Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15.

Die natürlichen Heilkräfte der Seele, welche in jeder menschlichen Brust, die der Verzweiflung anheimzufallen droht, tätig sind, hatten Heinz den Plan eingegeben, an Professor Guhnott zu schreiben.

Durch sein Wort, nicht mehr mit Irmgard in Verbindung zu treten, fühlte er sich gebunden, aber es schien ihm erlaubt, sich an den gemeinsamen väterlichen Freund zu wenden. Er beabsichtigte nichts weiter, als ihm den Verlauf seiner Unterredung mit Frau Raumer so getreu wie möglich mitzuteilen und ihn zu bitten, nachzuforschen, ob Irmgards Entscheidung etwa unter dem Druck kindlichen Gehorsams erfolgt sei und nur so lange Gültigkeit habe, bis seine gesicherte Zukunft ihm ein Recht gab, um sie zu werben, oder ob er wirklich seine Hoffnung für immer aufgeben müsse.

Von den giftigen Worten der Mutter bis zur Besinnungslosigkeit gepeinigt, hatte er allzu schnell sich den Glauben an die Geliebte entreißen lassen. Nun erhob seine Liebe sich von neuem mit triumphierender Kraft und entfaltete ihre Hoffnungsschwingen. Er erinnerte sich an Irmgards Abneigung gegen die Pläne ihrer Mutter; so manches Gespräch, so manche Briefstelle, die von ihrer gemeinsamen Zukunft handelten, fielen ihm ein, und es schien ihm unausdenkbar, daß dies alles leichtfertige Worte gewesen sein sollten, die bei dem ersten Widerstand zerstoben.

Noch in der schrecklichen Nacht, als er in dem verqualmten, düsteren Wartesaal den Berliner Zug erwartete, entwarf er diesen Brief und schickte ihn ab, sobald er in Berlin angekommen war.

Eine ganze Woche schnellte sein Gemütszustand auf und nieder, wie ein Schwimmer in sturmgepeitschter See, bis er endlich seinem vergeblichen Warten erlag. Es kam keine Antwort auf diesen Brief und konnte keine kommen, da Margot ihn unterschlagen hatte.

Sie kostete jetzt die erniedrigende Genugtuung über ihren Sieg und die fragwürdige Freude an dem Gelingen ihres Tuns. Wohl triumphierte in ihrem Oberbewußtsein ihr befriedigtes Machtverlangen, da sie das Schicksal der beiden wie ein unsichtbarer Gott gelenkt hatte, aber aus ihren Herzensgründen klang wie aus einem verdeckten Orchester dunkelraunend die schmerzliche Trauer über ein ewig Verlorenes. Wie jedem Täter schlimmer Tat, wofern er nicht moralisch schwachsinnig ist, die Verehrung des Guten unverlierbar innewohnt, so mußte auch sie, diesem Gesetz unterworfen, sich eine Rechtfertigung für ihre Handlung vorgaukeln. Darum krampfte sie sich an die Überzeugung fest, daß ein Mensch wie Heinz, von der Natur mit hoher Einsicht begabt, dabei aber unpraktisch und gänzlich ohne Mittel, seine Laufbahn nicht durch die Ehe mit einem armen und überdies noch leichtsinnigen, unbedeutenden Mädchen verzetteln dürfte. Sie, die dreimal Klügere, die Tochter des einflußreichen Mannes und Erbin eines großen Vermögens, war dazu ausersehen, ihm zu dem hochragenden Platz zu verhelfen, wo seine Gaben sich in vollem Maß entfalten könnten.

Ein einziges Mal war sie dem Chaos ihres Innern erlegen. Nun gewann dieses Macht über sie: aus dem Chaos wurde System. Die Folgen ihrer Handlung selbst zwangen sie dazu.

Durch ihre Mutter, zum Teil auch durch Frau Raumer, erfuhr sie, was sich zugetragen, und daß Heinz sich zum Verzicht auf Irmgard entschlossen hatte. Aber würde er nicht trotzdem versuchen, die Verbindung mit ihr wiederherzustellen, würde er sich nicht an ihren Stiefvater als an seinen natürlichen Fürsprecher wenden? Seit seiner Abreise lebte sie in dem Bewußtsein, daß sie wie ein Feldherr, der durch feindliches Land marschiert, Tag und Nacht vor Hinterhalten und plötzlichen Überfällen auf der Hut sein müsse.

