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14.

»... Mit einem Wort könntest du mich gesund machen. Und du sagst es nicht. Ja, manchmal glaube ich, du wartest geradezu auf meinen Tod. Aber da kannst du lange warten. Wir wollen doch sehen, wer zäher ist: du oder ich. Und was hast du überhaupt an Viktor auszusetzen? Er ist dir nicht klug genug. Aber seine Mutter rühmt ihn als einen guten Sohn! Und wer ein guter Sohn ist, ist sicher auch ein guter Ehemann. Aber du liebst ihn nicht, sagst du. Darauf erwidere ich als alte erfahrene Frau: Was bedeutet Liebe vor der Ehe? Erst nach der Hochzeit entpuppt sich der Mann als das, was er ist. Ein junges Mädchen nimmt immer die Katze im Sack. Aber was sie vorher weiß und wissen muß, das ist die Frage, ob die Verhältnisse passen. Und dir wird hier eine so glänzende Aussicht geboten, daß du Gott auf den Knien danken müßtest. Ja, der liebe Gott, der es immer gnädig mit uns gemeint hat, gibt dir Gelegenheit, unsern alten Glanz wiederherzustellen.«

Gleichmäßig dumpf wie die Reden einer Fieberkranken flossen diese Worte aus dem Mund der Frau Raumer, die, eingehüllt in ein schwarzes, gehäkeltes Tuch, sich gegen den Kamin lehnte. So weiß wie die Fliesen war ihr blutleeres, verfallenes Gesicht, nur ihre tief unterhöhlten Augen spiegelten mit düsterem Glimmen die Kraft des auf einen einzigen Gegenstand gerichteten Willens wider.

Krampfhaft verschloß Irmgard ihre Ohren, um ihre Mutter nicht durch Widerspruch zu reizen. Für sie flossen diese hundertmal gehörten Worte mit dem rauschenden Regen zu einer trostlosen Melodie zusammen.

Auf kurze Augenblicke brach eine gelblich fahle Herbstsonne durch, aber sofort schoben die schwarzgrauen Massen sich wieder zusammen, und der Regen rauschte in neuen Güssen auf die zerfetzten Blumenbeete und das Holzdach der Laube hernieder.

Seit der Katastrophe, die einen so tiefen Abgrund zwischen ihrer glücklichen Jugend und ihrem jetzigen Zustand gerissen hatte, daß sie oft zweifelte, ob es wirklich sie selbst sei, die einmal unter den luftigen, kleinen, hellen und dunkelroten Kletterrosen an der Laube Küsse ausgetauscht hatte – seit dieser Katastrophe waren zwei Sommer und ein Winter vergangen, die ihr als eine einzige lange Gefängnisnacht erschienen.

Nichts hielt sie aufrecht als der Gedanke an ihre Pflicht und die unbestimmte Hoffnung, daß dieser Zustand nicht ewig dauern könne. In der Fensterecke ihres Schlafzimmers hatte sie mit einem kleinen Brillanten die Worte eingeritzt: »Glänzendere Stunden werden kommen.« Aber wie oft erschienen diese Worte in der zittrigen, unbeholfenen Schrift ihr nur wie ein fratzenhafter Hohn.

»Du kannst dich nicht auf mich berufen, daß ich meinen Eltern ungehorsam gewesen wäre und aus sogenannter Liebe geheiratet hätte. Wie habe ich's gebüßt! Keine Stunde habe ich gehabt, wo ich es nicht in bitterem Jammer bereut hätte. Aber ich mache meiner Mutter auch den Vorwurf, daß sie sich nicht genug um mich gekümmert hat. Warum hat sie mich so oft auf Bälle reisen lassen? Hätte sie mir nur den zehnten Teil des Widerstandes geleistet wie ich dir, die Sache wäre anders gekommen. Alle unsere Vorfahren sind den Ratschlägen ihrer vernünftigen Eltern gefolgt. Da ist Geld zu Geld und Gut zu Gut gekommen, und unsere Familie stand immer groß da in der Verwandtschaft. Aber jetzt sehen die Leute mich über die Achseln an. Was bin ich denn auch? Rittmeisterswitwe. Meine Witwenpension ist kaum größer als die Altersrente eines Dienstboten.«

Irmgard warf ihrer Mutter einen verzweifelten Blick zu und nahm die Zeitung zur Hand.

