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17.

Guhnotts Privatklinik lag, abgeschieden vom Großstadtlärm, in der stillen Potsdamer Privatstraße. Er hatte für seine Kranken das Erdgeschoß und die erste Hälfte des ersten Stocks inne, in der anderen und im zweiten Stock befand sich die Abteilung eines Professors der Psychiatrie für Nervöse.

Es ging auf halb acht. Die Patienten waren noch meist mit der Toilette beschäftigt. In dem Efeu der nach dem Garten gelegenen Hauswand schilpten die Spatzen. In breitem Goldstrom quoll die Frühjahrssonne durch das Fenster auf den Gang und entlockte den über Nacht vor die Tür gestellten Hyazinthen, Mimosen, Veilchen und Rosen ihre köstlichen Düfte.

Der Stationsdiener, Herr Sonnekalb – von den Schwestern kurzweg Sonne genannt –, den der Geheimrat aus Jena mitgebracht hatte, rannte mit einem sorgfältig verdeckten Gefäß in der Hand über den Gang und begegnete Irmgard, die seit kurzem hier Schwester war. All die hundert Fältchen spielten in dem zerschlissenen Gesicht, während er verbindlich lächelte.

»Dienerchen, Dienerchen, Schwester. Haben Sie wohl geruht? Freut mich. Freut mich!«

Dann verschwand er diskret in einer Tür.

Irmgard trug den Morgenkaffee zu einem jungen Mädchen ins Zimmer. Die Patientin gehörte zu den Renommierfällen des Geheimrats, über den in der Medizinischen Wochenschrift ein längerer Bericht gestanden hatte.

Vor anderthalb Monaten hatte sie in selbstmörderischer Absicht Lysol genommen. Doch war ihr die Flasche zum Glück noch im letzten Augenblick entrissen worden, so daß nur die Speiseröhre teilweise durch das scharfe Gift zerstört worden war. Guhnott hatte ihr das verbrannte Stück durch den Blinddarm ersetzt, der auch glücklich angewachsen war. Jetzt konnte die Patientin ohne Beschwerden wieder schlucken und breiige Nahrung zu sich nehmen und hoffte in kurzer Zeit entlassen zu werden.

Von ihrem Lebensüberdruß war sie gründlich kuriert, staunte sich selbst als Naturwunder an und wurde nicht müde, ihren Fall immer von neuem zu erzählen, als wenn sie den ganzen Verlauf mit Bewußtsein durchlebt hätte. Wie nach ihrer Einlieferung der Geheimrat befohlen habe, alles zu einer Blinddarmoperation herzurichten, wie die Operationsschwester geglaubt habe, er sei verrückt geworden, aber doch gehorsam alles getan hatte. Und sie schloß ihre Erzählung stets mit der Versicherung: »Das Leben ist doch zu hübsch.«

Irmgard lächelte. Ihr war dies junge Ding, das in so kurzer Zeit aus tiefstem Leid zu freudiger Lebensbejahung gelangt war, ein Rätsel.

Jetzt steckte die »Sonne« den Kopf zur Tür hinein und sagte:

»Melde gehorsamst, der Amerikaner ist all right. He likes to have the ... na, wie heeßt mer denn noch 's Frühstück?«

Irmgard begab sich zu dem jungen Amerikaner, dem der von Nekrose zerstörte Unterarmknochen durch das Schienbein eines an demselben Tage amputierten Beins ersetzt worden war. Nachdem sie dem Kranken den Puls gezählt und das Fieberthermometer angelegt hatte, eilte sie weiter zu anderen Patienten.

Nach Frau Raumers Tode hatte Guhnott Irmgard mitgenommen, als müßte es so sein, und die Verwandten hatten nur zum Schein einige Einwendungen gemacht, im Grunde froh, auf diese leichte Weise ihrer Verantwortung entledigt zu werden. Denn Vermögen hatte Frau Raumer nicht hinterlassen.

