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7.

Die Mahlzeiten waren fast die einzigen Stunden, an denen Professor Guhnott seine Familie sah. Deshalb hielt er darauf, daß sie gemeinsam eingenommen wurden, auch wenn die anderen, wie dies öfters geschah, auf ihn warten mußten.

Nachdem die drei von ihrer Autofahrt, die sie mit Berliner Bekannten in den Thüringer Wald unternommen hatten, zurückgekehrt waren, saßen sie jetzt im Wohnzimmer.

Frau Guhnott legte sich Patiencen. Viktor las die Zeitung. Margot war in einen Essay von Emerson vertieft. Sie liebte es, von Zeit zu Zeit das Chaos ihrer Seele durch die nachdenksame Stimme der Philosophie zu klären.

Da alle drei abgespannt und hungrig waren, herrschte eine verhaltene Nervosität, die nur darauf wartete, sich Luft zu machen.

Endlich faltete Viktor geräuschvoll die Zeitung zusammen.

»Viertel nach! Nun könnte Papa wahrhaftig bald kommen!«

»Wenn die Kranken rufen ...«

»Dann müssen die Gesunden warten. Das haben wir nun schon x-mal gehört, Mama. Kannst du dir nicht mal 'n bißchen was Geistreicheres ausdenken?«

»Du bist ungezogen, Viktor.«

Margot blickte von ihrem Buch auf.

»Kinder, nun zankt euch bloß nicht! Das fehlte gerade noch.«

»Ich zanke mich überhaupt nicht,« erwiderte Frau Guhnott.

»Was tust du denn?«

»Ich erziehe dich.«

Beide Geschwister brachen in ein schallendes Gelächter aus, und Margot sagte:

»Ach, Mama, manchmal bist du wirklich furchtbar komisch.«

»Nun ja,« erwiderte Frau Guhnott kleinlaut. »Ich versuche wenigstens ihn zu erziehen. Bis jetzt ist mir das ja leider noch nicht gelungen.«

»Du solltest lieber andere Leute erziehen,« brummte Viktor. »Wenn Margot oder ich uns mal fünf Minuten verspäten, ist gleich der Teufel los. Aber ...«

»Das ist auch ganz was anderes. Papa hält die Pflicht ab.«

»Und mich? Ihr denkt immer, ich bummelte den ganzen Tag herum.«

»Also das ist nicht zum Aushalten,« fuhr Margot auf. »Nehmt euch doch ein bißchen zusammen.«

Sie schob die Rolltüren auf und sagte zu dem im Eßzimmer befindlichen Mädchen:

»Paula, schicken Sie doch gleich mal den Fritz zu Herrn Tann in die Wohnung! Er soll fragen, wie's ihm geht. Daran hättest du mich auch erinnern können,« wandte sie sich an ihren Bruder. »Ich bat dich doch heute nachmittag extra darum.«

»Ach Gott, ihm wird's schon gut gehen,« murmelte dieser gleichgültig.

Gleich darauf meldete der Diener: Der Herr Geheimrat hätte soeben angeklingelt, das Auto zu Herrn Tann bestellt und mitgeteilt; er selbst käme einer Operation wegen erst in einer Stunde. Man möge nicht länger auf ihn warten.

»Also da haben wir die Bescherung,« höhnte Viktor.

Margot war ganz blaß geworden. Obwohl sie den Zusammenhang nicht begriff, ahnte sie doch sofort, daß es Heinz schlechter ging. Aber durch wen hatte ihr Vater von seinem Zustand erfahren?

Da fiel ihr ein, daß Irmgard am Nachmittag dagewesen war. Eine jähe Eifersucht krampfte ihr Herz zusammen.

Ihr war der Hunger vergangen, während Viktor erklärte, daß ihm alles gleich wäre; er müsse jetzt erst etwas essen.

Wortkarg nahmen die drei das Abendbrot ein. Als der Geheimrat dann erschien, versammelten sie sich wieder um den Tisch.

Aufgeräumt entschuldigte sich dieser wegen seiner Verspätung, indem er aber gleich, zu seinen Kindern gewandt, hinzufügte:

»Wenn ihr wüßtet, wer daran schuld ist, würdet ihr gewiß nicht böse sein.«

»Das wissen wir,« erwiderte Margot kalt. »Erzähl' uns doch lieber, wie's Herrn Tann geht!«

»Jetzt ist er außer aller Gefahr. Aber es war gut, daß ich kam. Seine Wunde sah bös aus. Ich habe sie gründlich gereinigt. Nun wird er in ein paar Tagen wohl überm Berg sein.«

»Wer hat dir denn gesagt, daß es ihm schlecht ginge,« fragte Viktor.