Mit müdem Ausdruck vertiefte sie sich in die lokalen Nachrichten. Da fiel ihr Auge auf folgende Notiz:

»Ein schwer zu ersetzender Verlust steht unserer Landesuniversität bevor. Der Geheime Medizinalrat Professor Dr. Hermann Guhnott hat einen Ruf nach Berlin erhalten, dem er sicherem Vernehmen nach Folge leisten wird.«

Langsam ließ Irmgard sich gegen die Stuhllehne zurücksinken, und ihrem geöffneten Mund entrang sich etwas wie ein Klagelaut. Eine so herzumschnürende Angst verbreitete sich in ihrem Innern, als empfände sie jetzt schon, in diesen einen Augenblick zusammengepreßt, alles Verlassenheitsgefühl, an dem sie in der Folgezeit leiden würde.

Nun hatte sie niemanden mehr. Die gütigen klaren Augen, an denen ihr trüber Mut sich stets erholt hatte, würde sie nicht mehr sehen und nicht mehr die tiefe kraftspendende Stimme hören, die zu ihr gesprochen hatte: »Laß dich nicht unterkriegen, Kind. Wir Menschen müssen alle unsere Last tragen. Und die Guten und Starken werden am meisten beladen. Wenn du nur dir selbst treu bleibst, dann wirst du diese schwere Zeit noch einmal segnen lernen.«

Was hatte sie sich in diesen letzten Monaten doch immer zum Trost gesagt: Es kann ja nicht schlimmer kommen! ... Ach, wie es schlimmer kam!

Lange saß sie zurückgesunken, mit geschlossenen Augen. Als sie sie wieder öffnete, war es draußen beinah Nacht geworden. Einem schwarzen Schatten ähnlich, aus dem ein fahler Totenkopf hervorragte, stand, kaum erkennbar, die Gestalt ihrer Mutter am Kamin, aber deutlich klang noch immer ihr rauhes, erregtes Gemurmel durch die Stube und mischte sich mit dem rauschenden Herbstregen.

Am nächsten Nachmittag ersann Irmgard einen Vorwand und begab sich in die Privatklinik Guhnotts. Sie hatte ihn schon öfter dort besucht in Stunden schweren Bangens. Sein Haus dagegen mied sie, seitdem Viktor sie dort überrascht und ihr einen Antrag gemacht hatte.

Die Meldeschwester kannte sie schon und führte sie gleich in des Geheimrats Privatzimmer. Nach kurzem Harren trat Guhnott ein, in seinem weißen Chirurgenmantel, und streckte ihr die Rechte entgegen.

»Da bist du ja! Ich hatte mich schon um dich gebangt. Weißt du's?«

»Ja, Onkel, und ich wünsche dir von Herzen alles Glückliche und Gute!«

»Und Kraft, Kind! Es ist ein großer Schritt. Wenn's vor zehn Jahren gewesen wäre, hätte ich ihn mit leichterem Herzen getan. Heute frage ich mich oft, ob ich nicht zu alt bin.«

»Du und alt, Onkel! Wie kannst du das nur sagen?«

Deutlicher noch als ihr Mund gab ihr Blick, womit sie an seiner hohen Gestalt und zu seinem von dem langen Aufenthalt in den Bergen sonnverbrannten Gesicht emporsah, ihm die Gewißheit, daß sie seinen Worten widersprach.

»Kind, wenn die Sorge unser Haus umschleicht ... Aber nein, ich müßte ja lügen, wenn ich nicht guten Mutes nach Berlin ginge. Ich gehöre dahin ... Nur ...«

Seine Augen, die sie eben noch mit dem scharfforschenden Blick des Arztes angesehen hatten, ruhten jetzt in schmerzlicher Versunkenheit auf ihr.

»Wir beide müssen uns trennen. Und was wird nun aus dir?«

So erquickt war sie von seiner Teilnahme, daß ein Lächeln voller Mut ihren Mund umspielte.

»Ich habe ja deinen Talisman, Onkel. Immer kann's nicht so bleiben. Es muß mal besser kommen.«

»Ja, ja. Nur darf es nicht zu lange dauern für deine Kraft. Wie geht's denn zu Haus?«

»Da ist alles beim alten,« erwiderte sie rasch. »Aber erzähle lieber von dir! Du hast so viel erlebt!«

Ein verlangender Durst sprach aus ihr, sich selbst zu vergessen und von ihm so viel einzusaugen, wie in der kurzen Zeit ihres Beisammenseins möglich war.

