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Novellen / Legenden und Schwänke aus Herodot und anderen Historikern

Eingesehen wurden die Übersetzungen von Bähr, Ad. Schöll und (nachträglich noch) Lange-Güthling.

 

1. Gyges und Kandaules

Kandaules, der König von Lydien, war so sehr in seine Frau verliebt, daß er überzeugt war, die schönste aller Frauen zu besitzen. Nun hatte er unter seinen Kriegsknechten einen namens Gyges, des Daskylos Sohn, der ihm besonders gefiel. Und wie Kandaules auch sonst sich über wichtigere Dinge mit Gyges zu besprechen pflegte, so pries er gegen ihn auch öfter seines Weibes Schönheit über die Maßen. Und es dauerte nicht lange (denn es sollte nun einmal dem Kandaules übel ergehen), da sprach er also zu Gyges: »Mein Gyges, wenn ich immer von der Schönheit meines Weibes rede, so willst du, dünkt mich, es mir nicht glauben, sind doch die Ohren der Menschen ungläubiger denn die Augen; drum mache, daß du sie einmal nackt schauest.« Da schrie jener laut auf und sagte: »O Herr, bist du recht bei Sinnen, daß du solch ein Wort aussprichst und verlangst, ich solle meine Herrin nackt schauen? In dem Augenblicke, wo ein Weib das Kleid auszieht, ziehet es auch die Scham aus. Was aber sich ziemet, das haben die Menschen schon längst herausgefunden, und daraus soll man lernen. Darunter ist auch ein Wort, das lautet: ein jeglicher kümmere sich um das Seinige. Was nun mich anlangt, so will ich es gerne glauben, daß jene die schönste aller Frauen ist, und dich bitte ich, nichts wider Brauch und Ordnung zu verlangen.« Mit solchen Reden wehrte Gyges das Ansinnen des Königs ab, denn er fürchtete, es möchte ihm Unglück daraus erwachsen. Doch der König erwiderte: »Sei getrost, Gyges, du brauchst nicht zu befürchten, daß ich so spreche, nur um dich auf die Probe zu stellen, noch auch, daß dir von Seiten meines Weibes irgendein Schaden erwachsen könne. Denn ich werde es von vornherein so einrichten, daß sie überhaupt nichts davon erfahren kann, daß du sie gesehen. Ich werde dich in unserem Schlafgemach hinter den Flügel der geöffneten Tür treten lassen; dann werde erst ich hereinkommen, darauf wird auch meine Frau sich einfinden, um sich zur Ruhe zu begeben. Nun steht in der Nähe der Tür ein Sessel, auf den wird sie beim Entkleiden ihre Gewänder eines nach dem anderen ablegen, und wird dir so Gelegenheit geben, sie in aller Ruhe zu beschauen. Und wenn sie dann von dem Sessel zu ihrem Bette geht und dir den Rücken zuwendet, dann ist der Augenblick da, wo du suchen mußt, ungesehen durch die Tür zu entkommen.« Da sah nun Gyges, daß er nicht ablehnen konnte, und er erklärte sich schließlich bereit.

Als nun die Stunde des Schlafengehens da war, führte Kandaules den Freund in das Gemach, und gleich darauf trat auch die Frau ein. Und Gyges schaute bewundernd zu, wie sie dann ihre Kleider ablegte. Als sie hierauf zu ihrem Lager ging und ihm den Rücken zudrehte, schlüpfte er hinter der Tür hervor und entwich ins Freie. Doch die Frau hatte ihn beim Hinausgehen erblickt und durchschaute, was ihr Mann ihr da angetan hatte. Aber so sehr sie sich schämte, so schrie sie doch nicht auf und wahrte den Schein, als hätte sie nichts gemerkt; im Herzen aber nahm sie sich vor, sich an Kandaules zu rächen. Denn bei den Lydern und bei den anderen Barbaren fast durchweg gilt es sogar für eine große Schande, wenn ein Mann nackt erblickt wird. Doch für den Augenblick ließ sie, wie gesagt, sich nichts anmerken und hielt sich ruhig.