Während der kurzen Zeit, die die Gesellschaft noch in Oberhof zusammen blieb, erschien sie jeden Morgen als erste am Frühstückstisch, um die dort liegende Post zu kontrollieren, und hielt sich unter dem Vorwand einer Erkältung auch den ganzen Tag über im Hotel auf, wo sie den Briefträger abfing.

Als sie Heinzens Brief las, zwischen dessen Zeilen mit ihrem trockenen Tatsachenbericht und seiner absichtlich nüchtern gehaltenen Bitte um Aufklärung doch das heißeste Herzblut glühte wie roter Mohn im Roggenfelde: als sie dies las, überwältigte sie das bittere Gefühl einer hoffnungslosen Ohnmacht, einer kläglichen Niederlage, dem jetzigen und allen künftigen Siegen zum Trotz. Sie sagte sich, daß es ihr vielleicht gelingen würde, den Begehrten zu erringen, daß aber kein Bemühen und keine noch so listige Kunst ihm jemals solche Empfindungen für sie einflößen könnte wie die, durch welche er mit Irmgard unauflöslich zusammenhing.

Immer von neuem mußte sie den Brief lesen, bis sie seinen Inhalt auswendig wußte. Dann verbrannte sie ihn endlich an einer Kerzenflamme, während sie mit düsterem Starren ihr eigenes Gesicht im Spiegel betrachtete. Nach Art der Vorsehung hatte sie von dem Freund das Opfer des Liebsten gefordert. Nun war sie für sein ferneres Leben verantwortlich und mußte ihm den Weg zu dem hohen Ziel, das ihr vorschwebte, freimachen.

Im Februar brachte sie mit ihrer Mutter einige Tage in Berlin zu und sah bei dieser Gelegenheit Heinz wieder. Einen ganzen Morgen war sie mit ihm im Museum zusammen und erzählte von allen Jenenser Bekannten. Auch Irmgards Namen nannte sie wiederholt. Seine, Antwort bestand jedesmal nur in Schweigen. Daraus merkte sie, wie tief noch der Schmerz in ihm saß, und daß ihre Hoffnung, in der Eigenschaft einer teilnehmenden, tröstenden Freundin Eingang in sein Herz zu finden, vergeblich war. Seine in sich gekehrte Schweigsamkeit ließ es zu keiner rechten Aussprache kommen.

Auch äußerlich fand sie ihn auffallend verändert. Ganz im Gegensatz zu früher fiel ihr jetzt bei ihm eine Gleichgültigkeit gegen seine Kleidung wie gegen andere Äußerlichkeiten des Lebens auf. Von dem Idealhelden, als der er ihr in ihren Träumen vorgeschwebt hatte, war er mit einmal recht weit entfernt Um so hartnäckiger setzte sie ihren Willen darein, ihn dennoch nach diesem Bilde zu formen.

Das Schlimme war nur, daß sein innerstes Wesen selbst diesem Versuch einen natürlichen Widerstand entgegensetzte. Er war mit einem Wort ein einfacher, geradsinniger Mensch. Seiner bescheidenen Jugend entsprechend stellte er nur geringe Ansprüche. Dafür war er in hohem Grade ehrgeizig. Aber dieser Ehrgeiz machte nur einen Teil seiner Liebe zu der erwählten Wissenschaft aus. Darin wünschte er etwas Großes zu leisten. An äußerer Anerkennung lag ihm wenig. Wenn er etwas im Leben erreichte, so wollte er das allein seinen Leistungen verdanken. Den Gedanken an Protektion wies er mit Entrüstung zurück. In dieser Hinsicht erwies er sich gänzlich ungelehrig.

Letzten Endes trafen bei den beiden zwei verschiedene Weltanschauungen zusammen. Denn auch Margot war von der Richtigkeit ihres Glaubens felsenfest überzeugt. Hatte ihr eigener Stiefvater nicht die Probe aufs Exempel gemacht? Ohne den Reichtum ihrer Mutter hätte er nie den Sitz auf dem Lehrstuhl erlangt, wäre er zeitlebens ein simpler Landarzt geblieben.

