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21.

Geheimrat Guhnott hatte seine Sprechstunde beendet. Und der riesenstarke Mann, dessen nimmer zu ermüdende Arbeitskraft seine Kollegen beinahe ebenso bewunderten wie sein ärztliches Genie, sank in sich zusammen. Der energische, zwingende Ausdruck seines Gesichts wich einem müden Gram, sein heller Blick erlosch. Es war eine Folge seines Rufs, daß sich zu diesen Konsultationen meist nur schwere, verzweifelte Fälle einstellten. Und wieviel hoffnungslose waren darunter! Da galt es statt der ärztlichen die moralische Kunst einzusetzen. Es galt jenen Akt der Selbstübertragung zu vollziehen, vermöge dessen ein gesunder und starker Mann einen siechen und entmutigten aufrichten und mit seinem Kräftestrom erfüllen kann. Denn ohne irgendeine Hilfe sollte niemand Guhnotts Haus verlassen.

Aber diese Leistung, so natürlich in gesunden Tagen, wurde jetzt zur aufreibenden Selbstüberwindung. Und kaum war der letzte Patient gegangen, als auch die gewaltsam zurückgedrängte Flut der Empfindungen wieder hereinbrach. Der Arzt wurde selbst zum Leidenden, nur daß er keinen Helfer fand, der ihn aufgerichtet und sein Herz erleichtert hätte.

Er erhob sich, öffnete einen Schrank, entnahm ihm eine kleine Nickelspritze, die er aus dem Inhalt einer Flasche füllte, und streifte den Ärmel auf.

Was er vorhatte, war der erste Schritt in eine Tiefe, aus der es kein Empor mehr gab. Wieviele Kollegen hatte er auf diese Weise zugrunde gehen sehen! Aber jetzt begriff er ihr Tun, das für ein paar Stunden unerträgliche Qual beseitigte.

Dennoch zögerte er.

Ob es nicht doch jemanden gab, dem gegenüber er sich aussprechen konnte? War es nicht schon eine Erleichterung, das aus einem andern Mund zu hören, was er sich selbst seit einiger Zeit immer wieder sagte: wegzureisen, fremde Länder zu sehen, sich neuen Eindrücken hinzugeben? Aber dieser Rat, so richtig er auch war, bedeutete er nicht: die Kraft zu überwinden, die ihn selbst überwand? Und würde eine solche Flucht wirklich etwas helfen? Die Jugend mit ihrer frischen Empfänglichkeit mochte in der Ferne vergessen, für ihn, den alten Mann, bedeutete alles Neue nur eine Leere, in welche sich die Leidenschaft mit hundertfach verstärkten Qualen eindrängen würde.

So beschloß er den Kampf auf seine Weise fortzuführen. Allein und indem er die Schwäche durch Arbeit niederzwang. Aber das Bewußtsein, in diesem Ringen endlich doch erliegen zu müssen, ließ den Wunsch nach einer Aussprache immer wieder wach werden.

Und als jetzt seine Frau das Zimmer betrat, strafften sich seine Züge in einem Ausdruck inneren Aufhorchens. Hatte sie nicht als erste das Recht darauf zu wissen, wie es um ihn stand? War sie nicht die Nächste dazu, ihm zu helfen? Nie war ihm bisher dieser Gedanke gekommen. Da er sich entwöhnt hatte, um nicht die maßlose Eifersucht seiner Frau zu erregen, je auch nur das oberflächlichste Interesse für ein weibliches Wesen zu verraten, so hatte er auch Irmgard nur ein einziges Mal ihr gegenüber erwähnt. Würde sie nicht aber jetzt, wenn er ihr offen seine Leidenschaft eingestand, die Grundlosigkeit ihrer früheren Verdächtigungen einsehen? Würde sein Vertrauen, seine Bitte um Hilfe und Trost sie nicht rühren? Seit langem glich ihre Ehe dem gezwungenen Zusammenleben zweier feindseliger Fremder. Konnte diese offene Aussprache nicht zu einem neuen Band werden, das die Mißverständnisse überbrückte?

In dem überreizten und zerrissenen Zustand, in dem Guhnott sich befand, schien ihm dieser Versuch einen Augenblick lang zwar gewagt, aber doch möglich.

Damm reichte er ihr mit froher Bewegung die Hand, indem er sagte:

»Du kommst wie gerufen ... Was führt dich her? ... Hoffentlich bist du doch nicht selbst Patientin?« fragte er in einer kurz vorüberhuschenden Besorgnis.

