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1.

So« sagte Frau Tann zu sich, »das hätten wir mal wieder geschafft.«

Sie stemmte befriedigt die Hände in die Seiten vor der Hügelkette von frisch geplätteter Wäsche, von Herren- und Damenhemden, Frisiermänteln, Kinderhöschen, Kragen und Taschentüchern, die sich auf der breiten Tischplatte vor ihr erhob.

Das alles war Direktors Wäsche. Aber was jetzt noch unten im Korb lag, waren ihres Jungen Hemden.

Sie holte eins hervor, breitete es aus, und als sie nun die Flasche ergriff, um es zu bespritzen, kam ein leises, vergnügtes Auflachen aus ihrer Kehle. Dabei blitzten ihre Zähne, und in ihre hochroten Backen legten sich hellere, blasse Grübchen, ein Schein aus leichtbeschwingten Jungmädchentagen.

Sie hatte gerade denken müssen, wie Heinz daherspazieren würde durch die Straßen der fremden Universitätsstadt in Schmuck der weißen Wäsche.

Tadellos fein waren die Hemden. Dabei waren es eigentlich ausrangierte vom Herrn Direktor. Nach und nach hatte dessen Frau sie ihr überlassen. Und sie hatte aus dreien eins gemacht, von einem das Vorhemd, vom zweiten die Ärmel, vom dritten den Rücken benutzt. Nur die Manschetten hatte sie dazu gekauft. Der Herr Direktor trug nämlich altmodische Röllchen. Aber damit sollte ihr Junge nicht herumlaufen. Beileibe nicht!

Sie blies die Holzkohlen im Bügeleisen an, krempelte die Ärmel fester an den weißen, vollen Oberarm und machte sich wieder an die Arbeit.

In breiter, zitternder Lichtbahn flutete die Sonne durch die Fenster zu ebener Erde über die roten Blüten der Geranien auf dem Brett. In den faden Geruch der frischen Wäsche mischte sich würzig und süß der Duft eines Veilchentopfes. Durch die offene Tür des Nebenzimmers klang gewaltiges Wasserplätschern. Dort stand ihr Mann, der Pedell, an seinem Waschtisch und seifte sich den Alltagsstaub von Kopf und Brust. Dazwischen deklamierte er mit seiner rauhen Baßstimme:

»Nunc est bibendum. Nunc pede libero
Pulsanda tellus.«

Das waren aufgeschnappte Brocken aus seines Sohnes Wissenschaft. Das rauschende Wasser, die rauh dröhnende Männerstimme schienen dem Kanarienvogel just die rechte Begleitung für seinen Gesang. Sein triumphierendes Schmettern, seine süßen Triller rollten wie der Silberperlenwirrwarr einer aufgesprungenen Kette gegen die Wände.

Immerzu! dachte Frau Tann. Singt's nur alle heraus, daß der Jung' heute seinen Ehrentag hat. Und während sie das Bügeleisen gleiten ließ, summte auch sie ein Liedchen.

Nach einer kleinen Weile klopfte es ans Fenster, und die Zeitungsfrau reichte das Lokalblatt herein.

»Tag, Frau Tann! Guckt ens up de dritte Siet, was da steiht. Eck gratulier auch schön.«

Frau Tann schlug das Zeitungsblatt auf und stieß einen leisen freudigen Seufzer aus.

»Du, Vater,« rief sie durch die offne Tür. »Guck doch bloß mal, was da von unserem Jungen steht.«

Der Pedell war eben in die neue Staatshose geschlüpft. Um einen Kopf kleiner als seine Frau, hatte er einen mächtigen, runden Schädel, auf dessen blank polierter Kopfhaut nicht ein Härchen zu sehen war. Seine vielfältig gerunzelte Stirn, sein mächtiger, gesträubter Schnurrbart, der rechte Schnauzbart eines ehemaligen Wachtmeisters, gaben seinem Gesicht einen bärbeißigen Ausdruck und hatten ihm in Gemeinschaft mit seiner kurzangebundenen Kommandostimme den Beinamen Schnauzer eingetragen. Aber aus seinen braunen Augen quoll ein unerschöpflicher Strom von Güte.

»Was ist denn los?«

Sie wies mit dem Finger auf die Stelle, die er mit halblauter Stimme vor sich hin murmelte.

Es stand da, daß zu der heute stattfindenden Abschlußprüfung des Gymnasiums sich zwölf Abiturienten gemeldet hätten. Dreien davon wäre die mündliche Prüfung erlassen worden. Der Name Heinz Tanns war an erster Stelle genannt.