Aber gleich nach Tagesanbruch rief sie einige aus der Zahl ihrer Diener, die sie als die treuesten kannte, und nachdem sie sich ihres Beistandes versichert, ließ sie den Gyges rufen. Der war der Meinung, die Königin wisse nichts von dem, was geschehen, und kam, als man ihn holte; denn er pflegte auch vorher, so oft die Königin ihn zu sich berief, zu kommen. Als nun Gyges eingetreten war, sprach die Frau so zu ihm: »Jetzt, o Gyges, gebe ich dir die Wahl zwischen zwei Wegen, du magst dann einschlagen, welchen du willst. Entweder du tötest den Kandaules und bekommst mich und die Krone von Lydien, oder du selbst mußt auf der Stelle, wie du bist, sterben, auf daß du fürderhin nicht mehr dem Kandaules in allem zu Willen seist und erblickest, was du nicht sehen darfst. Drum muß entweder jener, der solches ersonnen hat, umkommen, oder du, der mich nackt geschaut und Ungebührliches getan hat.«

Erst war Gyges betroffen über diese Rede, dann aber flehte er sie an, sie möge ihn nicht in die Zwangslage verstricken, eine solche Wahl zu entscheiden. Doch sie ließ sich nicht erweichen. Da er denn erkannte, daß wirklich die Notwendigkeit vor ihm lag, entweder seinen Herrn umzubringen oder selbst von anderen umgebracht zu werden, so zog er es vor, selber das Leben zu behalten, und richtete die Frage an die Königin: »Sintemal du mich zwingst, meinen Herrn zu töten wider meinen Willen, so laß mich auch hören, auf welche Weise wir Hand an ihn legen wollen?« Da nahm sie das Wort und sprach: »Von derselben Stelle soll der Angriff ausgehen, von wo jener mich hat nackend sehen lassen, und wenn er im Schlafe liegt, soll man Hand an ihn legen.«

So war der Anschlag gemacht; und mit Einbruch der Nacht ging Gyges (denn man entließ ihn keinen Augenblick, und es gab für ihn keinen Ausweg, sondern entweder mußte er selbst verloren sein oder Kandaules) mit der Frau in das Gemach, dort händigte sie ihm einen Dolch ein und verbarg ihn hinter derselben Türe. Und als dann Kandaules ruhete, schlüpfte Gyges hinter der Tür hervor und tötete den König. So erhielt Gyges die Frau und das Königreich, und ward als König bestätigt vom Orakel in Delphi.

 

2. Wie Gyges König wurde

(Andere Überlieferung; bei Platon)

Gyges war ein Hirte im Dienste des damaligen Beherrschers von Lydien. Eines Tages entstand ein heftiges Gewitter, die Erde bebte und tat sich auf, und an der Stelle, wo Gyges seine Tiere zu weiden pflegte, gähnte ihm ein Erdschlund entgegen. Voll Verwunderung hatte er alles mit angesehen, dann stieg er hinab und erblickte nach der Sage dort unten neben vielen anderen Wunderdingen ein ehernes Pferd, das war innen hohl und hatte Fenster. Als er durch eines derselben seinen Kopf hineingesteckt hatte, sah er drinnen einen offenbar toten Mann von übermenschlicher Größe liegen; der hatte nichts an sich als nur an der Hand einen goldenen Ring, den zog ihm Gyges ab und stieg wieder empor.

Wie nun die Hirten sich zur gewohnten Zusammenkunft einfanden, wo sie dem Könige den monatlichen Bericht über den Stand der Herden erstatten mußten, kam dazu auch Gyges, den Ring am Finger. Während er nun im Kreise der Genossen saß, drehte er zufällig den Ring so, daß der Stein an die Innenseite der Hand kam. Kaum aber war dies geschehen, so wurde er für seine Nachbarn unsichtbar, sie sprachen von ihm, als wäre er weggegangen. Wie groß war sein Erstaunen! Darauf fühlte er wiederum nach dem Ring und drehte den Stein nach außen: sofort wurde er wieder sichtbar. Er machte alsdann die Probe noch öfter, ob der Ring wirklich diese Kraft habe, und immer gelang's ihm, sich durch die Drehung des Steines nach innen unsichtbar, durch die nach außen sichtbar zu machen.

Nach dieser Entdeckung brachte er es in Bälde dahin, daß er unter die Zahl der Boten aufgenommen wurde, die beim Könige Zutritt hatten; und als er erst so weit war, verleitete er das Weib des Königs zum Ehebruch, überfiel dann mit ihr zusammen den König, tötete ihn und machte sich selber zum Herrscher.


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