»Rate!«

»Irmgard Raumer hat dich antelephoniert,« erwiderte Margot.

»Nein, ich traf sie zufällig auf der Straße. Da bat sie mich mitzukommen.«

»Ach, sieh mal an!« sagte Frau Guhnott mit ihrem kindlichen Lächeln. »Ich habe mir doch gleich gedacht, daß sie sich für den hübschen Blonden interessiert.«

»Warum habt ihr mir nie von ihm erzählt? Er ist ja ein famoser Mensch.«

»Aber, Vater, wir haben oft von ihm gesprochen. Du hast nur nicht hingehört. Nicht wahr, Kinder?«

»Ihr habt mir erzählt, daß er uns besucht, und daß er ein flotter amüsanter Mensch ist. Aber von seinem Interesse für Medizin habt ihr mir gar nichts erzählt.«

»Ist denn das so weit her?« fragte Viktor.

»Jawohl, das scheint mir sehr tief zu gehen. Aus allen seinen Äußerungen habe ich das entnommen. Ich habe ihm eklig weh tun müssen, aber er hat sich dabei mit einer Kaltblütigkeit beobachtet, wie das nur der eingefleischte Arzt kann. Ich hatte meine helle Freude an ihm. Es ist ja gewiß sehr zu überlegen, ob man einem mittellosen Menschen gerade dies Studium empfehlen soll. Aber wenn einer so mit Leib und Seele dabei ist, dann hat man, meine ich, die Pflicht, ihm zu helfen. Das heißt nicht das ärztliche Proletariat vermehren, sondern wahrhafte Jünger unseres Berufes gewinnen. Natürlich muß die Sache gründlich überlegt werden. Jetzt in diesem Semester ist es ohnehin zu spät. Aber in den Ferien hätte ich wohl Lust, darüber mit seinen Eltern zu korrespondieren.«

Der Geheimrat war müde. Er und seine Frau zogen sich bald zurück.

Die Kinder blieben noch auf, in Viktors Zimmer.

Mit der Kraft eines Blitzes war die Nachricht, die ihr Vater gebracht hatte, in Margot eingeschlagen. Wie einem brennenden Gehöft Menschen und Vieh in wirrer Hast entfliehen, so stürzten aus ihrem Innern entfesselte Wünsche und Begierden, Haß, Eifersucht, Neid und vielerlei böse Gedanken. Aber zugleich schlug die Sehnsucht nach dem Guten mit herrischer Kraft ihre reinen Schwingen und versuchte, sich über dies häßliche Getümmel zu erheben.

Äußerlich war ihren verschlossenen Zügen kaum etwas anzumerken. Nur das intensive Strahlen ihres Blickes und die Art, wie sie mit aufgestütztem Arm zwischen ihren zusammengepreßten Fingern die Zigarette hielt, die schon so weit heruntergebrannt war, daß das feurige Ende ihr fast die Haut versengte, zeugten von der völligen Eingeschlossenheit ihres Bewußtseins.

Viktor durchmaß das Zimmer mit aufgeregten großen Schritten, straffte jetzt seine krause Weste, stäubte sich jetzt die Asche ab, indem er zugleich die dicke Havannazigarre von einem Mundwinkel in den andern schob und kompakte Rauchwolken ausstieß.

Plötzlich machte er halt und fragte:

»Wie findest du das?«

Ohne ihr Gesicht zu bewegen, betrachtete Margot ihn mit schrägem Blick.

»Was?«

»Daß Papa Irmgard auf der Straße anspricht.«

Margot ließ ihre Zigarette fallen und zuckte nur kurz mit den Achseln.

»Also ich finde das unerhört. Er kennt sie doch kaum. Da sieht man mal, wie er's treibt. Übrigens von Irmgard ist es doch auch unglaublich, sich auf diese Weise um Heinz zu kümmern.«

»Sie liebt ihn eben.«

»Blödsinn!« brauste Viktor auf. »Sie ist doch nicht verrückt. Er hat nichts, und sie hat nichts. Wohin soll denn das führen?«

»Wenn Papa ihm aber hilft?«

»Der und ihm helfen! Das sagt er doch nur, um uns zu ärgern. Er muß uns doch alle Menschen abspenstig machen.«

Margot kniff wie unter einem körperlichen Schmerz die Augen zusammen. Manchmal erregte der Bruder einen Widerwillen in ihr, wie man ihn nur gegen das vergröberte Zerrbild seiner selbst empfindet.

Eben das, was Viktor jetzt aussprach, hatte auch sie gedacht.

Hatte es aber verworfen als etwas Plumpes und Unwahres.