Beide Eltern sahen einander an. Sie beglückt lächelnd, er mit staunend hochgezogener Stirn.

»Nun steht er, weiß Gott, schon in der Zeitung – mit neunzehn Jahren!«

Sie legte ihm leise die Hand auf die Schulter.

»Bist du stolz auf deinen Jungen?!

Er nickte ernsthaft.

»Und ich freu' mich, daß alles so gut geworden ist. Weißt du, an wen ich heute immer gedacht habe?«

»An wen denn?«

»An seinen Vater.«

Etwas wie unwillige Rührung flutete in Frau Tann auf. »Du bist sein Vater!« versetzte sie rasch. »Keiner sonst.«

»Nämlich, weil der Jung' nun in die Welt hinauskommt und kommt hierhin und dorthin, da kann er doch vielleicht seinem Vater begegnen.«

»Die Welt ist so groß. Wer weiß, wo der sein mag, und ob er überhaupt noch lebt.«

»Es ist ja nicht wahrscheinlich. Aber es ist doch 'ne Möglichkeit. Hast du nie daran gedacht?«

»Früher wohl, aber nun schon lange nicht mehr.«

Nicht als ob sie ihre Vergangenheit vergessen hätte. Aber im Laufe der langen Ehe war sie so mit Herz und Seele in diesen Mann hineingewachsen, daß die Erinnerung daran wie ein abgeschlossenes und fertiges Stück Leben in ihr ruhte. Ihm aber mochte der Sohn, der geistig und körperlich so über ihn hinausgewachsen war, das Andenken an den andern häufiger wachgerufen haben. Als müßte sie der selbstlosen Bescheidenheit, die den Grundzug ihres Mannes ausmachte, widersprechen, sagte sie noch einmal:

»Du bist sein Vater! Und der Jung' kann stolz darauf sein. Er könnte sich keinen besseren wünschen.«

Der Pedell hatte während der Prüfung, die bald zu Ende sein mußte, noch in der Aula zu tun. Dann wollten sie zu dritt einen Spaziergang machen und im Mühlengrund Kaffee trinken. Bis dahin würde auch Heinz, der nebst den beiden anderen Triumvirn der Unterprima einen solennen Frühschoppen gegeben hatte, sich wohl von seinen Anstrengungen ausgeschlafen haben.

Frau Tann war noch damit beschäftigt, die Bügelwäsche in einen Korb zu packen, als aus seinem Kämmerchen der Abiturient hervortrat, ein langaufgeschossener Jüngling mit großen, leichtverschleierten blauen Augen und einer dichten Mähne blonder Haare. Er reckte sich aus und blickte mit schlaftrunkenem Lächeln die Mutter an, die fragte:

»Na, Jung', haben wir's Räuschchen ausgeschlafen?«

»Wieso? War ich denn nicht ganz nüchtern?«

»Na, die Treppe bist du 'n bißchen verquer runtergetappt.«

»Ach, Mutter, ich habe einen Blödsinn geträumt! Denk nur, ich bildete mir ein, ich hätte doch ins Examen gemußt und könnte die vierte Ode des Horaz nicht. Und weißt du, wer sie mir eingeblasen hat?«

»Wer denn?!«

»Papa.«

Frau Tann lachte entzückt auf.

»Jung', das mußt du ihm erzählen. Das wird ihn aber freuen.«

»Du, Mutter, was mir eingefallen ist. Es ist doch so Sitte, daß die Abiturienten nach dem Examen Papa eine Kleinigkeit schenken. Mir ist das so genant –«

»Nein, nein, das tut Papa auch nicht. Er hat schon mit mir darüber gesprochen. Er hat gesagt: von Heinzens Kollegen kann ich doch nichts annehmen.«

»Dann ist es ja gut.«

»Sieh mal,« sagte Frau Tann und wies auf eins der frisch gebügelten Hemden. »Für dich! Und da im Korb liegen noch mehr, 'n ganzes Dutzend.«

»Potztausend,« staunte Heinz. »Mutter, du bist doch die patenteste Frau, die ich kenne.«

Er umschlang sie etwas unbeholfen und drückte einen herzhaften Kuß auf ihren Mund. Wieder zeigte sich mit dem Schimmern der Zähne und den hellen Grübchen der feine, schelmische Liebreiz auf ihrem runden Gesicht.

