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8.

Durch schattige Wälder, zwischen grünen Wiesen und Feldern in goldener Reife war Heinz gefahren, und alles hatte ihn an die bergumkränzte Stadt gemahnt, die er verließ, und an die Eine, die darin wohnte. Nun rückte düstergraues Gemäuer dicht ans Bahngeleise, weißer Dampf zischte auf, aus turmhohen Steinröhren quirlten schwarze Bäche, die sich zu einem trägen, breiten Strom vereinigten. Heimat!

Eben rollte der Zug in den kleinen Bahnhof ein, da sah Heinz auch schon zwei wohlbekannte Gestalten. Die Mutter und Karl.

Sein Herz tat fröhliche Schläge. Wie schön und stattlich seine Mutter noch immer aussah! Ihm fiel ein, daß eine Lehrersfrau sich einmal darüber aufgehalten hatte, sie zöge sich für ihren Stand zu elegant an. Das tat sie gewiß nicht. Aber was sie trug, das kleidete sie.

Er riß die Wagentür auf, winkte und rief: »Mama! Mama!« Sie war noch weit, aber bei seiner Stimme sah sie sich augenblicklich um. Karl rannte ihm entgegen, er an ihm vorbei in seiner Mutter Arme.

»Endlich! Mein Jung'! Ich hab' mich so nach dir gebangt. Bist du auch gesund? Aber ...« Sie ließ erschrocken von ihm ab. »Hast du dich duelliert?«

»Nur 'ne Mensur, Mutter. Darum habe ich auch so lange nicht geschrieben. Ich lag ein paar Tage in der Klinik.«

»Und wie blaß du bist!«

»Bei dir futtere ich mich schon wieder heraus.«

»Au fein! Au, Heinz, das mußt du mir aber erzählen!« Der rotwangige, dicke Karl tanzte vor Vergnügen auf seinen kurzen Beinen.

»Tiptop sitzen die Schmisse. Hast du auf dem Kopf auch welche? Wer war denn Sieger? Du doch natürlich! Hast du den andern gehörig abgestochen? Erzähl' doch mal!«

»Später! Später! Erst will ich hören, wie's euch geht.«

Während die Mutter, die sich langsam beruhigt hatte, berichtete, trug Karl den gar nicht leichten Koffer mit einer Nachlässigkeit, als sei er ein Täschchen. In der andern Hand schwenkte er ein zierliches Spazierstöckchen, wodurch er das Gleichgewicht herstellte. Aber bald bemächtigte er sich des Gesprächs und vertraute seinem Bruder an, daß er seit acht Tagen Gehilfe war. Das Geschäft machte ihm mächtigen Spaß. Und er hatte auch sehr schöne Erfolge. Eine Menge gerade der feineren Damen wollten nur von ihm bedient sein. Bloß seine Kleinheit! Seine verwünschte Kleinheit!

»Ach, Heinz,« seufzte er, »wie ich dich um deine Gebrüder Benekens beneide!«

»Dummer Junge,« tröstete die Mutter, »du hast doch gerade ein schönes Mittelmaß.«

»Ne, Mutter, ne, ich habe ja kaum das Militärmaß. Und 'ne gewisse Länge braucht man im Geschäft. Sonst kann man sich nicht galant über die Ladentheke beugen. Au, Heinz, wenn ich deine Größe hätte, was könnte ich da für eine Karriere machen.«

Nun stand Heinz vor dem großen, roten Steinkasten, von dem einen winzigen Teil seine Eltern innehatten. Aber ehe er eintrat, begab er sich über den Hof in die Turnhalle, wo sein Vater an diesem Sonnabend nachmittag das Großreinemachen beaufsichtigte. Er stand in Wolken von Staub, während er mit seiner rauhen Kommandostimme einige Scheuerfrauen aufforderte, gefälligst die Ecken sauber auszuwischen.

»Papa!«

Die Scheuerfrauen blickten auf, der Alte machte wie auf Kommando linksum kehrt und kam, auf seinem ganzen runden Gesicht wie ein Jägermond durch Nebeldünste strahlend, auf seinen Sohn zu. Doch einige Schritte vor ihm stutzte er, riß erschrocken den Mund auf, bis ein pfiffiges Lächeln des Verständnisses seine Lippen verzog.