Da Irmgard völlig zusammengebrochen war, wurde sie zuerst als Patientin behandelt und mußte eine Liege- und Mastkur durchmachen. Guhnott verbrachte den größten Teil seiner freien Zeit bei ihr. Körperlich erholte sie sich bald, doch wollte eine tiefe Niedergeschlagenheit nicht weichen. Die Oberin, eine resolute frühere Offiziersfrau, sprach schließlich das erlösende Wort.

»Der beste Weg, um wieder gesund zu werden, ist, andere gesund machen zu helfen. Sie sollten hier auf unserer Abteilung bleiben, und Schwester Marie wird Ihre Ausbildung übernehmen. Oben bei den Nervösen ist nichts Rechtes los. Da gibt's viel Ärger und wenig Resultate. Aber auf der Chirurgischen ... da sollen Sie mal sehen, was Sie noch für Freude erleben. Da werden die Leutchen zusammengeflickt wie in der Puppenklinik.«

Die Frau Hauptmann behielt recht. Anfangs gab es Irmgard freilich jedesmal einen Stich ins Herz, wenn sie die Kranken mit angstbleichen Gesichtern auf der Bahre in den Operationssaal transportieren sah. Aber bald wurde dieser Eindruck verwischt von dem der Genesung: wie die verschwundenen Lebensgeister sich nach und nach wieder einstellten, wie die matten Gesichter sich bei Irmgards Eintritt aufhellten, wie sie erzählten und fragten – alle Patienten interessierten sich füreinander, meist ohne sich zu kennen – wie sie baten: »Schwester, bleiben Sie doch noch ein bißchen.« Selbst daß die männlichen Patienten sie auf eine etwas sentimentale Weise anschmachteten und ihr den Hof machten, nahm sie mit in den Kauf. Sie wußte, daß sie darin nur das Schicksal der anderen Schwestern teilte, ebenso wie Guhnott und sein Assistenzarzt von den weiblichen Kranken angeschwärmt wurden.

Indem sie sich der Kranken wegen zwang, heiter und teilnehmend zu sein, trat ihr eigener Schmerz mehr und mehr zurück. Ihr Inneres, in dem sich jahrelang nur die düsterste und trostloseste Umgebung widergespiegelt hatte, füllte sich nach und nach mit neuen, lichteren Bildern.

Auch zu den Kolleginnen trat sie bald in ein freundliches Verhältnis. Sie wurden Schwestern genannt, obwohl sie nur Privatangestellte der beiden Ärzte waren und keinem Orden angehörten. Ohne Ausnahme entstammten sie gebildeten Kreisen und waren mit allen ihren menschlichen Fehlern, von denen ein wenig Klatschsucht und gelegentlicher Neid die hervorstechendsten waren, doch im Grund gutartige Geschöpfe, pflichttreu und dabei immer vergnügt.

Das stille Haus in dem schönen Garten bildete ihre Welt; von der großen Stadt, die an der nächsten Straßenecke schon ihre aufgeregten Lebensfluten vorbeischäumen ließ, erfuhren sie wenig. Und es war jedesmal ein besonderes Ereignis, das vorher wie nachher seinen langen Schatten warf, wenn eine von ihnen abends ein Konzert oder ein Theater besuchte.

Seit Irmgard das Bett verlassen hatte, benutzte Guhnott seine seltenen freien Stunden, um sie zu einer Spazierfahrt abzuholen. Im Nu trug das Auto die beiden aus dem Straßengedränge in den Tiergarten. Dort stiegen sie in einem der stilleren, nach Charlottenburg zu gelegenen Teile aus und ergingen sich auf den von der Winternässe noch leise federnden Wegen.

Wenn Baum und Busch und die weiten Wiesenflächen auch noch ihr graues Winterkleid trugen, so schwebte der Frühling doch schon wie ein köstlicher, sonniger Hauch durch die Luft und segelte gleich einer frohen Verheißung auf den leichten Wölkchen unter dem blauen Himmel dahin.

