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Einleitung

Märchen, Fabeln und Schwänke wird man bei dem phantasiereichen Griechenvolk von frühester Zeit an vorauszusetzen geneigt sein. Sucht man aber in dem umfangreichen Schrifttum der Griechen nach volkstümlichen Erzählungen aller Art, so wird man zunächst enttäuscht. Die griechische hohe Literatur mit ihrem Hange zur scharfen Scheidung festgeprägter Gattungen hat diese anspruchslosen Erzählungen als selbständige Gebilde lange Zeit nicht gekannt.

Existiert haben Märchen und Legenden, Fabeln und Schwänke natürlich trotzdem. Ihr Reich waren ganz wie anderswo die Kinderstube und die Kreise des niederen Volkes. Wenn in den »Wespen« des Aristophanes der elegante junge Herr den schlichten Vater mit in den Klub nehmen soll, so fragt er ihn, ob er denn auch zur Unterhaltung der Gesellschaft beitragen könne. Sofort beginnt der Alte zum Entsetzen des Jungen:

»… Es war einmal ein Mäuschen und ein Wieselchen …« Und noch Phädrus spricht davon, daß man den Kampf der Mäuse und der Wiesel an den Wänden der Kneipen gemalt sehen könne.

Aus dieser Unterschicht ist dann vieles in volkstümliche Gattungen der Literatur eingedrungen, namentlich in die Komödie. Ebenso sind im Sprichwort eine Menge Anspielungen auf im Volke umlaufende Märchen und Schwänke nachgewiesen worden.

So erinnert an überall bekannte Fabeleien vom Schlaraffenland und Märchen von wandelndem und redendem Hausgerät ein Bruchstück aus der Komödie des Krates (5. Jahrhundert) »Die Tiere«, in der, wie schon der Titel beweist, ganz wie im Märchen die Tiere eine Hauptrolle spielten. Dort heißt es: »Mein Freund, du darfst nur rufen, so folgt dir jedes Hausgerät. Zum Beispiel: ›Tischlein, deck dich! Fix, Kessel, mach die Suppe warm, derweil der Brotsack knetet! Schenk ein, mein Kännchen! Halt, wo bleibt das Glas? Das Glas soll kommen und rein sich spülen unterwegs! Heraufspaziert, ihr Semmeln! Topf, schütte deine Blätter aus! He, Karpfen, sollst dich sputen!‹ ›So wartet doch! Bin noch nicht gar auf meiner rechten Seite!‹ ›So streu 'ne Handvoll Kümmel drauf und dreh dich rum, du Faulpelz!‹« (Übersetzung von Zielinski)

Ähnliche phantastische Stücke sind bei den Komikern so häufig, daß man von einer eigenen Gattung der » Märchenkomödie« gesprochen hat, die ja auch in anderen Literaturen, in Zauberpossen, Feenstücken und ähnlichem ihre Parallele findet.

Um von dem Weiterleben der Märchen im Sprichwort eine Anschauung zu geben, zitieren wir die meisterhafte Darstellung, die Crusius von dem beliebten Märchenmotiv der » verkehrten Welt« gegeben hat, indem er jeden einzelnen Zug mit griechischen oder lateinischen Sprichwörtern belegt. »Wer in die verkehrte Welt will, nimmt sich einen Hasen oder ein Hirschkalb als Reittier. Schließlich schlüpft er durch ein Tor, so eng wie ein Nadelöhr oder ein Fingerring. Da sieht er wunderliche Dinge. Übers Meer kommen Staubwolken. Dazu ist das Meer süß und mündet in einen Fluß. Die Ströme fließen bergauf; die Berge kreißen und bringen eine Maus ans Licht. Wölfe und Esel fliegen durch die Lüfte. Der Esel schlägt die Laute, der Wagen zieht den Ochsen, der Wolf hütet die Schafherde, das Hirschkalb überwältigt den Löwen, und der Krebs läuft schneller als der Hase. Der Löwe ist zahm und läßt sich scheren, während Lampe ein Raubtier und Fleischfresser geworden ist und die Frösche das Weintrinken gelernt haben. Die Bewohner des Landes sind wunderliche Käuze. Sie weinen, wenn jemand gestorben ist, den sie nicht kennen. Sie flechten Seile aus Sand oder aus Binsen und Häcksel. Damit spannen sie Delphine ins Joch, nota bene, wenn die Seile inzwischen nicht von Ochs und Esel aufgefressen sind. Sie scheren den Esel und melken den Bock, gebrauchen den Pflug als Jagdspeer und den Ochsen als Spürhund. Sie holen das Wasser in einem Siebe, kochen die Brühe, ehe der Fisch gefangen ist, und ziehen dem Opfertiere die Haut ab, ehe sie es geschlachtet haben. Sie haben ihr Herz nicht auf dem rechten Fleck und schützen die unwahrscheinlichste Stelle ihrer Rückseite mit Panzer und Schild.«

Ebenso wie hier eine ganze Reihe uns wohlbekannter Motive anklingen, lassen sich aus gelegentlichen Anspielungen und volkstümlichen Wendungen noch eine Menge verschollener Märchen und Schwänke erkennen, wie sie bei allen Völkern wiederkehren – von den gar klugen Leuten in Abdera (dem griechischen Schilda), von törichten Wünschen (vgl. »Der Fischer und seine Frau« bei Grimm), von dem Wunderland unter der Erde und so manches andere.