»Dunnerstag und Freitag, Junge, kommst du aus dem Krieg? Wo hast du dir denn das geholt?«

»Ich hatte 'ne Mensur, Papa.«

»Sieh einer an! Und wir dachten, du hast dich ganz in deine Bücher verbiestert, daß du nicht schriebst. Na, hast du dich wenigstens brav gehalten?«

»Ich denke doch. Wenigstens waren die andern mit mir zufrieden.«

Nun erst erfolgte die feierliche Begrüßung mit einem Kuß, zu dem Heinz sich auf den stachligen Schnurrbart herunterbeugen mußte.

»Mutter sagt, wir möchten doch gleich zum Kaffee kommen.«

Der Pedell sah nach der Uhr.

»Es fehlen zwar noch ein paar Minuten. Aber die schenke ich euch.«

Er klatschte in die Hände. »Kaffeepause! Guck nur, wie sie die Besen fallen lassen, wie heißes Eisen. Nun komm!«

Bald saßen alle vier um den runden Kaffeetisch herum. Und während Heinz die von mancher Pfeife Tabak gebräunten Wände ansah und die eigentümliche, nur diesem Raum anhaftende Luft einsog und die ihm vertrauten Gesichter seiner Eltern betrachtete, deren Unruhe unter ihrem fröhlichen Ausdruck er nicht bemerkte, da umfing ihn ein warmes, helles Behagen.

Alles war noch wie früher. Am Fenster rollte hinter den leuchtenden Geraniumstauden der Kanarienvogel seine silbernen Triller. Überm Sofa kreuzten sich die beiden Pallasche, umdrängt von den Regimentsbildern. Und an der andern Wand hingen die drei Paten seines Vaters: Blücher, Schiller und Scharnhorst, die alle, wie er, sich den zehnten November zum Antritt ihrer Lebensreise ausgesucht hatten.

Zur Feier seiner Ankunft hatte die Mutter frischen Platz gebacken, der in stattlicher Höhe neben dem Schwarzbrotberg auf einem Holzteller lag.

Heinz ließ es sich tüchtig schmecken. Die Sorge wegen der großen Frage seines Berufswechsels, welche die ganze Zeit sein Herz ein wenig beklemmt hatte, war völlig von ihm gewichen. Er gab sich ganz dem Augenblick hin.

Sein Vater hatte sich den heißen Kaffee in seine Untertasse gegossen und schlürfte ihn in hörbaren Zügen, während er die Butterbrotwürfel in den Mund schob. Sein Gesicht, das vom Waschen noch röter geworden war, glänzte von Glück und Stolz.

»Er hat sich's von einem Kollegen bescheinigen lassen, daß er studiert. Was, Mutter? Mit roter Tinte. Nun sieht sein Gesicht aus wie 'n Schulheft. Aber jetzt mal heraus mit der Beichte!«

Heinz gab, durch die kriegerischen Äußerungen seines kleinen Bruders wiederholt unterbrochen, einen Bericht von der Mensur. Als er dann aber erzählte, wie er fiebernd in seiner Stube gelegen hatte und von Geheimrat Guhnott besucht und in dessen Privatklinik geschafft worden war, unterbrach ihn sein Vater:

»Beschreib mir den Mann doch mal 'n bißchen näher.«

Dabei warf er einen Blick auf seine Frau, die ihre Blässe unter einem tapferen Lächeln verbarg.

»Er ist groß, ziemlich stark, hat einen braunen Vollbart.«

»Das kann er nicht sein,« murmelte Frau Tann.

»Und prachtvolle blaue Augen.«

»So! Blaue Augen! Hat er immer in Jena gelebt?«

»Nicht immer. Früher war er in Würzburg Außerordentlicher. Und davor war er, ich weiß nicht mehr wo, Landarzt.«

»Das ist bestimmt ein anderer.«

»Geboren ist er in Solingen.«

Frau Tann ließ den Kopf sinken.