Dann rückte er ihr einen Stuhl zurecht.

»Sollen wir plaudern? Oder besser noch, wollen wir spazierengehen? Die Frühlingsluft ist so köstlich.«

»Ich denke, du hast deinen Spaziergang schon gemacht.«

»Mit dir gehe ich gern noch einmal.«

»Hast du denn überhaupt Zeit?«

»Ich werde telephonieren, daß ich später komme.«

»Aber du wirst doch sicher erwartet.«

»Natürlich. Wie jeden Nachmittag.«

»Es fragt sich nur, von wem.«

»Was heißt das? Was hast du überhaupt?«

Mit heftiger Bewegung machte seine Frau sich von ihm los und erwiderte:

»Was mußt du für ein schlechtes Gewissen haben, daß du es fertig bringst, zärtlich zu mir zu sein! Meinst du, ich wüßte nicht, was passiert ist? Ich weiß alles.«

Guhnott runzelte die Stirn, dachte einen Augenblick lang an seine phantastische Hoffnung und antwortete resigniert: »Also sag', was du weißt! Aber wenn du mich lieb hast, sag' es in Ruhe!«

Dabei ließ er sich auf seinem Schreibtischstuhl nieder. Während seine Hand ein Federmesser ergriff, blickte er seine Frau an, mit diesem scheinbar zerstreuten, in Wirklichkeit aber doppelhörigen Ausdruck, der Ärzten und Richtern eigen ist.

Er kannte seine Frau genügend, um zu wissen, daß sie das, was ihr Herz bedrängte, niemals auf geradem Wege herausbrachte. Gewöhnlich mußte er, nachdem er aus ihren Andeutungen erraten, worum es sich handelte, es ihr entreißen. Das waren dann unbedeutende Vorkommnisse, die sie maßlos und phantastisch übertrieb. Und meist ließ sie sich wie ein leicht bestimmbares Kind rasch beruhigen. Und ebenso heftig wie ihre Vorwürfe waren ihre Reue und ihre Liebesbeteuerungen.

Diesmal aber schleuderte sie ihm ihre Anklagen geradezu ins Gesicht. Und ihre Worte waren so ungeheuerlich, daß es ihm kaum gelang, sie ausreden zu lassen.

Sie hatte von seinen täglichen Spaziergängen mit Irmgard erfahren. Aber nicht das allein wollte sie wissen, sondern sprach von nächtlichen Zusammenkünften, behauptete als ausgemachte Tatsache, daß Irmgard seine Geliebte sei. Schon in Jena habe dies Verhältnis bestanden, und es sei der Grund, warum Viktor mit seiner Werbung so schnöde abgefallen sei.

Mit einer Ruhe, die etwas Unheimliches hatte in dieser Gestalt, in der eine ungeheure Spannung gewaltsam nach Entladung drängte, erwiderte Guhnott:

»Daß ich mit Irmgard oft, beinahe täglich, im Tiergarten spazierengegangen bin, ist richtig.«

»Also das gibst du zu!«

»Du erinnerst dich wohl, daß ich dich seinerzeit, nach Frau Raumers Tode, bat, du möchtest dich Irmgards annehmen. Du hast das davon abhängig gemacht, daß ich ihr zureden sollte, Viktor entgegenzukommen. Als ich das ablehnte, hast du dich schon damals so gehässig über sie geäußert ...«

»Längst noch nicht schlimm genug.«

»Also da du nicht wolltest, so mußte ich das tun, was nach meiner Überzeugung deine Pflicht gewesen wäre. Ich habe mich ihrer angenommen. Denn ich bin ja der einzige befreundete Mensch, den sie hier hat. Das andere aber« – die metallene Klinge bog sich unter seiner Hand bis zum Zerspringen, – »ja, klargestellt muß es werden, nicht um meinet-, sondern um Irmgards willen. Und es wird ja auch unschwer zu konstatieren sein, was Wahres daran ist. Wir brauchen nur in die Klinik zu fahren und die Oberin zu vernehmen, ob Fräulein Raumer jemals einen Abend die Klinik verlassen hat, außer in Begleitung einer anderen Schwester. Vorwärts! Und wenn es zu einer gerichtlichen Klage kommen sollte, es soll auch nicht ein Hauch von Verleumdung an Irmgard hängen bleiben. Komm!«