Wie unnatürlich ihr Verhältnis zu ihrem Stiefvater auch war, immer gab es noch Augenblicke, wo sie durch alle Trübheit ihres verworrenen Herzens sein wahres Wesen erkannte.

Einst hatte ihr Verhältnis zu ihm auf des Messers Schneide gestanden. Dem fremden, schönen Mann, der ihre erkrankte Mutter pflegte, war ihr frühreifes Herz entgegengeflogen mit einer Schwärmerei, in die schon Eros seine Feuersglut gehaucht hatte. Als sie ihn dann aber Vater nennen sollte, war dies Empfinden in jähe Eifersucht umgeschlagen, bewußt als Eifersucht für die Mutter, unterbewußt als Eifersucht auf sie. Aber das gütige Verhalten Guhnotts hatte diesen Groll schon fast besiegt, als ein unglückseliger Zufall sein ganzes geduldiges Werben vereitelte.

Zwischen den Eltern hatte eine Unterhaltung stattgefunden, die Margot betraf. Frau Guhnott hatte sich über das launische und anspruchsvolle Wesen der Tochter beklagt, die alles, was man ihr zuliebe tat, wie etwas Selbstverständliches, ohne ein Wort des Dankes, ja selbst ohne ein Zeichen der Freude hinnahm; ihr Mann hatte erwidert, daß das Kind in dem oberflächlichen, eitlen Treiben eines reichen Durchschnittsmädchens niemals wahre Befriedigung finden würde. In ihr, die sich durch ihre Klugheit ebenso vor ihren Altersgenossinnen auszeichnete, wie sie an körperlichen Reizen ihnen gegenüber benachteiligt war, müßten ernstere Werte des Geistes und des Gemüts angebaut werden, um sie für ihre mangelnde Schönheit zu entschädigen.

Dieses Gespräch hatte Margot belauscht, und ihre tödlich gekränkte Eitelkeit faßte von da an einen feindseligen Groll gegen den Mann, der – so redete sie sich ein – sie in ein Aschenbrödeldasein zurückdrängen wollte. Seitdem hatte sie jedem Vorschlag ihres Stiefvaters einen bösen Hintersinn beigelegt und hatte mit dieser Verstocktheit nur allzu leicht den gegen die neue Autorität erbosten Bruder angesteckt. So waren beide Kinder zu Guhnotts Feinden geworden, die bei der schwachen Mutter einen versteckten und offenen Kampf gegen ihn führten.

Auch jetzt, wo es sich um Heinz handelte, war sie bereit gewesen, ihres Vaters Absichten zu verdrehen. Aber ihr hellsichtiger Verstand sagte ihr nur zu deutlich, daß sein Plan einer aufrichtigen Sympathie entsprungen war. Er würde Heinz helfen und dessen Leben eine andere Wendung geben. Dadurch aber war auch ihr eigenes Verhältnis zu Heinz mit einem Schlag von Grund aus verändert.

Bis jetzt hatte sie in ihm nur den begehrten Kurmacher erblickt. Und gerade der Umstand, daß sie nie im Ernst an eine Heirat gedacht, hatte ihrer Leidenschaft den Charakter eines aufregenden, sentimentalen Spiels gegeben und ihrer Eifersucht auf Irmgard den bittersten Stachel genommen. Sie hatte sich gesagt: Mag sie ihn schließlich behalten, wenn sie sich damit begnügt, einen armen Schulmeister zu heiraten!

Jetzt aber war Heinz mit einemmal eine ernsthafte Partie. Allerhand verworrene Vorstellungen von einer Professur, von dem Besitz eines Sanatoriums, von irgendeinem vielbeneideten Posten, den er erringen konnte, und der auch seiner Frau eine angesehene Stellung in der Gesellschaft geben würde, durchwogten sie und entfesselten in ihr alle Strebungen und Qualen der Eifersucht.

Mit der Zusammenhangslosen Schnelligkeit eines Traumes durchlebte sie die verschiedenen Phasen eines Kampfes, der zwischen ihr und Irmgard entbrennen würde. Bald blieb sie die Siegerin vermöge ihres überlegenen Geistes und ihrer geschickt angewendeten Machtmittel. Dann wieder trug Irmgard den Preis davon, einfach durch den Zauber ihres Wesens, bloß deshalb, weil Heinz sie liebte ...

Aber es gab noch ein Drittes. Etwas, was dem Begehren ihrer gefesselten Sehnsucht entsprach. Sie konnte alle selbstsüchtigen Absichten hinter sich lassen und dem Freund helfen, nur um ihrer Liebe zu ihm Genüge zu tun.