Aber sie hütete sich, mit Heinz zu streiten, sie wollte ihn ganz im stillen erziehen.

Seine Bedürfnislosigkeit verletzte sie. Sie sah darin nur ein von seinen kleinbürgerlichen Eltern ererbtes Manko. Durch immer neue Geschenke, die wieder neue Ansprüche hervorrufen sollten, hoffte sie ihm allmählich den Sinn für Luxus beibringen und ihn aus dem lebensfremden Gelehrten zum weitläufigen Mann des Erfolges umbilden zu können.

Da sie merkte, wie empfindlich er war, schickte sie ihre Mutter vor, die mit gewohnter Schnelligkeit auf ihre Wünsche einging. Abgesehen davon, daß es Frau Guhnotts Leidenschaft war, andern Leuten etwas Liebes anzutun, hatte sie gegen Heinz auch noch ein schlechtes Gewissen.

Eines Morgens wurde er aufgefordert, mitzukommen, um für Viktor ein Reitpferd aussuchen zu helfen.

Die drei fuhren also in einen Tattersall, dessen Inhaber, ein ehemaliger Oberbereiter, Margot als alte Schülerin begrüßte. Der kleine, säbelbeinige Herr mit noch immer glänzend schwarz gefärbtem Schnurrbart war sehr neugierig nach den Wünschen der Damen. Aber Margot erzählte gleich so viel von Jagden in England, die sie mitgeritten, und aufregenden Rennen, die sie angesehen hatte, daß er gar nicht zu Wort kam. Dabei drang sie scheinbar achtlos immer weiter in den Stall ein, klopfte nach Anruf diesem und jenem Pferd auf die Schulter und bat schließlich, einige vorführen zu lassen. Sie suche ein Pferd für einen Reiter etwa von Heinzens Statur.

Dieser erlaubte sich zu bemerken, daß Viktor reichlich zehn Kilo mehr wiege als er. Aber die Damen lächelten nur still.

Immer wieder wurde er um sein Urteil befragt, während Margot die vorgerittenen Tiere kritisch musterte und es an Fachausdrücken nicht fehlen ließ. Da Heinz nicht das geringste von Pferden verstand, folgte er einfach seinem Instinkt. Ein ungarischer Fuchs mit langem Widerrist und breiter Hinterhand gefiel ihm am besten. Es amüsierte ihn, als es sich später herausstellte, daß es auch just das teuerste Pferd war. Der Kauf wurde nach Ausbedingung einer kurzen Probezeit wegen etwa sich herausstellender Fehler ohne langes Feilschen abgeschlossen.

Als die drei draußen waren, sagte Frau Guhnott:

»Nun müssen Sie Ihren ›Figaro‹ aber auch fleißig benutzen, lieber Heinz.«

»Ich?«

Margot lachte.

»Glaubst du, Viktor sollte den Gaul haben? Das Zorngeschnaube möchte ich nicht hören, wenn wir ihm erzählten, daß Mama ihm statt der Klubsessel, die er sich wünscht, ein Pferd geschenkt hat. Außer sich wäre er! Also das hat Mama doch glänzend gemacht?«

Heinzens Stimme zitterte ein wenig.

»Gnädige Frau – ich – nein, das hätten Sie nicht tun sollen!«

»Sei still!« flüsterte Margot. »Sonst fängt sie sofort an zu weinen.« Und laut fügte sie hinzu:

»Sieh nur Mama an! Wenn sie jemandem was Liebes angetan hat, kriegt sie immer einen roten Kopf, wie ein junges Mädchen, das seinen ersten Kuß gibt. Num mach' keine Geschichten! Sag danke schön! Und sprechen wir von was anderem.«

»Das meine ich auch, Heinz!« sagte Frau Guhnott.

»Nicht mal danke schön möchte ich hören. Nur daß Sie von heute an täglich retten. Sie müssen sich Bewegung machen. Sie arbeiten viel zu viel. Ihr Aussehen gefällt mir gar nicht.«

Heinz küßte Frau Guhnott stumm die Hand. Dunkel empfand er, daß dies Geschenk nicht von ihr ausging.