Er erhob sich und wiederholte, vor ihr stehen bleibend:

»Hast du nicht verstanden? So komm!«

Den Blick in wirrer Angst zu ihm erhebend, erwiderte sie:

»Also du behauptest, es wäre alles nicht wahr?«

»Ich behaupte nichts. Ich will Klarheit schaffen. Komm!«

Statt aller Antwort ergriff sie seine Hand und begann, darüber gebeugt, zu weinen, leise zuerst, stockend, dann aber immer stürmischer und in einem unaufhaltsamen Strom, gleichsam als wenn eine schwere Last sich zuerst langsam in Bewegung gesetzt hätte, bis sie schließlich pfeilschnell dahinglitt.

Tage-, vielleicht wochenlang hatte sie diesen furchtbaren Argwohn mit sich herumgetragen und ihre Seele damit vergiftet. Nun barst er bei dem ersten Anstoß, um über kurz oder lang von einem neuen ersetzt zu werden.

»Wer hat dir diese Verleumdung beigebracht?« fragte Guhnott. »Soll ich's dir sagen? Niemand anders als die Kinder. So weit ist es also gekommen, daß sie mich der schlimmsten Dinge beschuldigen können, und daß du ihnen glaubst. Warum habe ich in all den Jahren nie dein Vertrauen besessen? Dann wäre alles anders gekommen. Dann hätte ich auch die Kinder gewinnen können, wenn du mir nicht heimlich entgegengearbeitet hättest. So aber steht ihr drei gemeinsam gegen mich. Was hält uns beide noch zusammen?«

»Du willst mich verlassen? Geh nicht fort! Bleib! Bleib!«

Seine Hand mit ihren beiden umspannend, sprang sie auf und richtete aus ihrem tränenverquollenen Gesicht die Augen voll entsetzter Angst auf ihn.

»Ich will dich nicht verlassen. Die Lebensfrist, die uns noch beschieden ist, bleibe ich bei dir. Aber willst du nicht endlich an mich glauben? Daß ich kein Lügner bin, sondern ein ehrlicher Mensch.«

»Ich glaube dir ja,« flüsterte sie.

»Heute. Aber morgen?«

»Du warst mir so fremd all die Zeit.«

Er hob die Stirn mit betroffenem Ausdruck, blickte grübelnd vor sich hin und sagte endlich:

»Da hast du recht. Schuld habe ich auch. Denn wenn ich auch nie ein Wort zu Irmgard geäußert habe, was nicht ein Dritter hätte hören können, hier – meine Gedanken, meine Wünsche gingen andere Wege. Ich habe an ihr gelitten. Ich habe gegen sie gekämpft. Ich leide noch an ihr. Ich sag's dir offen. Du aber – hilf mir!«

Mit leicht geöffnetem Mund, in dieser äußersten Spannung, die den Atem stillstehen und den Herzschlag aussetzen läßt, hatte Frau Guhnott seinen Worten gelauscht. Immer tiefer verfärbte sich ihr Gesicht, ein Zug von Schmerz, zugleich ein Lächeln glitt darüber hin. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, ihr Kopf sank an seine Schulter, schwerer und schwerer lastete sie an seiner Brust, bis er merkte, daß eine Ohnmacht sie befallen hatte.

Er streckte sie vorsichtig auf dem Boden aus, öffnete ihr Kleid und bestrich ihr Gesicht mit Essig.

Als sie nach einigen Augenblicken wieder zu sich kam, schellte er dem Diener und trug sie mit dessen Hilfe in ihr Schlafzimmer. Sie fiel von neuem in eine noch tiefere Ohnmacht.

Die Jungfer und er entkleideten sie. Sie lag noch immer in halber Bewußtlosigkeit, öffnete nur manchmal mit tiefem Stöhnen die Augen, um sie gleich wieder zu schließen. Er behorchte ihr Herz, rieb ihren Leib, aber nachdem er zuerst nur seine Sorgfalt darauf gerichtet hatte, den unterbrochenen Blutstrom wieder in ihr Gehirn zu lenken, begann er nun eine eingehende Untersuchung, während die Blässe auf seinem eigenen Gesicht eine tiefe Bestürzung verriet.

»Hat die gnädige Frau in der letzten Zeit über etwas geklagt?« wandte er sich an die Jungfer, die ihm besorgt zusah.