»Und der hat sich deiner angenommen?«

»Ja, mit einer Herzlichkeit und Fürsorge, als wenn ich sein Sohn wäre.«

»Als wenn du ... Verdammte Fliege!« Der Pedell klatschte sich wuchtig auf seinen kahlen Schädel. »Sieh mal einer an!«

»Aber kennt ihr ihn denn?« fragte Heinz verwundert.

»Nein, nein!« erwiderte seine Mutter rasch. »Wir kannten mal einen Arzt gleichen Namens, aber der ging übers Meer. Nach Asien oder irgendwohin. Erzähl' nur weiter, mein Jung'!«

In seiner Begeisterung, von dem, den er wie einen zweiten Vater liebte, sprechen zu können, bemerkte Heinz nicht die Aufregung seiner Eltern, seiner Mutter Angst und den dunklen Zorn seines Vaters, der immer raschere Dampfwolken ausstieß. Als er nun aber unbedachtsam mit seinem Plan hervorkam, daß er umsatteln und Medizin studieren wollte, nahm des Alten Gesicht einen verwirrt aufhorchenden Ausdruck an. Seine buschigen Brauen krochen höher und höher. Es sah aus, als wenn an seiner Stirn ein Vorhang aufgerollt würde. Plötzlich ließ er die Hand schwer auf den Tisch fallen.

»Was sagt der Jung'? Arzt will er werden? Ich denke doch, er studiert Philologie?«

Heinz wiederholte die Gründe, die ihn zu der Berufswahl bewogen hatten. Aber sein Vater unterbrach ihn:

»Wer hat dir denn die Flausen in den Kopf gesetzt? Auch wohl der ... der Professor Guhnott?«

»Wenigstens hat er mich darin bestärkt.«

»Sieh mal an, Mutter, der Guhnott hat unsern Jungen bestärkt, was anderes zu werden, als was sein Vater will. Was sagst du dazu, Mutter?«

»Ich weiß nicht. Ich ... das kann man doch nicht so rasch entscheiden.«

»Aber ich kann's,« donnerte der Alte. »Auf der Stelle! Arzt willst du werden, Jung'? Das läßt du hübsch bleiben. Verstanden! Ich kenne doch die Herren Ärzte. Da drüben wohnt ja einer. Der tut den ganzen Tag nichts als aus dem Fenster gucken, ob nicht ein Patient kommt. Bleib du bei deinem Leisten! Dann brauchst du auch keinen Herrn Guhnott. Sag' ihm nur, mein Vater will's einfach nicht.«

»Aber Papa, was hast du nur gegen Professor Guhnott?«

»Was ich gegen ihn habe? Weiter nichts, als daß so ein hergelaufener Kerl nicht zu tun braucht, als ob du sein Sohn wärst. Der hätte lieber ...«

»Vater!«

»Recht hast du, Mutter! Ich bin ein alter Esel. Klopf' mir die Pfeife aus, Karl! Es ist Zeit für die Arbeit.«

Der Pedell erhob sich und hieb sich die Mütze auf den kahlen Kopf. Aber schon im Gehen begriffen, wandte er sich noch einmal nach seiner Frau um:

»Ach, Mutter, nun ist es doch so gekommen, wie ich gesagt habe.«

Und sein Blick war so bekümmert, seine Brust hob sich so qualvoll, daß man merkte, ein ganz schweres Leid hatte ihn getroffen.

Karl mußte ebenfalls ins Geschäft zurück.

Sobald Heinz mit seiner Mutter allein war, fragte er:

»Was hat Papa denn nur?«

»Nichts, Jung'. Nichts.«

»Aber auf Guhnott war er ja geradezu geladen.«

»Er ist so stolz und eifersüchtig auf dich, Jung'! Da hat's ihm wohl weh getan, daß ein anderer dich so liebhaben sollte wie seinen Sohn.«

»Ich meinte das doch nicht so.«

»Ich weiß ja, wie du's meintest. Und warum mußtest du ihm auch gleich sagen, daß du nicht Lehrer werden willst? Es ist doch mal sein Traum.«

Heinz drückte seine Mutter in den ledernen Lehnstuhl nieder, den eben der Vater innegehabt hatte. Und seinen Arm um ihre Schulter schlingend, setzte er ihr auseinander, wie die Überzeugung, daß die Medizin sein eigentliches Feld sei, lange still in ihm fortgewirkt, eines Tages aber machtvoll ihn überwältigt hatte.