Lange vermochte Irmgard nicht zu gehen, nach einer halben Stunde ermüdete sie meistens. Aber ihre eingefallenen, blassen Wangen begannen sich allmählich zu runden, und der Ton ihrer Stimme, die so zerbrochen und dünn geklungen hatte, wurde voller.

Zuerst hatte Guhnott ihre frische Wunde geschont und sie ihrer Trauer überlassen. Nun aber schien es ihm Zeit, daß sie ihr gequältes Herz befreite. Er wußte, daß der sich selbst überlassene Schmerz in den dunklen Seelenkammern immer üppiger seine fahlen Ranken treibt, daß er aber, ans Tageslicht gezogen und unter der behutsamen Schere tröstlichen Zuspruchs, auf sein natürliches Maß zusammenschrumpft.

Darum brachte er scheinbar absichtslos das Gespräch immer wieder auf ihre Mutter. Deren Verhältnis zur Tochter hatte sich in der letzten Zeit ein wenig gebessert. Zeitweise wenigstens konnte sie sich, von Irmgard klug geleitet, ganz in Erinnerungen an eine schöne vergangene Zeit verlieren, bis sie dann plötzlich mit verändertem Gesichtsausdruck und rauher Stimme von neuem ihre Klagen und Beschuldigungen erhob.

Kurze Zeit vor ihrem Ende, als sie schon bettlägerig war, hatte sie in einer Nacht Irmgard zu sich gerufen. Ein Ausdruck, aus Freude und aufgeregter Angst gemischt, lag auf ihrem abgezehrten Gesicht, und ihre fieberhaften Augen waren groß geöffnet.

»Hörst du's? Hörst du's?« flüsterte sie. »Vorm Fenster!«

Irmgard lauschte lange. Nur der Wind ächzte draußen. Aus einer Nebenstraße erscholl heiseres Singen heimkehrender Studenten. Und ganz in der Ferne der wiederholte Pfiff einer Lokomotive, wie der sehnsüchtige Aufschrei einer geängstigten Seele nach Erlösung und Freiheit.

Dann war alles still ... so still, daß sie glaubte, das leise Flackern der Kerzenflamme vernehmen zu können. Da schrak sie zusammen. Ein leises Pochen. Oder ein Scharren. Auf dem Fensterbrett.

Die Kranke wies mit verzückten Blick hinaus.

»Hörst du's?«

»Ein verirrter Vogel vielleicht,« murmelte Irmgard.

»Der Tod! Der gute Tod, der mich ruft. Kind, wie gern stürb' ich, aber ich kann doch nicht. Was soll aus dir werden? Du bist ja ärmer, als du denkst. Wenn ich tot bin, hast du gar nichts mehr.«

Und mit fliegendem Atem, als wenn sie sich fürchtete, den Mut zu diesem Geständnis zu verlieren, beichtete sie der Tochter, daß sie den Rest ihres Vermögens eingebüßt hätte. Auf den Rat des Kurpfuschers, der seit Jahren sie wie auch Frau Guhnott behandelte, hatte sie ihre sicheren Papiere gegen Aktien eines Unternehmens, das Bankrott machte, vertauscht. Seit Monaten lebte sie schon von den geringen Unterstützungen ihres Bruders und von Schulden.

Nur stockend und unter Tränen konnte Irmgard diese Szene erzählen, die ihr einen furchtbaren Eindruck gemacht hatte. Am nächsten Tage aber, als die Kranke kaum noch zu sprechen vermochte, hatte sie der Tochter, die seit vielen Stunden bei ihr sah und ihre erkaltende Hand hielt, die Wange gestreichelt und geflüstert: »Immer geduldig!«

Diese Worte waren alles, was die Mutter ihr hinterlassen hatte, und waren ihr doch ein köstlicheres Vermächtnis als ein noch so großes Vermögen. Was die Lebende nie anerkannt, wenigstens nie ausgesprochen hatte, schienen diese beiden Worte zu enthalten: ihre Versöhnung und ihren Dank. Und Irmgard hoffte in der Tiefe ihres Herzens, sie würden immer lauter und heller klingen und würden die harten Klagen und die ungerechten Vorwürfe eines Tages zum Vergessen bringen.