 

Aber das sind Trümmer. Als Ganzes sind Märchen, Legenden und Schwänke nur in allerlei Brechungen und Umbiegungen in die Welt der griechischen Dichter und Erzähler eingezogen. Dabei ist natürlich viel verloren gegangen, vor allem der volkstümliche Ton, der uns beim Märchen selbstverständlich erscheint.

Oft empfand der Erzähler gar nicht, daß er einen alten Märchenstoff unter den Händen hatte, und daraus entspringt dann häufig ein innerer Widerspruch zwischen dem Inhalt und dem Ton des Erzählten. Während z. B. die schlichte, an das Alte Testament erinnernde Art des Herodot sich trefflich mit den ehrwürdigen Geschichten verträgt, die er vorträgt, während ähnlich auch Bakchylides für die frommen Legenden den richtigen Ton zu finden weiß, sind die alten Verwandlungsmärchen für Ovid nur das Material, an dem er alle Künste seiner glänzenden Rhetorik erprobt. Und gar Apuleius hat in seiner gesucht geistreichen Manier den schlichten Stoffen oft übel mitgespielt. Immer ist eben in der Antike das Darstellungsgesetz und der Stil der einzelnen literarischen Gattung so lebendig und stark, daß jeder Inhalt sich diesem unterwerfen muß.

 

Das Epos bereits huldigt der allgemeinen Freude am Fabulieren. So oft der listenreiche Odysseus, das Urbild der Griechen, in die Lage versetzt wird, in unsicherer Situation über sich selbst Auskunft zu geben, erfindet er stets ein neues Märchen. Wie er das auch der Göttin Athene gegenüber tut, die ihm in Menschengestalt unerkannt begegnet, erwidert sie ihm:

»Wer es in allerlei Listen zuvor dir täte, der müßte
wirklich ein Schlaukopf sein, ein Gott selbst wiche dir schwerlich,
schlimmer Geselle, an Ränken so reich, unersättlich in Lügen!
Selbst in der Heimat läßt du nicht ab vom täuschenden Truge
und von erdichteten Märchen, die lieb dir waren von jeher.«

(Odyssee XIII, 291-95)

So beginnt denn auch unsere Sammlung mit Proben aus Homer. Der Dichter der Odyssee, der die alten Mären von den Irrfahrten des Odysseus, von den Leiden des jungen Königssohns, dessen Vater verschollen ist (» Telemachie«) und dem Strafgericht an den Freiern zu einer gewaltigen, planvollen Dichtung zusammenfügte, hat die märchenhaften Elemente aus den alten Dichtungen in das neue Werk mit hinübergenommen. Namentlich die » Apologe (Erzählungen) bei Alkinoos«, wo der Held, der glücklichen Heimkehr nunmehr sicher, seine Abenteuer erzählt, sind ja nur eine Kette alter Schiffermären von den Wundern und Schrecken unbekannter Länder.

Wir greifen aus diesen zwei Stücke heraus. Einmal die unendlich schlichte Schilderung des Zaubereilandes der Kalypso, dessen Anblick den Gott Hermes in staunendes Entzücken versinken läßt, während der ausharrende Dulder für all diese Herrlichkeit keinen Blick hat und am Strande sitzt, mit dem einen Wunsche – noch einmal den Rauch von den Höhen der Heimat aufsteigen zu sehen und dann zu sterben. Dann das bekannteste, das Kyklopenmärchen von der Überlistung des riesigen Menschenfressers durch den Menschen, wo die Greuel des Kannibalismus, an die die griechische Phantasie nur ungern erinnert, zurücktreten gegenüber der Freude an der geistigen Überlegenheit des Menschen. Wir fügen ein ähnliches Stück aus der Telemachie bei, die Bezwingung des vielgestaltigen Meergottes durch den ausharrenden Menschen – ein Motiv, das sich in allerlei Gestaltungen in der altgriechischen wie in andern Märchenliteraturen wiederholt. Aber auch hier liegt ein leiser Humor über dem Ganzen, namentlich in der Schilderung der Qualen, die die in frisch abgezogene Seehundsfelle gehüllten Griechen erdulden müssen, und in der Art der Überlistung, die an bekannte Jagdgeschichten von der Beschleichung der Seehunde gemahnt.