»Jung', du bist nicht gescheit! Du drückst einen ja, daß einem der Atem vergeht. Ich an deiner Stelle würde mal raufgehen. Die müssen doch nun bald ausgeschwitzt haben.«

Auf der Straße promenierten schon etliche besorgte Mütter und neugierige Schüler. Heinz kam gerade zurecht. Er hatte noch nicht die Mitte der Treppe erreicht, als von oben staubaufwirbelndes Getrappel erscholl. Gleich darauf kam eine lange Gestalt mit wehenden Rockschößen, die grüne Primanermütze im Nacken, ihm entgegengerast. Er hatte kaum Zeit zu rufen:

»Möller, wie war's?«

»Alle durch!« schrie der. »Außer Brinkmann,« setzte er flüsternd hinzu.

Ihm nach die anderen Befreiten. Man hätte meinen können, es brennte oben, so lange Sätze machten sie. Alle schwenkten ihre Mützen und wurden von den Mitschülern mit Hurra empfangen. Nur der letzte hatte seine Mütze irgendwo unter der Jacke verborgen, während er langsam die Treppe herunterkam. »Mir ist es Wurscht! Mir ist es total Wurscht!« versicherte er immer wieder und hatte dicke Tränen im Auge.

Zu Haus traf Heinz seinen jüngeren Bruder Karl an, der bei einem Delikateßhändler in der Lehre war. Das kleine, schon jetzt stattlich ausgepolsterte Bürschchen mit den braunen Nußaugen im rotwangigen Rundkopf kam strahlend auf seinen großen Bruder zu.

»Ich gratuliere auch schönstens! Und 'ne schöne Empfehlung von Frau Meisel. Das schickt sie dir mit den besten Glückwünschen.«

Dabei holte er aus seinem Henkelkorb eine stattliche Schüssel italienischen Salats hervor.

»Wie nett von Frau Meisel!« lobte die Mutter. »Die ist immer so aufmerksam.«

»Woher wißt ihr's denn schon?« fragte Heinz.

»I, wir wissen doch alles immer zuerst. Fein, was?« Karl zeigte auf das aus Kapern zusammengelegte »H« »Und tadellos frisch! Wir hatten noch 'ne große Portion von gestern, aber die kriegt die Frau Stangen, weil sie sich über den Aal in Aspik beschwert hat. Na, adjüs zusammen. Ihr habt wohl heute großen Kommers? Da kannst du dir den Salat morgen zum Katerfrühstück schmecken lassen.«

»Adjüs,« rief Heinz ihm nach. »Und schönen Gruß und Dank an Frau Meisel.«

Als die Eltern mit ihrem Sohn wenig später die Wohnung verließen, lagen Treppen und Korridore des Gymnasiums in stiller Feiertagsruhe. Der Pedell, der sonst in Lodenjoppe und verdrückter Sportsmütze hier seines Amtes waltete, trug jetzt, trotzdem der Frühling kaum die Nase zur Tür der Natur hereingesteckt hatte, einen Sommeranzug von leuchtendem Hellgrau, einen Panamahut und im Knopfloch eine Geraniumblüte. Er sah so auffallend aus, daß Heinz sich eines leise unbehaglichen Gefühls nicht erwehren konnte. Aber der kleine, dicke Mann blickte mit unverhohlenem Stolz zu seinem großen Sohn empor.

»Das mit dem Stipendium habe ich schon in Ordnung gebracht,« versicherte er. »Ich habe den Alten gleich festgenagelt. Du bekommst es, solange dein Studium dauert.«

»Natürlich nur, wenn ich klassische Philologie studiere?«

»Das tust du doch auch? Du bist doch nicht anderen Sinns geworden?« fragte der Vater erschrocken.

»Nein, nein, es ist schon so am besten.«

Mit ehrfürchtiger Bewunderung wies der Pedell die breite Mitteltreppe hinauf.

»Ja, Mutter, wie lange wird's dauern, dann spaziert der Heinz wieder da hinauf. Aber dann lehrt er die Jungens selber. Dann ist er der Herr Oberlehrer Doktor Tann. Vielleicht wohnt er gar noch mal da oben, wo jetzt der Alte wohnt.«

»Ach, wer möchte so weit wohl denken!« erwiderte Heinz.

»Na, wer weiß!« versetzte seine Mutter lächelnd.

Noch in der Tür wandte der gute Alte ein letztes Mal den kurzhalsigen Kopf zurück und genoß das freudig stolze Gefühl, seinen Sohn hier dermaleinst als Herrn und Meister zu sehen. Der einfache Mann, der in den Sälen des Lernens nur untergeordnete, grobe Dienste verrichten durfte, hatte sich für die Wissenschaft die ganze, reine Liebe einer ungestillten Sehnsucht bewahrt. Für ihn waren die Herren, die hier mit gewichtigen Mienen ihre Schülerscharen kommandierten, Männer von höherem Rang, welche die heiligsten Güter der Menschheit verwalteten und austeilten.