»Die gnädige Frau hatte manchmal Blutungen. Sie kämen aus dem Magen, sagte sie.«

»Hat sie was dagegen getan?«

»Ich weiß nicht, ob ich es sagen darf. Aber ich habe die gnädige Frau schon gebeten, sie möchte doch den Herrn Geheimrat um Rat fragen. Sie wollte nicht. Sie sagte, das Wasser würde ihr schon helfen.«

»Welches Wasser?«

»Das da!«

Die Jungfer öffnete einen der eingelassenen Schränke in Frau Guhnotts Ankleidezimmer, in welchem sich mehrere große, mit auffallend bunten Zetteln beklebte Flaschen befanden.

»Das Wasser von dem Wunderdoktor in Kleinzwätzen hat die gnädige Frau immer genommen.«

Fast wäre die Flasche Guhnotts Hand entglitten.

»Wissen Sie, seit wann das geschehen ist?«

»Ach schon lange. Schon in Jena immer. Ich habe der gnädigen Frau gesagt, ich hätte zu so 'nem ungebildeten Menschen kein Vertrauen. Und wenn man noch dazu eine Autorität in nächster Nähe hat.«

»Marie, telephonieren Sie an Herrn Professor Henckel, er möchte, wenn irgend möglich, doch gleich mal herkommen!« Meine Frau wäre schwer erkrankt. Oder nein, ich werde lieber selber mit ihm sprechen.«

Als Guhnott zurückkehrte, schickte er die Jungfer hinaus. Seine Frau schlug die Augen auf und sah ihn mit matten Blicken an. Er wischte ihr behutsam den kalten Schweiß von der Stirn.

»Wie fühlst du dich?«

»Sehr matt.«

Er erwiderte nichts, sondern streichelte ihr nur die Hand und trocknete von Zeit zu Zeit ihre blasse Stirn. Alles, was ihn vor wenigen Minuten noch so erregt hatte, war nun erloschen. In seinem Herzen lebte nur die Angst um seine Frau.

Nach einiger Zeit verlangte sie zu trinken.

»Jetzt ist mir besser.«

»Berta, seit wann hast du die Schmerzen?«

»Schon lange. Über ein Jahr. Aber so heftig erst seit kurzem.«

»Erschrick nicht, wenn gleich Professor Henckel kommt. Ich habe ihn gebeten, dich zu untersuchen.«

»Ist es so schlimm? Muß ich sterben?«

»Nein! Nein! Es ist nur zu meiner Beruhigung.«

Er wollte stark bleiben. Aber plötzlich rannen ihm die Tränen an den Wangen herunter.

»Bin ich dir so fremd geworden, daß du nicht mal zu meiner ärztlichen Kunst Vertrauen hattest?«

»Verzeih mir!« flüsterte sie. »Ich fürchtete mich so vor der Operation.«

»Sie ist das einzige, was dich retten kann. Aber sie wird dich auch retten.«

In einer Wallung des Entsetzens fuhren ihre Arme in die Höhe, aber diese instinktive Bewegung wurde zur Geste des Vertrauens, während sie schluchzend die Hände nach ihm ausstreckte. Er beugte sich zu ihr hinunter und umschlang sie mit sanften Armen. Sein Mund drückte sich auf ihre Stirn. Während sie so aneinander geschmiegt verharrten, verwehte für einen Augenblick alles, was sie getrennt und gegeneinander erbittert hatte. Der ganze Berg von Schlacken, unter dem ihre Ehe mit der Zeit vergraben worden war, verglühte im Feuer dieses gemeinsamen Schmerzes. Wie ein Traum, der aus dem dunklen Bewußtsein ihres unwiederbringlich verlorenen Glücks in noch glänzenderen Farben aufleuchtete, umfing sie die Ahnung eines Zusammenlebens voll Vertrauen und Innigkeit, das sie einmal erhofft hatten.

Guhnotts Assistent, Professor Henckel, konnte dessen Befürchtungen nur bestätigen. Die beiden Ärzte bedurften kaum der Worte, um sich zu verständigen. Das Leiden war schon so weit vorgeschritten, daß eine Operation kaum noch Aussicht auf Erfolg bot. Doch war die Hoffnung vorhanden, die Schmerzen der Kranken zu lindern.