Auch sonst sind in den Zeiten, da der epische Sang vorherrschte, volkstümliche Märchenstoffe beliebt gewesen. Ein solcher war z. B. der Margites, der Dümmling, von dem es heißt: »Vielerlei Künste verstand er, doch falsch verstand er sie alle« und der, wie die leider spärlichen Reste beweisen, diesen Charakter trefflich bewährte, als er heiraten wollte.

 

Dann aber erstarrte der heroische Sang, und an die Stelle der Rhapsoden, die seine Träger gewesen waren, traten die Geschichtenerzähler, die λογοποιοί, die nicht an den Sitzen der Fürsten und Herren, sondern auf dem Markte und bei den Volksfesten ihr Publikum suchten und fanden. Dieses Publikum aber liebte es mehr, von der es umgebenden Kleinwelt zu hören als von Göttern und Heroen. So entstand um das sechste Jahrhundert in Jonien, wo ja auch der epische Sang entstanden war, die Menge der Märchen, Fabeln und Schwänke, die jonische Novellistik, die bald überall Eingang fand, in der Lyrik wie in der Historiographie, in der Komödie wie in der Naturgeschichte, und dann hinausdrang in alle Welt.

Tierfabeln und Märchen sind wohl neben alten Rechtssatzungen die ersten Stücke Prosa, die – vielleicht schon zur gleichen Zeit wie das homerische Epos – aufgezeichnet wurden.

Die erste Fabel, die wir nachweisen können, steht bei Hesiod (etwa siebentes Jahrhundert) im Eingang der »Werke und Tage«. »Hoch in die Wolken entführte die Nachtigall plötzlich der Habicht, fest in den grimmigen Klauen die liebliche Sängerin haltend.

Jämmerlich klagte die Arme ihr Leid. Doch herrisch begann er:

›Törichte, schreie nicht so! Viel mächtiger bin ich an Stärke.
Wie mir beliebt, so schlepp' ich dich fort, wie schön du auch singest.
Habe ich Lust, so speise ich dich. Sonst magst du entrinnen.‹

Also zur Nachtigall sagte der dunkelbefiederte Habicht.«

Die Fabel ist hier wie oft in der Folgezeit bis auf Phädrus eine Waffe im Kampfe des Schwächeren gegen den Stärkeren, des Mannes aus dem Volke gegen den gewalttätigen Herrn aus der Adelsschicht, der die Sänger der homerischen Epen gehuldigt hatten. Als Erfinder der Fabel gilt dann der Sklave Aesop, der in dem alten Volksbuch, das von seinen Taten und weisen Worten erzählte, zum Gegenpol des aristokratischen Hellenentums der heroischen Zeit geworden ist, »zum Fleisch gewordenen Protest gegen die Forderungen und Anschauungen, die Urteile und Vorurteile des Adels« ( Crusius). Auf ihn ist dann die ganze Fülle der Märchen, Fabeln und Schwänke, die damals in Jonien entstand, zurückgeführt worden, und zwar in der Weise, daß die jonischen Fabulisten ihn seine Geschichten immer bei einem bestimmten Anlaß erzählen ließen. Die Rahmenerzählung, die sie zusammenhielt, eben das alte Volksbuch, war sehr frei auf diese Schnurren abgestimmt, wie wir noch bei Phädrus – so z. B. in Nr. 4 unserer Sammlung – erkennen können. Auch Lessing hebt ja hervor, daß das Bild am besten in seinem Rahmen wirkt.

Von diesen aesopischen Fabeln sind uns in den Werken der großen Literatur bei Platon, Aristoteles, Aristophanes usw. Proben erhalten. Daneben gibt es zahlreiche Sammlungen aesopischer Fabeln in Handschriften. Aber das in diesen gebotene Material stammt fast durchweg aus Rhetorenschulen, in denen die Fabel als einfachstes literarisches Produkt zu mancherlei Übungen verwendet wurde. Die uns erhaltenen Sammlungen scheinen im wesentlichen Schülerarbeiten auf Grund eines in der Hauptsache noch rekonstruierbaren alten Lehrbuchs zu sein. So liegt uns die einzelne Fabel oft in drei bis vier verschiedenen Fassungen vor, deren Entstehung, wie die Sprache zeigt, manchmal ins zweite vorchristliche, manchmal aber auch ins dreizehnte nachchristliche Jahrhundert fällt. Wie die alten volkstümlichen Fabeln aussahen, können wir heute nur noch ahnen. Daher sind auch die aesopischen Fabeln unserer Sammlung nicht einfache Übersetzungen, sondern Rekonstruktionen auf Grund der verschiedenen vorliegenden Fassungen.