Die drei waren eine Weile gegangen, als es Frau Guhnott einfiel, daß Heinz einen Reitanzug brauchte. Auch das wurde ihm nicht erspart.

Da Heinz das Versprechen gegeben hatte, sein Pferd zu benutzen, tat er es auch, und die täglichen Ritte in den Tiergarten während des Frühjahrs bildeten wenigstens für seinen Körper ein wohltätiges Gegenmittel gegen das Leid, das nicht aufhörte an ihm zu nagen.

Es gelang ihm nicht, die Erinnerung an Irmgard auszulöschen. Sie wurde bald zum Inhalt aller seiner einsamen Stunden. Anfangs, da er merkte, daß dies rückwärtsgewandte Sinnen nicht nur seine Traurigkeit erhöhte, sondern auch seine Arbeitskraft beeinträchtigte, hatte er einen heroischen Entschluß gefaßt und Irmgards Briefe und Bilder in eine stählerne Kassette gepackt, deren Schlüssel er seiner Mutter schickte. Aber eines Abends hatte die Sehnsucht ihn übermannt, und er hatte nach stundenlanger Arbeit die Kassette mit einem Stemmeisen erbrochen. Seitdem kämpfte er nicht mehr, sondern saß über seinem Schatz wie ein Geizhals über seinem Geldsack und genoß alle Wonnen und alle Schmerzen, die ihm entströmten.

Das Antlitz, das aus diesen kleinen Bildern, die meist einer Gelegenheitsaufnahme ihr Dasein verdankten, ihn ansah, war von so reiner Schönheit, die Liebesworte ihrer Briefe klangen so lauter und stark, daß er in glücklicher Selbsttäuschung die unwiederbringliche Vergangenheit als Gegenwart durchlebte. Aber dann versetzte der Gedanke ihn in eine halbwahnsinnige Raserei, daß dasselbe Gesicht jetzt vielleicht einem andern lächelte, daß dieser Mund einem anderen die gleichen Liebesworte spendete wie ihm.

Doch dieser Zustand, worin er sich und seine Liebe lästerte, dauerte niemals lange. Trotz allem hielt er den Glauben an Irmgards Treue aufrecht und stellte ihn auf ein unzerstörbares Piedestal, in dem Gefühl, daß mit ihm alles Gute und Stolze in ferner eigenen Brust unlöslich verbunden war.

Nur gegen sich selbst richtete sich sein Grimm. Kein Vorwurf war ihm hart genug, um sich dafür zu bestrafen, daß er sich so widerstandslos von Irmgards Mutter hatte fortjagen lassen. Warum hatte er dieser Frau geglaubt? Warum hatte er nicht darauf bestanden, sich von Irmgard selbst alles bestätigen zu lassen?

Wie war diese feige Schwäche nur möglich gewesen? Lag ihr nicht irgendein Manko seiner Erziehung, seines Charakters zugrunde?

Diese quälenden Fragen waren schon eine Folge des Giftes, das Frau Raumers Worte in ihren feinen Stacheln enthielten. Sie arbeiteten in ihm mit derselben zähen Eindringlichkeit wie seine Liebe zu Irmgard. Und so grundverschieden beide Kräfte waren, in einer Beziehung war ihre Wirkung dieselbe: sie zehrten beide an dem festen Gefüge seines Selbst.

Er besaß den empfindlichen Stolz der feinrassigen Menschen, aber zu seinem Unglück nicht auch das unerschütterliche Selbstgefühl, das eine entsprechende Erziehung verleiht. Bei aller Geradsinnigkeit und Hochherzigkeit zeigte sein Pflegevater doch manche Eigenschaften, die mit seiner untergeordneten Stellung und seinem einfachen Stande verbunden waren, und es hatte Augenblicke gegeben, wo der Sohn sich ihm fremd fühlte, sich seiner schämte.

Nun aber mußte dieser selbst aus dem Mund jener Frau hören, daß auch sein Benehmen den Mangel an guter Kinderstube verrate. Daß ihm jene kaum bemerkbare Prägung fehlte, die der Sohn aus gutem Haus schon von der Wiege an erfährt, und die der Emporkömmling sich niemals aneignen kann.