Beim Sohn freilich hatten die Herren Oberlehrer einigermaßen an Nimbus verloren. Er freute sich ganz ehrlich, das Gymnasium verlassen zu dürfen, und die Vorstellung, hier sein Leben zu beschließen, hatte für ihn wenig Verlockendes.

Auf der Straße wurden die drei von manchem frohen Zuruf und Glückwunsch begrüßt. Während sie die kleine bergische Stadt, deren wenige Fabrikschlote dennoch ausreichten, um sie in einen ganz soliden Staubmantel zu hüllen, unter sich ließen, ging Heinz gedankenstill, und in seine Freude über die Befreiung mischte sich die unruhige Frage nach dem Was-nun? Seit einiger Zelt hatte das Interesse für Naturwissenschaft und Medizin das für die alten Sprachen fast verdrängt. Aber bei der Mittellosigkeit seiner Eltern durfte er nicht daran denken, sondern mußte sich freuen, daß es ihm mit Hilfe des Stipendiums überhaupt vergönnt war, die Universität zu besuchen.

Das alles wird sich schon noch finden, tröstete er sich; und als nun der Bergrücken erklommen war, ließ er zukunftsfroh den Blick über die unter ihm liegende Ferne schweifen und träumte sich dahinter den Tummelplatz seiner kommenden Tage unermeßlich reich, weit und bunt. Nicht allein studentische Freuden malte er sich aus. Er wußte, wenn er aus seiner engen Lage hinauswollte, so standen ihm viel Mühen und Kämpfe bevor, mehr als manchem anderen. Aber er fühlte auch seiner Kräfte machtvolle Lust sich regen.

Und dies Vertrauen auf sich und die Zukunft bekam eine bildhafte Antwort, als die drei nun in das enge Mühlbachtal hinabstiegen. Dort ragte ganz aus der Tiefe des Grunds zur Seite des moosigen Mühlenrads eine prächtige Tanne empor, deren silberhäutiger Stamm so in die Höhe gedrungen war, daß die sonnenbeschienene Krone die anderen Bäume an der Berglehne dahinter, die breitästigen Hainbuchen und Eichen überragte.

Oft hatte der Alte seinem Sohn den Baum gezeigt und scherzend gesagt: »Mach's wie die da, Jung'. Wenn die anderen höher stehen, wachse du höher.«

Aber jetzt war dem alten Herrn viel zu feierlich zumute, als daß er seiner Empfindung in schlichtem Deutsch hätte Ausdruck geben können. Während seine Frau ihr Entzücken über die munter springenden Bergwässer und die Wiese voller Schlüsselblumen im schönsten bergischen Dialekt äußerte, rief er seinen Hausheiligen Horaz zu Hilfe und deklamierte:

» Laudabunt alii claram Rhodon aut... na, etcetera etcetera. Ja, Jung', es ist doch was Feines ums Studieren. Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, vom alten Blücher und vom Scharnhorst? Aber dann hat's nicht lange gedauert, da hast du mir gelernt. Was wüßte ich dummer Kerl wohl von den Griechen und Römern? Ich dachte wahrhaftig, die Welt fängt mit den alten Deutschen an. Und nun kann ich schon den Horaz kopieren. Kopieren – so heißt es doch?«

»Man sagt das wohl auch,« erwiderte Heinz nachsichtig. »Aber der gebräuchlichere Ausdruck ist zitieren.«

»Richtig! Das meinte ich auch. Zitieren! Aber nun wollen wir uns mal den Wirt herzitieren. Ein kleiner Eimer voll Kaffee und ein paar daumendicke Butterbröte täten uns allen jetzt recht gut.«

Der gute Alte war von einer übermütigen Losgebundenheit, wie ein Junger. Und Heinz dachte gerührt, ganz im stillen hätte er wohl noch mehr Examenangst ausgestanden als er selbst. Nachdem die drei sich tüchtig gelabt hatten, stimmten sie zum Singsang der Taubäche und zum Zwitschern der Vögel ein Lied nach dem andern an. Heinz aber steckte sich beim Abschied von seiner Namensschwester, der Tanne, ein grünes Zweiglein an seine Mütze, als Wegbegleiter und gute Vorbedeutung für seine Reise ins Leben.


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