Wir beginnen mit Tiergeschichten, die noch den alten Märchenton zeigen, Erzählungen, die aus der »Freude an der Heimlichkeit der Tierwelt« ( Jakob Grimm) herausgesponnen sind. Das erste Märchen unserer Sammlung hatte schon Archilochos (7. Jahrhundert) verwandt. Seine Bearbeitung begann:

Ein Märchen ist's aus alter Zeit,
daß einst der Adler und der Fuchs zum Freundschaftsbund zusammen kamen,

und das letzte der uns erhaltenen Fragmente gibt die fast tragisch gefärbte Klage des Fuchses:

»Zeus, Vater Zeus, du Herrscher in den Himmelshöhn,
du überschaust der Menschen Tun,
was recht, was schlecht ist. Und du richtest auch zugleich
der Tiere Frevel und der Tiere Frömmigkeit.«

Auch Nr. 2 ist von einem Lyriker des 6. Jahrhunderts in polemischer Tendenz im Kampf der Stände verwandt worden; die »märchenhafte Naivetät«, mit der hier Vater Zeus behandelt wird, findet sich auch bei ihm. Aber dies Märchen ist noch in zwiefacher Hinsicht interessant. Zunächst fällt die Verwandtschaft des aus Mist Kugeln ballenden Käfers – der »Pillendreher« heißt er bei den Griechen – mit dem ägyptischen Skarabaeus in die Augen. In der Tat mag dies Motiv von Ägypten oder eher Kyrene, der ältesten Kolonie der Hellenen in Afrika, in früher Zeit »herübergeflogen« sein. Aber es sei hier angemerkt, daß die von den Orientalisten vertretene Anschauung, daß die Fabeldichtung überhaupt von den Griechen aus dem Osten – Babylonien oder Indien – entlehnt sei, sich nicht aufrechterhalten läßt. Genaue Nachprüfung des gesamten Materials hat erwiesen, daß ein Austausch auf diesem Gebiete in größerem Umfang sich erst in hellenistischer Zeit (3. Jahrhundert) nachweisen läßt und daß dann die Griechen eher die Gebenden waren. Bevor aber dieser Tausch einsetzte, hatte sich die griechische Volksdichtung aus eigener Kraft zu unverlierbarer Eigenart entwickelt. Weiter ist das Märchen in der uns vorliegenden Fassung ätiologisch verwandt, d. h. es soll eine auffallende Erscheinung erklären, nämlich, wie es kommt, daß zur Brutzeit des Adlers angeblich keine Mistkäfer schwirren. So erklären auch Märchen bei uns, warum das Reh einen so kurzen Schwanz hat oder der Distelfink so bunte Farben – vgl. die schöne Sammlung Naturgeschichtliche Volksmärchen von Aug. Dähnhardt. Ähnlich ist Nr. 11 und auch 20, eine Parabel, die die Eigenschaften des Menschen in gewissen Lebensaltern zu denen gewisser Tiere in Parallele setzt. Unter den andern sind manche wegen ihrer schlichten und zugleich plastischen Darstellung in die Literaturen fast aller Völker übergegangen – vgl. 4, 6, 9, 10 (die Grundfabel des »Reineke Fuchs«) u. a. Die späteren Nummern zeigen, wie Fabel und Witz, Fabel und Schwank ineinander übergehen.

Hier schalten wir die Fabel vom Wettstreit des Lorbeers und des Ölbaums ein in der Bearbeitung des Alexandriners Kallimachus (3. Jahrhundert), die vor einem Jahrzehnt in einem Papyrusfund in Aegypten wieder an das Tageslicht getreten ist. Jeder Hauch volkstümlicher Poesie ist freilich in dieser Gelehrtendichtung, die mit mythologischer Weisheit überladen ist, völlig geschwunden. Dagegen erfreut wie auch sonst bei den Alexandrinern die liebevolle Ausmalung des Details, die geschickt aufgebaute und dramatisch bewegte Szene. Leider ist bei diesem Streitgespräch, dem wir ja auch aus unserer mittelalterlichen Literatur Ähnliches – Wettstreit zwischen Buchsbaum und Felbinger, Wasser und Wein, Sommer und Winter usw. – an die Seite stellen können – der Text sehr lückenhaft und auch sonst so zerrüttet überliefert, daß der Übersetzer zu einiger Willkür gezwungen ist. Sprache und Versbau des Originals sind sehr geistreich und kunstvoll, was leider auch in der Übersetzung nicht herauskommt. Kallimachus legt seine Jamben einem ewig hungrigen, übellaunigen Bettelpoeten der jonischen Frühzeit in den Mund, dem Hipponax, den er zu diesem Zweck aus dem Hades, »wo man einen Ochsen für einen Heller verkauft«, wieder auftauchen läßt. Wir wußten schon früher, daß Hipponax zuerst Hinkjamben geschrieben hat; aus der Nachahmung bei Kallimachus ist nun zu schließen, daß er dies für die Erzeugnisse der »niederen Muse« ungemein passende Metrum auch in Fabeln verwandte. Die Eigenart dieses Verses beruht auf dem Zusammenprallen der Akzente des vorletzten und des letzten Fußes: Symbole(oder in unsern Nachbildungen auch Symbole). Moderne Leser, denen das Maß anfangs etwas fremdartig vorkommen möchte, seien an die reizenden »hinkenden Jamben« Rückerts erinnert:

»Ein Liebchen hatt' ich, das auf einem Aug' schielte;
weil sie mir schön schien, schien ihr Schielen auch Schönheit.
Eins hatt' ich, das beim Sprechen mit der Zung' anstieß;
mir war's kein Anstoß, stieß sie an und sprach ›Liebster!‹
Jetzt hab ich eines, das auf einem Fuß hinket;
›ja freilich,‹ sprach ich, ›hinkt sie, doch sie hinkt zierlich‹.«

Mit vollendeter Virtuosität handhabte dann den Hinkjambus Babrios. Er ist ein Gräkosyrer, der am Hof irgendeines asiatischen Kleinfürsten im zweiten Jahrhundert nach Christus Prinzenerzieher war. Auch er arbeitet, wie die Verfasser der Aesopica, durchaus nach den Vorschriften, die uns noch erhaltene Lehrbücher der Rhetorik über die Behandlung der Fabel geben. Aber er trifft den behaglichen Ton des alten Märchenerzählers ebensogut wie den der dramatisch zugespitzten Anekdote.

Auch hier geben wir zuerst die Märchennummern, die freilich, wie Nr. 1 und 2, vermutlich auch zeitgenössische Anspielungen enthalten. Es folgen Tierfabeln und lehrhafte Erzählungen aus der Menschenwelt, meist altbewährte Motive aus »Aesop«, aber gut vorgetragen. Den Beschluß machen schwankhafte und anekdotische Stücke, wie sie dem Babrios wohl am besten gelangen. Einige von ihnen – so Nr. 10, 17, 20, 22 – zeigen deutlich ihre Herkunft aus den Debatten der Philosophenschulen.

 

Zeitlich früher als Babrios ist Phädrus, der in Makedonien geboren, in Rom lateinische Verse schrieb, der älteste Fabeldichter, dessen Werke im Original auf uns gekommen sind. Er ist ein freigelassener Sklave aus der Zeit des Tiberius, der die äsopische Fabel mit Vorliebe in satirischem Sinn verwendet, um den Mächtigen verdeckt unangenehme Wahrheiten zu sagen. Seitdem ihn deshalb der allmächtige Minister Sejan vor den Richter gestellt hatte, wurde seine Satire sehr zahm. Dafür hat er dann dem alten Fabelgut, das ihm das Volksbuch von Aesop, so wie es in der Kaiserzeit umlief, bot, moralisierende Fabeln, wie sie die kynischen und stoischen Weisheitslehrer liebten, und hellenistisch freche Götterschwänke hinzugefügt. Er hat dabei, wie das schon Lessing erkannte, seine griechischen Vorlagen oft mißverstanden und verpfuscht. Wo er aber das Kleinleben der eigenen Zeit heranziehen kann, bietet er ansprechende Bilder. Sein Hauptreiz liegt in der gedrungenen Kürze des Ausdrucks, worin es die lateinische Sprache bei der Fülle der Abstracta oft zu lapidarer Prägung bringt, die im Deutschen kaum nachzuahmen ist.

Der alte Märchenton ist freilich bei Phädrus nur selten noch zu spüren, so in Nr. 1, das in der Edda eine interessante Parallele hat: »Ratatoskr heißt das Eichhörnchen, das hin- und herrennen soll an der Esche Yggdrasill; des Adlers Worte soll es von oben bringen und dem Ni?hoggr (Wildeber?) nach unten sagen.« (Grimnismol 32.)

Auch in den folgenden sind manche gut gefaßte Stücke, die seitdem zum eisernen Bestand der Fabelliteratur gehören; bei manchen – so bei 12 – fesselt auch die geschickte Ausmalung der Szene. Einzelne sind wohl ganz persönlich gemeint – so 15 und 17 – und in ihrer Pointe heute nicht mehr mit Sicherheit zu deuten. 16 vertritt die naturgeschichtlichen Merkwürdigkeiten (Paradoxa), die in diesen Sammlungen sehr häufig sind und an die Wundergeschichten (Prodigia) gemahnen, die sich aus mittelalterlichen Unterhaltungsbüchern bis in unsere Volkskalender fortgepflanzt haben. 21 gibt einen frechen hellenistischen Witz, 22, 23, 24 vertreten das Gebiet des Schwanks, der Rätselerzählung und der Kriminalnovelle, während 25 ein Ansatz zu einer Liebesnovelle ist, deren Anmut freilich durch die Manier des Dichters stark beeinträchtigt wird.