»Ich hab' mir's ja gedacht, daß es Kämpfe geben wird. Aber auch, daß du mir beistehen wirst. Und darum war mir nicht bange. Nicht, Mutter, du hast Vertrauen zu mir?«

»Ja, Jung'. Und ich will dir helfen, so gut ich kann.«

Auf der Lehne sitzend, schmiegte er sich dicht an sie und streichelte leise liebkosend ihren vollen Oberarm, wie er als Kind so gern getan hatte.

»Nun erzähl' noch mal, Heinz, von ...«

»Von wem?«

»Vom ... Professor Guhnott.«

Heinz sprang auf.

»Das ist ein Mann! Wenn man ihn kennt, so kann man nur wünschen: Dem möchtest du gleichen. Ein Mann so recht aus dem Vollen der Natur. Voll Kraft und voll Güte. Ach, Mutter, das Herz geht mir über, wenn ich von ihm spreche. Hier im engen Zimmer kann ich's nicht. Gehen wir in den Wald! Ich hab' dir überhaupt so viel zu erzählen, Mutter! So viel!«

Eine halbe Stunde später saßen die beiden auf ihrer Lieblingsbank. Unter ihnen lag in schwerem Dunst, in grollendem Lärm die Stadt, der sie den Rücken kehrten. Ihnen zu Füßen aber senkten und hoben sich Waldwände in sanftem, großlinigem Schwung gleich Wellen eines unermeßlichen grünen Meers. Weit wurden hier die Herzen und beschwingt die Gedanken.

Heinz erzählte. Mit der ganzen Lust des jungen übervollen Herzens erzählte er, mit dem hingerissenen Eifer, der dasselbe drei-, viermal wiederholen kann, ohne es zu merken: von Guhnott, von Irmgard, von der Zukunft, wie er sie sich träumte.

Seine Mutter hörte zu, beglückt und voller Bangigkeit. Wieviel mochte reifen von allen diesen Hoffnungen? Und was würde die nächste Zukunft bringen? Würde nicht das Glück ihres Jungen gleichbedeutend sein mit Leid und Schmerz für ihren Mann?

Aber zugleich schwangen sich aus dem aufgeregten Innern auch ihre Gedanken in die Ferne. Verblaßte Bilder leuchteten auf, und Jugendstimmen tönten dunkelhell, nicht traurig, nicht froh, aber wundersam ans Herz greifend wie das ferne Geläut, das jetzt aus vielen Glocken im Tal verkündete, daß der Feierabendfriede der zur Neige gehenden Woche angebrochen sei.

Da liegt im Bett ein altes Mütterchen, wimmernd vor Schmerzen. Der Doktor ist am Abend dagewesen, hat etwas verschrieben, was aber nichts half. Und am Kopfende sitzt ein junges blondes Ding, mit gefalteten Händen, und betet in ihrer Herzensangst, der liebe Gott möchte einen Helfer senden. Als eben der Morgen graut, öffnet sich die Tür. Es ist aber nicht der liebe Gott, sondern ein schnauzbärtiger Ulanenwachtmeister, der eintritt, ein guter Freund der Mutter und der Bräutigam der Blonden. Wenigstens nennt er sie seine kleine Braut. Sie lacht dazu, so daß die Mutter manchmal brummt, sie solle nicht so dumm sein, und von ehrlichen Absichten und Zivilversorgung spricht.

Jetzt freilich steht er nur still bekümmert am Bett, schüttelt den Kopf, betrachtet die Medizin und schüttelt wieder den Kopf. Dann aber reißt er die Stirn hoch, läßt die runden Augen hervorquellen und sagt: »Dunnerschock, jetzt hab' ich's!«

Und bald darauf kommt er mit einem jungen Mann in der Uniform des Einjährigen-Arztes wieder.