Kein Vorwurf hätte ihn tiefer verletzen können. Mit dem Verstand sagte er sich, er sei eine Lüge, ihm beigebracht von einer boshaften, gegen ihn erbitterten Frau. Aber diese Erwägung vermochte den Giftstachel nicht zu entfernen. Unwillkürlich sah er seine Vergangenheit in schiefem Licht. Das Schicksal seiner Abstammung selbst, auf das er eher stolz gewesen war, als daß er sich dessen geschämt hätte, ließ ihn als einen Außenstehenden erscheinen.

Hierzu gesellte sich noch der höhnische Hinweis, daß er vom Geld der Frau Guhnott lebe. Er hatte deren Geschenk mit freimütiger Freude, in dem Bewußtsein, dessen würdig zu sein, angenommen. Nun empfand er es als einen beschämenden Druck. In bösen Stunden nannte er sich einen Almosenempfänger. Ein Wermutstropfen war in die harmlosen Vergnügungen gefallen, die er sich von seinem Wechsel geleistet hatte. Er beschloß sich strikt an die Abmachungen zu halten, indem er das Geld als Darlehn betrachtete, das er später zurückzahlen würde, und er schränkte demgemäß seine Ausgaben auf das Notwendige ein.

Aber Frau Guhnott schien sich verschworen zu haben, ihn immer neuen Demütigungen auszusetzen, da sie nicht aufhörte, ihn mit kostbaren Geschenken zu überschütten. Heinz schrieb jedesmal dringlicher, sie möge seine Dankesschuld nicht noch höher häufen. Die Antwort war von ihrer Seite stets die Bitte, daß er ihr nicht die beste und beinahe einzige Freude, die sie noch im Leben habe, verderben möge.

Mit der Zeit merkten auch Heinzens Bekannte, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung sei. Sein alter Kamerad Brandis machte ihm eines Tages energische Vorwürfe.

»Du versimpelst total. Du rauchst nicht mehr, du trinkst keinen Alkohol, spielst keinen Skat. Nächstens läßt du dir nicht mehr die Haare schneiden und ziehst 'ne braune Kutte an. Dann ist der Bruder Gutzeit fertig. Menschenskind, was ist nur mir dir los? Du leidest doch nicht am Liebesfimmel?«

»Das fehlte auch noch!«

»Also dann sei kein Frosch und komm heute abend zu mir! Wir veranstalten 'n nettes, gemütliches Budenfest. Ich hab' ein paar Pullen Burgunder bekommen. Heiling bringt 'ne selbstgemachte, das heißt von Muttern selbstgemachte, Gänseleberpastete mit und außerdem noch 'n niedliches Mädel. Vorhin traf ich die Engel, die will auch kommen. Die beiden Weiber werden sich wohl vertragen. Aber wenn sie sich die Augen auskratzen, ist mir das auch Wurscht. Bei Wurscht fällt mir ein, daß du auch was stiften kannst. Also es wird urgemütlich.«

Heinz sagte zu. Er hatte selbst das Gefühl, wieder mal unter Menschen zu müssen.

Er hatte sich bei der Arbeit verspätet. Als er erschien, war die Urgemütlichkeit schon ziemlich entwickelt. Brandis, Heiling und das Fräulein cand. med. Engel saßen beim Skat. Brandis drückte dem neuen Gast ein Glas und eine Flasche Bier in die Hand mit den Worten:

»Tut dir die Liebe nicht mehr wohl – ersäufe sie in Alkohol.«

Aus der Tatsache, daß sein Freund in Reimen sprach, schloß Heinz auf ziemlich erheblichen Bierkonsum.

Fräulein Engel war eine stattliche Blondine, aus sehr gutem Haus, die aber Wert darauf legte, seitdem sie studierte, alles, was an Mädchenhaftigkeit erinnerte, abzustreifen und sich möglichst burschikos zu gebärden.

Ohne ihre Zigarette aus dem Mund zu nehmen, begrüßte sie Heinz mit einem kräftigen Händedruck.