»Wie war es in Berlin?«

»Ich war nur zwei Tage da. Alles ging glatt. Aber leg' erst mal ab.«

»Darf ich?«

»Du mußt einfach. Sie« – damit meinte Guhnott seine Patienten – »wissen noch gar nicht, daß ich wieder da bin. Ich bin auch erst gestern zurückgekommen. So ... nun werde ich Tee bestellen. Setz' dich!«

»Und in den Bergen war es herrlich? Und du hast dieselben Touren gemacht wie vor sechs Jahren? Also das ist das beste Zeichen, daß du noch ebenso jung bist wie damals.«

»Ja, ja. Nur wurde es uns beiden, dem braven Peter Dangel und mir, doch erheblich saurer als damals.«

Die in diesem Augenblick eintretende Schwester bat er, Tee zu bringen, nahm ein Bündel Depeschen entgegen, das er mit dem Wort: »Glückwünsche!« beiseite legte, überflog einige Zettel, welche die Namen der im Wartezimmer harrenden Patienten aufwiesen, und traf zugleich verschiedene Anordnungen wegen einer für den späten Nachmittag bevorstehenden Operation.

Dann tranken die beiden Tee. Während Guhnott erzählte, vergaß Irmgard, daß der Herbstregen gegen die Scheiben klatschte und in gespenstischem Totentanz die Blätter kreiselten. Sie sah einen strahlend blauen Himmel – so blau wie der in Oberhof – und schritt über die weißen Schneefirnen der Berge, die unwillkürlich die Formen des Thüringer Hochlandes annahmen. Aber diese Erinnerungen hatten ihren Stachel verloren. In diesem Augenblick dachte sie nur an Guhnott.

Ihn hatte die Fülle der Eindrücke immer lebhafter werden lassen. Seine tiefe, sonore Stimme klang laut durch das in hellem Licht strahlende Zimmer, und sein fröhliches junges Lachen hallte an den Wänden wider, die mit einem Porträt von Bergmann und mit Bildern geheilter Patienten, Fürstlichkeiten und Berühmtheiten, geschmückt waren.

Aber mit einemmal kam wieder dieser entrückte Ausdruck über ihn, ließ ihn langsamer, murmelnder sprechen und endlich schweigen.

Die ganzen Wochen seiner Abwesenheit hatte Irmgards Bild ihn begleitet. Er trug es nicht nur in seiner Brusttasche bei sich, sondern unzählige Abdrücke davon in seiner Erinnerung. Es war, als hätte sich beinah von jedem Augenblick ihres Beisammenseins ein Samenkorn in seine Seele gesenkt, das irgendwann einmal aufging. Aber wie blaß waren diese Bilder im Vergleich mit ihrer körperlichen Nähe!

Mit schmerzlich süßer Gewalt prägte ihre rührende, noch veredelte Schönheit sich ihm ein, ihre überschlanke Gestalt, ihr schmales Gesicht, dessen Wangenlinie von so ergreifender Zartheit war, ihre Stirn, auf deren reiner Blässe sich die feinen Linien der Brauen in tiefem Schwarz zirkelten, und die sammeldunkle Traumtiefe ihrer Augen ... Sein Bewußtsein ging unter in Schauen, sein Inneres tönte in überirdischem Glück, in todessehnsüchtiger Traurigkeit.

Er entriß sich dem gefährlichen Zustand. Stellte sein Auge wieder auf den kalt beobachtenden Blick des Arztes ein, erkundigte sich nach Irmgards Gesundheitszustand, forschte nach ihrer Mutter.

Zuerst wollte sie nicht mit der Sprache heraus. Als er aber nicht aufhörte, in sie zu dringen, brach das gewaltsam verborgene Leid schließlich hervor.