Unmerklich löste sich das Bild der Verstorbenen aus den Schlacken, mit denen des Lebens Sorgen, Irrtümer und Leiden es entstellt hatten, und jene andere, gütige, schöne, heitere Frau, als welche dem Kind die Mutter erschienen war, trat immer reiner hervor.

Guhnott half an diesem Verklärungswerk, das zugleich die wachsende Genesung bedeutete, mit zarten, tröstsamen Worten.

Dann aber hatte er diese Spaziergänge, die ihnen beiden zu einer fast unentbehrlichen Gewohnheit geworden waren, mehrere Wochen unterbrochen.

Als sie zum erstenmal wieder in den Tiergarten kamen, fanden sie ihn von des Frühlings Händen geschmückt.

Auf der Fahrt war Irmgard besonders heiter und frisch gewesen, hatte Guhnott viel von ihren Kranken erzählt, die sie täglich mehr interessierten, und gebeten, einer Operation beiwohnen zu dürfen. Sie fühlte sich kräftig genug dazu. Nun hing sie vertraulich ihren Arm in seinen und ließ sich zu ihrer Lieblingsbank führen.

Über ihnen streuten Pappeln ihre wattigen Blüten aus, im Gebüsch grünelte und flimmerte es von Knospen, Kätzchen und jungen Blättern.

Irmgard zog ihre schwarzen Handschuhe aus und legte ihre schlanken Hände flach auf ihr Knie, damit die Sonne sie beschiene.

Eine Weile saßen die beiden schweigend und sahen dem Spiel zweier Blaumeisen zu, scheinbar in reglosem Traumfrieden, während die Flut der Gedanken doch in ihnen auf und nieder stieg wie der gärende Saft in den hohen alten Bäumen und dem jungen Buschwerk.

Immer wieder mußte Guhnott den Blick auf sie richten und ihren Anblick trinken mit durstigen Augen. Wie eine zarte, edle Blüte erwuchs ihr liebliches Gesicht aus dem schwarzen Trauerkleid. Zum erstenmal färbte ein leiser Schimmer ihre Wangen. Ihre roten Lippen, deren Gramesfalten nun verwischt waren, ruhten wieder weich und schwellend aufeinander. Ein leiser Wind löste manchmal die Härchen an ihren Schläfen. Wenn sie dann lässig die Hand erhob, fühlte Guhnott etwas wie einen unwiderstehlichen Magnetstrom in seiner Hand, als müsse er sie gleichfalls erheben und statt ihrer diese feinen Härchen zurückstreichen. Er kostete im Geist die Süßigkeit ihrer Lippen. Er beugte sich über ihr Gesicht, und allein von der Berührung ihrer reinen Stirn strömte kühles Labsal in seine brennende Brust.

Als er Irmgard aus dem Trauerhause mir sich nahm, hatten nur Mitleid und Zärtlichkeit eines Vaters ihn geleitet. Er war überzeugt, die Leidenschaft durch seinen Willen erdrückt zu haben. Aber sie war nur zurückgedrängt und hatte geschlummert wie die Natur im Wintertod. Nun schoß sie frisch in Saft, und jeder Blutstropfen war von ihren Keimen durchdrungen.

Noch war es ihm gelungen, seinen Willen wie ein Stauwehr davor zu setzen, so daß sie wenigstens seine Arbeit nicht überflutete. Nachts aber ergossen sich ihre Wogen desto ungehemmter. Stundenlang saß er am Fenster seiner Villa und starrte wie ein Jüngling in den mondbeschienenen Garten hinaus.