In einem Schaukelstuhl sah ein junges Mädchen mit blassem, von dunklen Haaren umrahmten Gesicht, das ihn durch irgendeine Ähnlichkeit an Irmgard erinnerte.

Heinz vernahm, daß sie Toni Köhler hieße. Da die andern ihre Runde beenden wollten, setzte er sich zu ihr.

Sie wies auf die Abbildungen eines medizinischen Buches, in dem sie gerade geblättert hatte, und fragte, ob es das wirklich alles gebe.

»Freilich, es sind lauter Naturaufnahmen!«

»Scheußlich! Da kann man ja von Glück sagen, wenn man nur gesund ist. Und mit solchen Sachen geben Sie sich alle Tage ab? Das könnte ich nicht.«

»Womit beschäftigen Sie sich?«

Sie stammte aus Süddeutschland und war erst seit kurzem in Berlin, um Photographieren zu lernen. Sie erzählte ihm von dem Atelier, in dem sie beschäftigt war, von ihren Verwandten, dem strengen Onkel, der immer nur besorgt war, daß sie keine Dummheiten mache, und ihrer Tante, die ihr manchmal mit List einen freien Abend verschaffte.

Heiling hatte sie einigemal in der Poliklinik behandelt. Es freute sie, daß er sie zu diesem Abend eingeladen hatte. Aber nun saß er bei seinem Skat. Seit anderthalb Stunden! Und hatte schon sechs Flaschen Bier getrunken!

Sie wiederholte mit komischer Verzweiflungsgebärde: »Sechs Flaschen. Er allein! Das Fräulein sogar noch mehr.«

Während sie lachte, zeigten sich zwischen ihren roten Lippen zwei Reihen weißer Zähne.

Aber ihre Ungeduld hatte bald ihr Ende erreicht. Man setzte sich zu Tisch.

Ohne Umstände wurden die Delikatessen ausgebreitet, auf dem Papier, das zum Einwickeln gedient hatte.

Aber Fräulein Toni erklärte, so ginge das nicht. Und mit einigen geschickten Griffen arrangierte sie alles viel netter. Die cand. med. Engel sah ihr gleichgültig zu, indem sie erklärte, die vielen fetten Sachen machten sie durstig nach einem Schnabus.

»Woher hast du nur diese potatorischen Neigungen?« fragte Heiling.

»Erbliche Belastung, mein Guter.«

»Du sollst Vater und Mutter ehren und dich nicht für erblich belastet erklären,« deklamierte Brandis.

Man langte tüchtig zu. Der Burgunder befeuerte die Gemüter. Beim Nachtisch legte Fräulein Toni ihre Schmollmiene ab und entschädigte sich für Heilings Gleichgültigkeit durch einiges Kokettieren mit Heinz.

»Ach, wie veränderlich!« summte Heiling und fügte mit drohendem Baßton hinzu: »O Toni!«

»Schad' nichts!« sagte Brandis. »Im Punkt der Liebe ist Freund Heinz noch heut beim kleinen Einmaleins. Nehmen Sie ihn mal tüchtig aufs Korn, Fräulein Toni! Was Heinz? Prost, altes Haus!«

Die Stimmung wurde immer ausgelassener. Heiling setzte sich ans Klavier, und Toni sang Schnadahüpferl. Die Engel hatte sich eine Zimbernmütze aufgestülpt, rauchte eine Zigarre und trank mit allen Bierjungen. Ohne einen Tropfen zu verschütten, konnte sie ein Glas Rotwein nach dem andern hinuntergießen.

Je lustiger die andern waren, desto dunkler fühlte Heinz die Melancholie in sich aufsteigen. Er hatte das Gefühl, immer nüchterner zu werden, je mehr er trank. Aber um seine Verstimmtheit nicht merken zu lassen, lachte und schwatzte er ebenso laut wie die andern. Mit Brandis führte er ein langes Wortgefecht auf, indem er ihm gereimte Antworten gab. Die andern begleiteten die komischen Gewaltsamkeiten dieser Stegreifdichterei mit Au!-Rufen und brüllendem Gelächter.