 

An Phädrus schließt sich an der sogenannte Romulus, ein Prosafabelbuch des vierten oder fünften nachchristlichen Jahrhunderts, das seinerseits wieder die Grundlage mittelalterlicher Fabelbücher geworden ist. Der Verfasser, der in Gallien zu Hause gewesen zu sein scheint, benutzte ein Exemplar des Phädrus, das vollständiger war, als die uns erhaltenen, und daneben eine lateinische Überarbeitung des alten Aesopbuches. In diesem war der Fabelton oft besser getroffen als bei Phädrus, das beweisen trotz der unbeholfenen Diktion die ersten Nummern unserer Auswahl. Vieles freilich geht auf altgriechische Originale zurück, so 3, 5, 7. Eine Reihe weiterer Fabeln entnahm Romulus einem Schulbuche, einer noch erhaltenen »Lateinisch-griechischen Sprachlehre« des dritten Jahrhunderts (»Pseudodositheus«), so Nr. 8, 9, 10. Römische Bräuche erkennen wir in Nr. 9, bei der der Schluß, den Romulus auch wegläßt, späterer Zusatz zu sein scheint. Die Spiegelung des törichten Menschentreibens im Affenstaat, auf der die etwas philiströse Erzählung vom Affenkaiser (12) beruht, ist hellenistischen Ursprungs.

Auch diese Fabeln sind wie die griechischen in verschiedenen Fassungen überliefert, aus denen hier notgedrungen eine Rekonstruktion gegeben wird.

 

An den Schluß des Fabelabschnitts setzen wir einige Stücke aus byzantinischer Zeit, die zur Schwankliteratur des Mittelalters und der Renaissance hinüberführen, ebenso wie die Romulusfabeln zur moralisierenden Fabeldichtung des Mittelalters. Christlichen Brauch verraten ja auch einige Wendungen in Nr. 3. Interessant ist Nr. 7 (eigentlich eine fabula Milesia, vgl. S. XX) dadurch, daß sie, freilich in höfisch eleganter Aufmachung, in den cent nouvelles (Anfang des vierzehnten Jahrhunderts) wieder auftaucht.

 

Von der gesunden Schlichtheit Aesops zur gespreizten Rhetorik des Claudius Aelianus ist freilich ein gewaltiger Sprung; denn dieser Römer, der ums Jahr 200 n. Chr. in griechischer Sprache schrieb, ist für uns ein Vertreter einer ziemlich unerfreulichen schriftstellerischen Richtung, der sogenannten »zweiten Sophistik«. Er schrieb im affektierten und gesuchten Geschmack jener Zeit ein Werk »Über die Eigentümlichkeiten der Tiere«. Ganz im kritiklosen Wunderglauben seiner Zeit befangen, sucht er in den Dingen möglichst das Seltsame, Wunderbare und Übernatürliche. So ist eine seiner Hauptabsichten, nachzuweisen, daß die Tiere besser, auch sittlich besser seien als die Menschen. Eine Reihe ursprünglicher Tiermärchen, die er freilich als solche nicht erkannt hat, müssen herhalten, um diesen Nachweis zu erbringen. Es ist ein gutes Zeichen für die Unverwüstlichkeit dieser alten Märchenstoffe, daß sie selbst in dieser unnatürlichen Darstellung und Aufmachung noch Interesse wecken können. Hierher gehören die Nummern 1, 5, 6, 8 und 9. Daneben stehen einige Tiergeschichten, die zum Teil bis in unsere Volksschullesebücher gewandert sind, wie der Löwe des Androklus und der Hund des Calvus (Nr. 3 und 4).

Im Anschluß daran folgen noch einige novellenartige Stücke aus einem zweiten Werke desselben Autors, den »Bunten Geschichten«. Wir besitzen das Werk nur in einem Auszug, daher erklärt sich die große Verschiedenheit des Tones und Umfangs der einzelnen Geschichten. Während die Geschichte der schönen Aspasia (Nr. 6) ohne Kürzungen gar nicht hätte aufgenommen werden können, sind andere, wie z. B. die griechische Fassung des Aschenbrödelmotivs (Nr. 4 Rhodopis) oder die Geschichte von Hanno (Nr. 5) so skizzenhaft, daß sie zunächst Befremden erregen werden; aber stofflich sind sie alle, abgesehen von dem Rhodopismärchen, als Novellen im alten Sinne des Wortes anzusprechen.