Das Hirn, das tagsüber die Arbeit eines Herkules geleistet, das jetzt eine schwierige Diagnose gestellt, jetzt wichtige organisatorische Anordnungen getroffen, das eine Stunde lang die Aufmerksamkeit von Hunderten von Schülern durch seine glänzenden Gedankengänge gefesselt hatte, um in der nächsten sich in die Gedankengänge irgendeiner Examensarbeit zu vertiefen, das Todesurteile gefällt, wenn auch nur im verschwiegenen Innern, das aber dreifach mehr Leben dem Siechtum und dem Tod entrissen hatte ... dies große, starke Hirn war jetzt ausgeschaltet und glich der zusammengeklappten Hülle eines entleerten Ballons. Dem Herzen allein gehörten die Nachtstunden. Und es strömte seine Sehnsucht aus, die emporschoß wie ein kochender Strahl, dahinstrudelte als reißender Bach, sich ausbreitete zum wogenden See, die Ufer überflutete, so daß alles, was dieses Mannes hundertfach bewegtes Leben ausmachte, davon überschwemmt wurde. Und auf dem weiten, dunklen, unheimlichen Wasser, unter dem eine Welt begraben lag, geisterte eine einsame Gestalt, mit süßem, aber todestraurigem Ausdruck, das Bild seines Sehnens: Irmgard.

Oft freilich kam es auch zu einem Kampf zwischen seinem abgeklärten Geist und seinem heißen Herzen. Und der Morgen brach an, ohne daß er entschieden wäre.

Guhnott fürchtete nicht den Skandal. Wenn sein Gewissen ihm recht gegeben hätte, wäre ihm das Urteil der Gesellschaft gleichgültig gewesen. Aber durfte er den Treuschwur, den er sich und seiner Frau geleistet hatte, brechen?

Während seiner Ehe hatte er den Versuchungen, die an ihn, den berühmten Arzt, verführerischer als an tausend andere herantraten, widerstanden. Seine Frau freilich hatte ihm die Treue schlecht vergolten und nicht aufgehört, ihn mit ihrer Eifersucht zu plagen. Und seit einiger Zeit schien sie sich, von den gehässigen Einflüsterungen der Kinder verführt, ganz von ihm abgewendet zu haben. Dennoch wußte er, daß sie an ihm hing und von ihm lebte und zerfallen würde, wenn er sich von ihr losriß

Aber vielleicht hätte er zu dieser Zeit die Kraft gefunden. Was ihn in Wahrheit zurückhielt, war die Rücksicht auf Irmgard.

Es schien ihm ein Frevel an der Natur, dies junge Geschöpf an sein zur Neige gehendes Leben zu fesseln. Und liebte sie ihn denn auch wieder? Wußte sie überhaupt etwas von seinen Empfindungen? Manchmal schien ein ängstlicher Blick, ein scheues Sichverschließen ihm zu verraten, daß sie die tiefverborgenen Leiden seines Innern ahnte. Dann aber hing sie wieder unbefangen an seinem Arm und schmiegte mit der Zärtlichkeit eines Kindes ihren Kopf an seine Brust. Ja, selbst wenn sie seine Gefühle erwiderte, würde nicht eines Tages ein Jüngerer kommen und sie ihren Irrtum erkennen lassen?

Seine ungebrochene Lebenskraft selbst machte diesen Kampf so furchtbar. Und er fühlte, eine glückliche Lösung war unmöglich. Wenn er nachgab, so geschah es auf Kosten seines Gewissens. Das Bewußtsein der Strenge gegen sich selbst hatte seinem Wesen Kraft und Milde verliehen. Kein kommendes Glück würde den Vorwurf der Treulosigkeit gegen diesen Grundsatz zum Schweigen bringen können. Die Entsagung aber ... er vermochte sich den Zustand seines Herzens nicht vorzustellen, wenn er Irmgard verlor.

So zeigte er, dem der rasche Entschluß zur Gewohnheit geworden war, sich zum erstenmal schwach und unentschieden. Er lebte nur noch von einem Tag zum andern und für die Stunden, in denen er Irmgard sah oder von ihr träumte.

Wochenlang hatte er sich Entsagung auferlegt und ein Beisammensein vermieden. Da war das dunkle Sehnen in seiner Brust zu Feuer aufgeglüht, und er hatte beschlossen, sich wenigstens das erquickende Labsal ihrer Nähe zu gönnen.