Auf Guhnotts Wunsch wurde die Operation noch am selben Abend durch Professor Henckel vorgenommen. Guhnott selbst erwartete den Ausgang in seinem Privatzimmer. Das Resultat entsprach seinen Befürchtungen. Henckel hatte den Sitz des Leidens bloßgelegt, um ihn sogleich wieder zu schließen, da jeder energische Eingriff den augenblicklichen Tod nach sich ziehen mußte.

Guhnott hatte für seine Frau zwei Zimmer in der Klinik herrichten lassen. Er selbst blieb die ganze Nacht und auch den folgenden Tag an ihrem Bett sitzen und ließ weder einen Wärter noch eine Schwester zu ihr.

Das Gesicht der Kranken war infolge der Operation stark abgemagert und hatte seine frühere Zierlichkeit wiedergefunden. Das andauernde Fieber gab ihren schmalen Wangen eine leise Röte und ihren Augen den täuschenden Glanz der Gesundheit. Niemand hätte ihr den hoffnungslosen Zustand angesehen, ebenso wenig wie sie ihn selbst zu empfinden schien. Sie war von einer stillen, friedlichen Heiterkeit, und man hätte glauben können, sie sei von ihrer baldigen Genesung überzeugt. Die Jungfer mußte auf den Anzug ihrer Herrin dieselbe Sorgfalt verwenden wie in gesunden Tagen und wurde sogar in die Villa geschickt, um einige spitzenbesetzte Morgenkleider und eine Perlenkette, ein Geschenk Guhnotts, zu holen.

Das Glück, ihren Mann um sich zu haben, schien die Kranke alle Schmerzen vergessen zu lassen. Auf ihrem schmalen Gesicht, das ein Lächeln des Geborgenseins umschwebte, lag wieder der kindlich zarte Ausdruck von einst. Nur als ihre Kinder sich melden ließen und Guhnott fragte, ob sie sie empfangen wollte, verrieten ihre Mienen die innere Angst.

»Ich will sie nicht sehen. Laß sie nicht herein!« flüsterte sie. »Auch später nicht. Unter keinen Umständen. Versprich mir's! Nur du sollst bei mir bleiben.«

Er streichelte ihre Hand.

»Fürchte dich nicht! Niemand soll dich beunruhigen. So lange du hier bist, weiche ich nicht von der Stelle.«

Als sie am Nachmittag eingeschlafen war, benutzte ihr Mann die Zeit, um die für ihn angekommenen Briefe und Telegramme zu durchfliegen. Ziemlich zuunterst fand er einen Brief von Irmgard, der schon zwei Tage alt war. Er erinnerte sich dunkel, ihn in der Hand gehabt zu haben, als seine Frau in die Klinik geschafft worden war. Er lautete:

 

»Lieber Onkel, verzeih, wenn ich Dir schreibe, was ich Dir vielleicht lieber mündlich sagen sollte. Aber ich weiß nicht, ob ich Dich morgen sehe, und ich habe das Gefühl, einem Menschen unrecht getan zu haben. Das läßt mir keine Ruhe.

Als ich gestern nachmittag im Garten war, kam Herr Tann auf mich zu, der, wie er sagte, sich hier als Arzt niedergelassen hat. Er hatte gehört, daß Mutter gestorben ist, und daß ich in Deiner Klinik bin. Er bat mich, mir erklären zu dürfen, warum er aus Oberhof so plötzlich abgereist ist und nichts wieder von sich hat hören lassen. Er sagte, das sei auf den ausdrücklichen dringenden Wunsch meiner Mutter geschehen, die ihm sein Ehrenwort abnahm, jede Verbindung mit mir abzubrechen. Darauf tat er eine Äußerung gegen Dich, die mich veranlaßte fortzugehen.

Du bist mir so oft in schweren Stunden beigestanden und weißt, daß ich Dir vertraue wie meinem Vater. Wir waren beide in furchtbarer Aufregung und wußten wohl nicht, was wir sagten. Alles kam so plötzlich, und überhaupt hat die ganze Begegnung nur ein paar Minuten gedauert. Wenn ich ihm nun unrecht getan habe? Daß Mutter nichts von ihm wissen wollte, hat sie selbst oft gesagt. Und sie konnte ja manchmal so sehr schroff sein. Gib mir, bitte, einen Rat, was ich tun soll! Spricht es nicht für ihn, daß er sofort, als er mein Hiersein erfuhr, gekommen ist, um sich zu rechtfertigen?