Nach Mitternacht erklärte Fräulein Toni, sie müsse jetzt nach Hause. Heiling erwiderte, das sei Blech. Sie habe ihm doch gesagt, wenn sie um elf komme, mache ihr Onkel Krach, und wenn sie um zwölf komme, mache er auch Krach. Da solle sie doch bis eins bleiben.

»Aber Sie haben mir versprochen, mich spätestens um zwölf nach Hause zu begleiten.«

Die Engel erklärte, sie bleibe, so lange da noch eine volle Flasche stehe.

Brandis versuchte, das Mädchen durch eine schwungvolle Ansprache zu beruhigen, und schenkte ihr frisch ein. Aber Fräulein Toni schob maulend das Glas zurück.

Da erbot sich Heinz, sie nach Hause zu bringen. Nur Brandis machte einige Einwendungen; da er aber nicht gleich einen Reim auf Onkel fand, blieb es bei einem schwachen Versuch.

Während die beiden die stille Straße hinuntergingen, schob Toni ihren Arm unter den Heinzens.

»Warum waren Sie nur so traurig?«

»War ich das?«

»Sie dachten wohl, ich merkte das nicht? Aber ich habe es gleich gemerkt, als Sie kamen.«

»Woran denn?«

»Ich sehe das. Wenn die Leute zum Photographieren kommen, machen sie alle ein freundliches Gesicht. Aber ich sehe gleich, ob's ihnen damit ernst ist oder ob sie nur so tun. Es stimmt doch? Sie sind traurig?«

»Ja,« erwiderte er ruhig, und es freute ihn, daß sie nicht nach dem Warum fragte.

Sie erzählte, daß sie sich auf dem Hinweg verirrt habe. Sie war just in die falsche Richtung gegangen. Und da sie sich nicht getraute, jemand zu fragen, hatte sie sich schließlich eine Droschke nehmen müssen.

»Sie stammen wohl aus einer kleinen Stadt?«

So gar klein sei ihre Stadt ja nicht, meinte sie. Hätte immerhin dreißigtausend Einwohner. Und seit vorigem Jahr vielleicht sogar noch mehr. Aber es sei doch ganz etwas anderes. Da kenne sie jede Straße, jedes Haus und wisse, wer drin wohnte. Aber hier ... so viele Menschen und gar keine Bekannte!

»Zu Hause war ich immer als die lustige Toni verschrien. Aber hier werde ich am Ende noch traurig. Denn mich langweilen und traurig sein, ist für mich eins. Darum hat's mich so gefreut, daß Herr Heiling mich einlud. Aber hinterher war er recht garstig.«

Sie kamen in die Straße, wo Tonis Onkel wohnte.

»Schon!« sagte sie mit einem Unterton der Enttäuschung. »Ach, nun geht gleich das Geschelte los. Man nähm's ja gern hin, wenn man was dafür gehabt hätte. Aber heute abend war's gar nicht nett ... Nur der Heimweg war nett,« fügte sie hinzu.

Er schloß ihr das Haus auf. Wie sie vor ihm stand im schwachen Schein der Laterne, mit dem frischen kindlichen Gesicht, den treuherzigen Augen, in denen irgendeine Unruhe, eine heimliche Sehnsucht lag, erschien sie ihm von rührender Schönheit. Sie lächelte. Wieder sah er die perlblanken Zähne. Wie um einen Kuß zu empfangen, waren ihre Lippen geöffnet. Und noch immer lag ihre Hand in der seinen.

Aber Heinz dachte an seine Mutter und ihr Schicksal.

Noch einmal öffnete sie die sich schließende Tür.

»Vielen Dank auch für die freundliche Begleitung.«

Immer noch zögerte sie und sagte schließlich leise:

»Sehen wir uns nicht mal wieder?«

»Ich glaube kaum. Ich lebe ganz meiner Arbeit. Aber darf ich Ihnen einen Rat geben, Fräulein Toni?«

Sie erhob fragend das Gesicht.

»Wenn Sie können, kehren Sie in die Heimat zurück. Hier gerät ein junges Mädchen zu leicht unter die Räder. Und das wäre schade! 's wäre schade, Fräulein Toni.«


 << zurück weiter >>