 

Die Freude an der novellistischen Kleinkunst zeigt sich schon im fünften Jahrhundert v.Chr. auch in der Historie. Auch Herodot (um 450 v.Chr.) ist zunächst nur Geschichtenerzähler, bis er allmählich halb unbewußt den großen Zusammenhängen in dem bunten Vielerlei der Ereignisse sein Augenmerk zuwendet und dadurch zum Historiker wird. So zeigen große Teile des herodotischen Werks den weitblickenden und auch keineswegs unkritischen Geschichtschreiber, namentlich die ganze Darstellung der Perserkriege. Zunächst aber setzt sich auch ihm – wie schon einigen seiner Vorgänger – die Geschichte zusammen aus einer Menge wunderbarer Einzelgeschichten, die möglichst kunstvoll herauszuarbeiten sein eifriges Bestreben ist. Gerade in diesen »Apologen« feiert sein liebenswürdiges Erzählertalent seine größten Triumphe. Es sind Kabinettstücke, die uns in die Welt einführen, die die Phantasie der Erzähler in Jonien und im Athen des fünften Jahrhunderts vor allem beschäftigte. Dabei ist die Darstellung durchwärmt und durchleuchtet von dem ehrenfesten, frommen und dabei gütig verständigen Sinn des Altvaters selbst.

Das Volk hat immer seine Lieblinge, und im jonischen Heimatland des Herodot, das mitten inne zwischen Morgen- und Abendland mit beiden gleich verbunden ist, lagen Gestalten aus diesen beiden Welten dem Erzähler gleichnahe. Da sind vor allem die Herrscher des nahen Lydiens: man wußte vom Ahnherrn des Königsgeschlechts, Gyges, der auf abenteuerliche Weise zum Throne gelangt war. Herodots Erzählung (Nr. 1) bildet die Hauptquelle für Hebbels ergreifendes Stück; wie viele Überlieferungen aber daneben noch bestanden, mag das ebenfalls von Hebbel verwertete Gygesmärchen, das uns bei Platon begegnet (Nr. 2), zeigen. Kroisos vollends, der letzte Herrscher aus dem Hause des Gyges, ist allezeit eine Lieblingsgestalt griechischer Fabulistik geblieben: sein märchenhafter Reichtum, seine Güte und Frömmigkeit, endlich sein Unglück boten unerschöpflichen Stoff. Wie reizvoll ist der Gedanke, ihm einen der sieben Weisen gegenüberzustellen und griechische Besonnenheit triumphieren zu lassen über die Kurzsichtigkeit des Orientalen (Nr. 3 und 5), wie eindrucksvoll und fromm beleuchtet die Geschichte von Atys und Adrastos und vom Ausgang des Kroisos die Wahrheit der Orakel und die Macht des Griechengottes (Nr. 4 und 5)!

Neben diese Gestalten treten dann die Könige Ägyptens und Persiens. Unsere beschränkte Auswahl sucht hier das literarisch Bemerkenswerte und menschlich Bedeutsame herauszugreifen. Bald ist es die echt volkstümliche Freude an verschmitzter Schlauheit, wie in den Erzählungen vom Meisterdieb und von Amasis (Nr. 6 und 8) oder an klug gestellter Rede (Nr. 12) oder Spott über die Untreue der Weiber (Nr. 7), dann wieder schaudernde Teilnahme am Cäsarenwahnsinn des Kambyses und seinen Opfern (Nr. 9-11).

Auch griechische Fürstengestalten haben in ähnlicher Weise in vielfachen Sagen die Phantasie der Mit- und Nachwelt beschäftigt. Der wunderbar rasche Aufstieg dieser »Tyrannen«, die Überfülle äußeren Glückes, wie ihr jäher Sturz oder die düstere Tragik im eigenen Hause bei äußerem Glanze, das blieben ergiebige und unerschöpfliche Themen. So begegnen uns Polykrates von Samos (Nr. 13), dessen Geschichte schon Schiller dem Herodot entnommen hat, dann Kypselos von Korinth und sein Sohn Periander (Nr. 14). Auch das athenische Adelsgeschlecht der Alkmeoniden, deren Blut in Perikles' Adern floß, beschäftigte offenbar die Erzähler sehr lebhaft (Nr. 17 und 18). – Daß endlich dem frommen Sinne des Herodot Erzählungen, die wir heute als Legenden bezeichnen würden, besonders nahe lagen, zeigen Stücke wie die Geschichte des Arion oder die niedliche vom Wunder der Helena (Nr. 15 und 16), die noch auf ihren Gottfried Keller wartet. Ein unverkennbares Volksmärchen ist schließlich die Erzählung vom Ursprung der Skythen (Nr. 19).