In den Büchern, die für sie dasselbe bedeuteten, was das Gotteshaus dem Frommen ist, worin er Erhebung über die zerklüfteten Abgründe seines Innern und endgültige Antwort auf die ewig widerspruchsvollen Tendenzen seines Menschenwesens sucht ... in diesen Büchern erhob sich gleichsam als eine Wasserscheide zwischen den Lebensströmen die Forderung der Selbstüberwindung. So verschieden die Wege der Philosophen auch waren, in diesem einen Gipfel trafen sie sich alle, die alten wie die neuen.

Margot vernahm in dieser Stunde des Wirrsals den Ruf lockend in ihrem Ohr. Noch blickte sie skeptisch und ungläubig auf das neue Ziel. Aber schon regte sich in ihr etwas von der Lust des Bergsteigers, der aus Glut und Staub der Landstraße den schimmernden Firn des ersehnten Gipfels vor sich sieht und einen Hauch seiner reinen Luft verspürt. Von solchen Gedanken eingenommen, warf sie in gemacht gleichgültigem Ton, als handelte es sich um eine Bagatelle, die Frage hin:

»Was mag das Medizinstudium eigentlich kosten?«

»Na, mindestens doch fünfzehn- bis zwanzigtausend Mark.«

»Mehr nicht? Da hätte ich wirklich Lust, sie Heinz zu schenken. Mama kann sie ja von meinem Erbteil nehmen.«

»Was?« fragte Viktor, ließ sich in einen Klubsessel fallen, streckte die Beine lang von sich, faltete die Hände über seinem Bauch und sah die Schwester groß an. »Das erzähl' mir, bitte, doch noch einmal! Du willst Heinz zwanzigtausend Mark schenken?«

»Warum nicht? Warum soll man einem guten Freund nicht helfen?«

»Und zugleich Papa mal gründlich ärgern. Na ja. Aber der Spaß ist doch ein bißchen kostspielig.«

In Margots Augen, die sich unbeweglich auf ihren Bruder richteten, glitzerte ein trockener, ruhiger Hohn. Viktor wurde immer kribbliger. Er fragte, ob es ihr Ernst sei? Sie nickte nur. Er äußerte sein Erstaunen und versicherte, ihre Frage, warum man einem guten Freund nicht helfen sollte, sei überhaupt keine Antwort. Man würfe doch nicht einem Menschen, den man kaum ein paar Monate kannte, einen solchen Haufen Geld nach. Plötzlich aber schlug er sich auf die Stirn, lächelte mit nachsichtigem Verstehen und murmelte:

»Ach so herum! So herum! So also hat's dich erwischt. Na ja, ich versteh', ich versteh'. Wechsel auf lange Sicht. Du gründest Heinz seine Existenz und zum Dank dafür ... Es ist mir zwar unklar, was du an ihm findest, aber schließlich ... meinen Segen hast du. Das heißt ...«

Von einem neuen Gedanken erfaßt sprang er auf und sagte: »Donnerwetter, wir sind wohl beide verrückt! Kindchen, alle Achtung vor deinem Verstand. Aber diesmal machst du eine kapitale Dummheit.«

»Wieso?«

»Einen Schulmeister würde ein Mädchen wie Irmgard nie heiraten. Aber einen Arzt – da machte er mir ja auf einmal ernsthafte Konkurrenz.«

»Heinz nicht. Schon aus Dankbarkeit nicht.«

Margot erschrak über dies Wort, als hätte es ein anderer gesagt. Und doch war es aus den dunklen Gründen ihres eigenen Innern emporgeflattert.

Viktor führte noch lange Reden, trabte durch den seichten Morast seiner Menschenkenntnis und appellierte an den gesunden Menschenverstand der Schwester.

Diese erwiderte nichts, hörte überhaupt nicht auf ihn. Vornübergebeugt, mit aufgestütztem Kopf, starrte sie zu Boden, wie jemand, der sich über einen Brunnenrand beugt und dort auf dessen schwarzem Grund ein verräterisches Lichtlein tanzen sieht. –

Nachdem Heinz acht Tage in der Klinik gelegen hatte, war er so weit hergestellt, daß er die Heimreise antreten konnte.

Frau Guhnott und ihre Kinder gaben ihm noch ein kleines Abschiedsfest, bei dem es hoch herging mit Sekt und vielfachem Anstoßen der Gläser auf »treue Freundschaft«, »glückliche Zukunft« und »fröhliches Wiedersehen«.

Der Abschied von Irmgard aber vollzog sich zu früher Morgenstunde in der Rosenlaube. Alle die kleinen roten Blüten waren mit Tautropfen behangen, die von der Sonne blitzten, wie die Tränen in Irmgards trauererfüllten, dunklen und doch von Jugendmut und Hoffnung strahlenden Augen.


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