Viele Jahre sind seitdem verflossen, in das Blondhaar des jungen Dings haben sich weiße Fäden gemischt, aber die Erinnerungen wecken den süßen Schauer wieder, den es damals gespürt.

Die Verzweifelte hat wirklich das Gefühl: in der Tür steht der Helfer, den der liebe Gott geschickt hat. Dann muß sie fortrennen in die Apotheke.

Während sie mit klopfendem Herzen an der Tür lauscht, vollzieht sich drinnen ein rasches, lautloses Ringen mit dem Tode.

Später hört sie, die Operation sei sehr schwierig gewesen, der junge Arzt hätte nicht eine Stunde später kommen dürfen.

Sie hat das Glück, ihn in den nächsten Tagen wiederzusehen. Zuerst ist er ernst und zurückhaltend, dann aber lächelt er freundlich, wenn sie mit strahlend verzückten Augen ihn anstarrt und ihm die eiskalte Hand reicht.

Das alte Leben der Mutter genest, das junge der Tochter leidet an tiefer Liebeswunde. Wenn der Wachtmeister sie jetzt »kleine Braut« nennt, zuckt sie zusammen, und Tränen schießen ihr in die Augen.

Jeden Abend bittet sie den lieben Gott, ihr eine Krankheit und mit dieser den jungen Doktor wieder zu schicken. Da sie aber gesund bleibt, so erforscht sie seine Wohnung. Nun begegnen sie sich jeden Tag. Wenn sie auch noch so glühte, vor seinem Gruß verfärbt sie sich zur weißen Lilie.

Dann kommt das Vogelschießen. Sie hat ihn im Tanzsaal entdeckt. Er ist in Zivil, aber wie es scheint, will er nicht tanzen. Wenn jemand sie auffordert, schüttelt sie nur stumm den Kopf und starrt mit einer Versunkenheit, die den Spott der Freundin herausfordert, nur dem einen nach. Da, als sie vor Zentnerschwere fast in sich zerbrochen ist, steht er mit einemmal vor ihr. Wie eine Blütenflocke schwebt sie in seinen Armen. Erhitzt vom Tanzen treten sie ins Freie. In dem Drängen, mit ihm allein zu sein, entführt sie ihn weiter und weiter. Kaum klingt noch das Dröhnen des Brummbasses und das Kreischen der Flöte an ihr Ohr.

Sein Lächeln erstirbt, als er durch ihr blondes Haar streicht. Dann spricht er ernste, gütige Worte. Sie ist doch kein leichtfertiges Mädel und er kein schlechter Kerl. Sie müssen gescheit sein. Er wird sie jetzt nach Haus bringen, und sie werden als gute Freunde voneinander scheiden.

Aber wie er sich von der Bank erhebt, hält sie ihn stumm fest. Ihr Kopf sinkt an seine Brust, ihre Arme umklammern seinen Hals, ihre Lippen drängen zu seinem Mund. Alle ihre Bewegungen haben das Unwillkürliche und Zwingende einer Träumenden, und ein Traumwunder erblüht auch ihm in seinem kahlen Leben.

Dann ein Tag viele Wochen später. Er ist fort. Sie hat den Abschied mutig überstanden, und wenn er früher ernst und sorgend von Zukunftsplänen gesprochen hat, so hat sie ihm den Mund zugehalten. Still! Es gibt keine gemeinsame Zukunft für sie beide. Nur lieb soll er sie haben, solange er da ist ...

Jetzt aber hat sie nach langem Schweigen einen Brief von ihm bekommen. Aus fremdem Land. Denn er fährt zu Schiff. Einen langen, guten und lieben Brief. Aber sie bangt sich trotzdem halb zu Tode. Gerade jetzt! Was mehrere Tage Angst war, die ein verzweifeltes Hoffen beschwichtigte, das wird schließlich zur Gewißheit.

Und eines Morgens stiehlt sie sich in aller Frühe aus ihrer Kammer.

Aber wie sie durch die noch schlafenden Gassen schleicht, steht an seinem Gartenzaun schon der schnauzbärtige Wachtmeister. Noch nie hat er je früher seine Stirn so hochgezogen wie jetzt bei ihrem Anblick. Es ist geradezu, als wenn sich seine alte Soldatenmütze mit erhöbe, und sein Mund bleibt offen stehen.