Er sah sie an. Immer wieder mußte er das tun: sie ansehen und versuchen, ihre Gedanken zu erraten. Welche Bilder mochten an ihren in die Ferne schauenden Augen vorüberziehen? Wem mochten ihre Gedanken gelten?

Da blickte sie auf, und zugleich bemerkte er, daß eine Träne zwischen ihren Wimpern glänzte.

Schmerzliche Eifersucht zerriß ihn. Er war überzeugt, daß die Wunde, die von dem Verlust der Mutter herrührte, verheilt war, aber ein anderes Leid schien noch auf ihr zu lasten. Hatte sie ihre alte Liebe noch nicht vergessen? Trauerte sie dem Gewissenlosen, der, um sein Fortkommen zu erleichtern, sie treulos im Stich gelassen hatte, immer noch nach?

Sie legte sanft ihre Hand auf seine. Die Berührung beruhigte ihn augenblicklich.

»Warum weinst du?«

»Nur so.«

»Du bist doch nicht traurig?«

»Nur so die allgemeine Traurigkeit, die einen im Frühling überfällt. Ich dachte an alle die Kranken und sagte mir. wieviel Ursache ich hätte, glücklich zu sein. Ich bin doch gesund, und du bist so unbegreiflich gut zu mir. Wenn ich dich nicht gehabt hätte, was wäre dann wohl geworden? Ich hätte nicht die Kraft gefunden, es all die Jahre auszuhalten. Wie soll ich dir dafür danken?«

»Ich will dies dumme Wort nicht hören!« stieß er erregt hervor.

Sie beugte sich nieder, um einen raschen Kuß auf seine erhobene Hand zu drücken.

»Und doch muß ich es sagen. Denn es tönt immerfort in mir.«

Spaziergänger tauchten auf. Eine Spreewälder Amme, die mit vollbusiger Majestät ein winziges Wesen in einem seidenausgeschlagenen Kinderwagen vor sich herschob. Ein einsamer Herr, der seinen kahlen Kopf von der Frühjahrssonne bescheinen ließ.

Irmgard fragte, ob auf dem Grasplatz vor ihnen wohl Veilchen wüchsen. Dann wollte sie für eine Kranke ein paar pflücken.

Sie erhob sich, kam aber nach einigen Schritten zurück.

»Was ist dir, Kind?«

»Ich habe mich so erschrocken. Drüben im Gebüsch steht ein Mann, der uns beobachtet.«

»Das muß ein Irrtum sein.«

Guhnott folgte ihr lächelnd, ging dann mit energischen Schritten auf das grünflimmernde Gesträuch zu und sah wirklich, wie die Gestalt eines Mannes, den er nicht näher erkennen konnte, kehrtmachte und unter Knacken der Äste eilig verschwand.

»Du hast wahrhaftig recht. Wenn der Gedanke nicht barock wäre, könnte man meinen, er hätte uns beobachtet. Weiß Gott, mit wem der uns verwechselt hat.«

Dann suchten sie nach Veilchen. Und weil es wirklich welche gab, hatte Irmgard ihren kleinen Schrecken bald überwunden.

Auch Guhnott gelang es, hier und dort eins zu entdecken. Er stützte sich beim Bücken jedesmal auf seinen Stock und fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Dennoch war er glücklich, wenn er ein Blümchen ihrem Strauß hinzufügen konnte.

Aber plötzlich kam ihm das Widersinnige des ganzen Vorgangs zum Bewußtsein. Er, ein alter Mann mit grauem Haar, den in einer Viertelstunde seine Studenten erwarteten, stand hier, verliebt wie ein junger Student in dieses Mädchen, das seine Tochter sein konnte, beim kindlichen Zeitvertreib des Blumenpflückens.

Wie ein glühender Pfahl drang die Lächerlichkeit seiner Lage ihm ins Bewußtsein.


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