pfui Teufel, schämen Sie sich!« brauste Heinz auf. »Sie sollten Gott auf den Knien danken, daß Sie solch einen Vater haben.«

»Hören Sie,« fauchte Viktor, der seinen Stock ein paarmal, aber nur durch die Luft, sausen ließ, »wenn Sie nicht so ein naiver junger Dachs wären, dann – dann könnten Sie was erleben.«

»Ja, entschuldigen Sie, aber ich finde das empörend, so von seinem Vater zu sprechen.«

»Mein lieber Parsifal, Sie haben eben keine Ahnung. Ich werde Ihnen mal ein Licht aufstecken. Gewiß, mein Stiefvater hat heute eine große Stellung. Ist meinetwegen eine europäische Berühmtheit. Zugegeben. Aber wem verdankt er das in erster Linie? Den Millionen meiner Mutter. Er war ein armer simpler Landarzt und hätte nie daran denken können, sich zu habilitieren. Daß er meine Mutter nur ihres Geldes wegen genommen hat, will ich ihm noch verzeihen. Aber gemein finde ich, daß er sie jetzt links liegen läßt, wo er sie nicht mehr braucht. Und wie er uns Kinder behandelt hat! Schlimmer als ein Unteroffizier. Fragen Sie nur Margot. Aber wir haben's ihm redlich vergolten. Haß gegen Haß! So, nun habe ich Ihnen wohl ein Licht aufgesteckt!«

Jawohl – über dich! dachte Heinz.

Tief verstimmt trennte er sich. Während er vergeblich seinen Ekel abzuschütteln versuchte, tauchte die Szene im Operationssaal wieder vor ihm auf.

Wie hatte Guhnotts Ausdruck sich plötzlich verändert, als der Alte ihm gestand, daß sein Sohn, sein Stiefsohn, auf ihn geschossen hatte! Da hatte geheimster Schmerz sich mit fahler Blässe verraten.

Hatte Guhnott da an seinen eigenen Sohn gedacht? Gab es in diesem Hause eine Tragödie?

Aber Heinz wäre nicht der frische, sorglose Junge von zwanzig gewesen, wenn er sich lange mit diesem dunklen Rätselgewirr abgegeben hätte. Er stellte fest, daß Viktor ein ekelhafter Kerl wäre, gar nicht fähig, seinen herrlichen Vater zu begreifen.

Als er einige Tage später in einer Buchhandlung Guhnotts Bild bemerkte, kaufte er es und stellte es zu Hause auf, um sich zu freuen an diesem Antlitz voller Güte und Kraft.


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