Sie will mit kurzem Gruß an ihm vorüber, aber schon hat er sie gestellt und nimmt sie mit sich in den Garten. Sie verkriecht sich in Angst und Trotz. Kein Wort soll ihr entschlüpfen. Aber er fragt sie gar nicht. Er sagt ihr alles auf den Kopf zu. Als er aber den jungen Doktor einen Hundsfott nennt, bricht sie los, und die verklagte Unschuld kann sich nicht hinreißender verteidigen, als sie ihren Geliebten in Schutz nimmt.

Aber was denn nun aus ihr werden soll? fragt bekümmert der Wachtmeister. Sie wird sich schon allein durchs Leben bringen. Sie hat ja bis jetzt das Nötige selbst verdient.

Er schweigt. In der Ferne pfeift ein Zug. Sie fährt zusammen. Der Wachtmeister starrt einen jungen Apfelbaum an, den er, ehe sie kam, von seinem Pfahl losgebunden hat, und der sich jetzt beängstigend unter den Windstößen biegt.

»Entschuldige,« sagt er. »So 'n kleines Bäumchen bricht kaputt, ehe man sich's versieht,« ... und bindet es mit einem frischen Hanfseil fest.

»Ja, Dunnerschock und schwere Not!« Dabei reißt er sich die Mütze fest in die Stirn und sieht ganz aus wie ein finsterer, bärbeißiger Vorgesetzter. Aber gleich darauf nimmt er sie wieder ab. Und was er ihr dann sagt, ist so voll schmerzlicher Liebe und Güte, daß der trügerische Halt, den das junge Ding, aus Trotz und Angst sich zurechtgemacht hat, wie ein morscher Stab zerbricht. Sie willigt ein, nach Haus zurückzukehren, und denselben Abend noch kommt der Wachtmeister und macht bei ihrer Mutter in aller Form einen Heiratsantrag.

Noch einmal trifft bald nach der Hochzeit ein Brief ein, der die Vergangenheit wieder aufrührt. Sie gibt ihn ihrem Mann und bittet, er möge ihn beantworten. Er tut's mit der bündigen Mitteilung, daß die Adressatin seine Frau geworden sei. Es liegt wohl nur an dem unwillkürlichen Zittern seiner Hand, daß die Unterschrift so undeutlich ausgefallen ist. Auch hat er den Wohnort gewechselt und ist nicht mehr Wachtmeister, sondern Schulpedell.

Seitdem hatte Frau Tann nichts mehr von ihrem Jugendgeliebten gehört. Sie konnte ihn nicht vergessen. Aber was von ihrer Liebe übriggeblieben war, übertrug sie auf das Kind, in dem sie die Züge seines Vaters wiederzuerkennen glaubte. Ihr Mann hielt treu sein Versprechen, das er ihr damals gegeben. Nie erinnerte ein unzartes Wort sie an die Vergangenheit. Und ihrem Kind wurde er der fürsorglichste Vater. Ja, als später der kleine Karl auf der Bildfläche erschien, wollte es der Mutter manchmal scheinen, als zöge er den älteren auf Kosten des jüngeren Bruders vor. Doch hatte er sie beide gleich lieb. Nur verkehrte er mit dem Kleinen mehr wie mit seinesgleichen, während er in Heinz zugleich das ihm anvertraute fremde Gut ehrte.

Als Mutter und Sohn nach Haus kamen, brannten schon die Laternen. Das Abendessen litt unter des Pedells düsterer Stimmung.

Sonst pflegte er gern noch ein billiges Grammophon aufzudrehen, und wenn dann aus dem grell gemalten Schalltrichter flotte Militärmärsche hervorwirbelten, schmauchte er seelenvergnügt seine lange Pfeife.

Heute abend steckte er sich diese nicht einmal an, sondern ging unter dem Vorwand, müde zu sein, bald ins Schlafzimmer. Aber seine Frau hörte noch bis tief in die Nacht hinein, wie er sich schlaflos hin und her wälzte.


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