»Es ist so schwer!« klagte sie. »Aus meiner Kinderzeit schwebt Mutter mir als eine so fröhliche, liebenswürdige Frau vor. Und gegen mich war sie so gut! Aber später, nach Vaters Tod, hat sie sich vollständig verändert. Die Mutter, die ich lieb hatte, habe ich verloren.«

Aufmerksam hörte Guhnott ihr zu, entlockte ihr immer mehr Einzelheiten und sagte schließlich:

»Du mußt dich daran gewöhnen, deine Mutter als Kranke anzusehen. Ohne ärztliche Untersuchung kann ich über ihren Zustand natürlich nichts Genaueres sagen. Aber ich bin überzeugt, daß die geistige Veränderung, dieser Eigensinn, mit dem sie an dem einen Gedanken festhält, mit ihrer Erkrankung zusammenhängt. Heilen kannst du sie nicht, aber vielleicht gelingt es dir, ihren Zustand erträglicher zu machen. Unterbrich sie manchmal in ihren Reden, ohne ihr zu widersprechen! Ruf alte glückliche Zeiten in ihr wach! Erinnere sie an frühere Bekannte, an euer Gut, an deinen Vater! Vor allem aber nimm du selbst alles, was an Güte und Fröhlichkeit in dir ist, zusammen! Laß dich nicht anstecken von ihrem Gram, sondern heile sie mit deinem Sonnenschein! Vielleicht kannst du dadurch, auf Stunden wenigstens, deine liebe alte Mutter wiederfinden.«

Die Schwester klopfte und brachte neue Zettel mit den Adressen von Patienten. Es war Zeit zum Abschied.

»Leb' wohl, Onkel! Und nochmals alles Gute!«

Er hielt ihre Hand.

»Kind, ist es wirklich das letztemal?«

»Ja, so bald kann ich von der Mutter nicht wieder weg.«

»Daß ich dich hier allein zurücklassen muß ...«

»Es wird schon gehen.«

»Es kommt mir wie Pflichtvergessenheit vor. Ich sollte mit deiner Mutter reden. Du brauchst so nötig Pflege wie sie.«

»Nur das nicht!« erwiderte Irmgard erschrocken. »Wenn Mutter erfährt, daß ich hier war, wird's ja noch hundertmal schlimmer. Es wird schon gehen. Es muß ja gehen.«

Mit heroischem Lächeln sah sie zu ihm auf. Aber gegen ihren Willen füllten sich ihre Augen mit Tränen, und ihr Kopf schmiegte sich an seine Brust.

»Ich hab' schon wieder Mut! Mein Herz ist ja ganz, ganz voll von dir. Davon zehr' ich.«

Er hielt sie und preßte sie an sich, während er selbst erbebte unter der Macht der Katastrophe, die bei diesen Motten über ihn hereinbrach. Wie durch vulkanische Gewalt die Erde plötzlich birst und brodelnde Quellen hervorschießen, stürzte ans Tageslicht seines Bewußtseins plötzlich alles, was im Dämmerlicht des kaum Geahnten geschlummert hatte. Mit grellem Schein stand ihm vor Augen, daß nicht die Fürsorge und Zärtlichkeit des Vaters ihn mit diesem jungen Geschöpf verband, sondern daß sein ganzes Innere sich in brennendem Durst mit ihrer Süßigkeit, ihren holden, kindlichen Reizen vollgesogen hatte, daß alles, was an unerfüllter Sehnsucht, an Liebesverlangen, an Seelen- und Sinnenhunger in ihm sein Wesen trieb, nur dieses eine Ziel kannte.

Und wie eine Feuersbrunst plötzlich tausend Gestalten, eine ganze, eben noch unsichtbare Welt aufleuchten läßt, durchblitzten ihn in rasendem Flug tausend Vorstellungen, Pläne, Verwicklungen, Lösungen, Kämpfe und Siege.

Einem halb Bewußtlosen glich er unter der Wucht dieses Überfalls. Er fühlte nicht, daß er Irmgard mit erstickender Gewalt an sich preßte. Als er sie freigab, lag etwas tief Verstörtes in seiner Haltung, seinem Gesicht, seinen Augen.

»Leb' wohl, Onkel!«

Seine Stimme versagte. Nur seine Hand machte eine Bewegung. – Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, trat er langsam ans Fenster, starrte hinaus und ließ sich dann auf einem Stuhl an seinem Schreibtisch nieder. Während er mit der Linken den Kopf stützte, seine Rechte aber zu jedem Wort hob und senkte, wiederholte er:

»Mein Herz ... ist ... ganz ... ganz ... voll von dir.«


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