Wenn Du aber jetzt noch der Überzeugung bist, daß er damals aus schlechten Beweggründen gehandelt hat, dann will ich mich drein ergeben. Ich tue nichts gegen Deinen Willen. Aber wenn ich ihm nun unrecht getan habe? Verzeih den konfusen Brief! Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können und bin in großer Unruhe. Ich habe selbst schon manchmal gedacht, es könnte sich so verhalten, wie (hier war ein kurzes Wort ausgestrichen) Herr Dr. Tann sagte.

In treuer Dankbarkeit
Deine Irmgard.

 

Lange sah Guhnott auf den Brief, der nicht konfus war, sondern nur allzu klar. Er hatte einen Augenblick ganz die Gegenwart seiner Frau vergessen über der Empfindung, daß das, was in seinem Innern geglüht hatte, wie eine hohe, steile Flamme, die, indem sie ihn verzehrte, doch auch sein Leben strahlend hell machte ... daß das nun zusammensank, kleiner und kleiner wurde und gänzlich erlosch.

Keine wilden Schmerzen begleiteten diese Empfindung, nur etwas wie leise frierende Scham und ein zitterndes Beben ganz tief in seinem Innern. Und als er jetzt an seine Frau dachte, ergriff ihn unaufhaltsam und dunkel strömende Sehnsucht, an ihrer Stelle zu liegen, mit allem abgeschlossen zu haben und still den Tod zu erwarten.

Die Kranke hatte ihn beobachtet, ohne daß er es bemerkte. Als ihre Blicke sich nun begegneten, streckte sie die Hand aus und fragte:

»Was hast du?«

Er reichte ihr den Brief. Sie las ihn, nachdem sie zuerst die Unterschrift betrachtet hatte. Sie äußerte nichts, schien nur sehr matt von der Anstrengung des Lesens und lehnte sich auf die Seite, indem sie seine Hand in der ihren hielt. Dann nach einer Weile öffnete sie noch einmal die Augen und sah ihn lange an, mit einem Blick voll klarer Trauer.

Kurze Zeit danach schlief sie ein, und als sie aufwachte, sprach sie plötzlich von dem Zimmer, das sie vor langen Jahren in seinem Elternhaus bewohnt hatte. Damals als sie noch das fremde Vögelchen gewesen war, wie Guhnotts Vater sie genannt hatte.

Sie erinnerte ihn an Einzelheiten, die ihm selbst nicht mehr gegenwärtig waren, und sprach von ihrer Liebe, die wie eine stärkere Krankheit als die, welche sie ans Bett gefesselt hatte, über sie gekommen war. Sie wäre nicht wieder aufgestanden, wenn er ihr nicht schließlich gesagt hätte, daß er ihre Empfindungen erwidere.

In der Nacht nahm ihre Herzschwäche zu, und sie bat ihn, am nächsten Morgen den Notar holen zu lassen. Er suchte ihr dies Verlangen auszureden, da sie ja schon ihr Testament gemacht habe. Aber sie wurde so unruhig, daß er es für besser hielt, ihren Wunsch zu erfüllen.

Guhnott war nicht anwesend, während sich der Notar in ihrem Zimmer befand. Als dieser sich entfernt hatte, schien die Kranke völlig erschöpft, doch bald wurde sie wieder lebhafter und sprach noch einmal mit ihm von jener ersten Zeit ihrer Bekanntschaft.

Unmerklich wurden diese Erinnerungen zu Empfindungen der Gegenwart, so daß sie ihn bald mit seinem Vater verwechselte, bald Herr Doktor nannte, als wenn sie noch seine Patientin von damals wäre. Es war ihm ein herzzerreißender und auch wieder wundersam beglückender Eindruck, sie mit ihren weißen Haaren und ihrem verfallenen, schon vom Tod gezeichneten Gesicht in diesem liebenswürdigen, weichen, sehnsüchtigen und koketten Kinderton sprechen zu hören. Sie wurde immer erregter, und kaum vermochte er sie in ihrer ausgestreckten Lage zu halten. Nicht mit der schmerzlichen Gebärde des Abschieds, sondern als wenn jetzt erst ihr Leben begönne, streckte sie verlangend die Arme nach ihm aus, küßte und herzte ihn und dankte ihm fast mit denselben Worten wie einst für seine Liebe.

Gegen Morgen stellte sich eine heftige und nicht zu stillende Blutung ein, der sie, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, erlag.


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