Im Anschluß an das letzte Stück aus Herodot steht hier auch eine Novelle, die gleichfalls nach Skythenland führt. Wir verdanken sie Chares von Mitylene, einem Hofbeamten Alexanders des Großen.

 

Nach Herodot bringen wir zwei Episoden aus dem Historiker Timaios (ca. 350-260 v. Chr.). Zunächst die amüsante, in bewundernswert einheitlichem Stil durchgeführte Geschichte von der Trinker Meerfahrt, ein Motiv, das im Mittelalter auf die Wiener übertragen ist. Dann eine Probe der sogenannten Sybaritika. Diese bilden eine besondere Gruppe von Anekdoten, deren »Witz« in möglichst gesteigerter Abgeschmacktheit besteht. Dazu müssen besonders die Sybariten mit ihrer sprichwörtlichen Weichlichkeit herhalten. Gerade hierzu aber bieten indische und persische Geschichten interessante Parallelen, wie die von der Prinzessin, die von einem im Bette verborgenen Rosenblatt bis zum Bluten gestochen wird.

 

Wir schließen den Abschnitt mit einem Stück aus dem Historiker Appian (ca. 160 n. Chr.), das zeigt, wie die romanhafte Behandlungsweise der Geschichte sich unverändert fortsetzt. Die Erzählung der Novelle ist bei Appian etwas schwerfällig, aber ein gutes Vorbild scheint doch zugrunde zu liegen. Das Motiv vom Vater, der zwischen dem Sohn und der Stiefmutter steht, ist seitdem in allerlei Varianten und nicht nur in der antiken Literatur behandelt worden.

 

In die Welt des Herodot geleiten uns auch die Siegeslieder des Bakchylides7 (fünftes Jahrhundert v. Chr.), die uns erst seit 15 Jahren durch einen Papyrusfund wieder geschenkt sind. Nach dem Vorbild seines großen Vorgängers Pindar7 versucht der Dichter die Monotonie des offiziellen Lobeshymnus dadurch zu überwinden, daß er dem Sieger des Tages ein mythisches Gegenstück gegenüberstellt und irgendein Abenteuer des Herakles, Theseus usw. in gläubiger Gesinnung schildert oder der Götter Walten sonstwie aus dem Mythos, der ihm Geschichte ist, belegt.

Wir geben zunächst die Geschichte von Kroisos und Kyros, die in ihrer naiv altfränkischen Art stark von der Darstellung bei Herodot absticht, wo das Übernatürliche durch rationalistische Deutung verdrängt ist. Das Vollendetste, was Bakchylides gelang, ist wohl die Gestaltung des alten Märchens von Theseus' Meerfahrt in einer Ballade, die uns bald an den Taucher, bald an den Erlkönig erinnert. – Pathetische Töne schlägt die Dichtung vom Zusammentreffen des Herakles und Meleager in der Unterwelt an. Der stolzeste aller Zeussöhne erkennt hier an dem Geschick des einzigen Helden, dem auch er zu weichen willig wäre, die Nichtigkeit alles Irdischen. – Wie ihn dann selbst durch die Eifersucht eben der Deianeira, die ihm der Schatten des Meleager anverlobt hat, das Todeslos ereilt, schildert in gedrängter, andeutungsreicher Knappheit das nächste Lied. Auch hier sind die Kontraste des Helden, der fromm seinen letzten Sieg den Göttern dankt, während ihm die Gattin die Todesgabe, das mit dem vergifteten Blut des Nessos getränkte Hemd, zusendet, wirkungsvoll einander gegenübergestellt. Das letzte Gedicht gibt, wohl zu einer Rezitation bei einem Theseusfest in Athen bestimmt, in Dialogform einen Bericht von den ersten Heldentaten des attischen Nationalheros.

 

Eine lange Entwicklung liegt zwischen Bakchylides und Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.), aus dem nun Proben von Verwandlungssagen folgen, in denen zugleich zum erstenmal das erotische Moment mit hervortritt. Die Schöpfungen der Tragödie, die geschlossenen Charaktere des Sophokles wie die Ansätze zu psychologischer Erfassung individueller Menschen bei Euripides, die Welt der Epigrammendichtung der hellenistischen Zeit haben den Inhalt, die Rhetorik die Form der Dichtung erweitert. Aber der Stoff entstammt bei ihm wie andern Römern griechischer Sage, so daß wir es auch hier mit »griechischen Märchen« zu tun haben. Ovid, der talentvollste wenn auch oberflächlichste der römischen Dichter, gemahnt in der Pracht seiner durchaus rhetorisch gefärbten Sprache, in der dramatisch bewegten Dialektik seiner Dichtungen manchmal an Schiller, in der spielenden Leichtigkeit der Erfindung und der Üppigkeit der Schilderung an Ariost. Aber gerade bei solchem Virtuosentum läßt sich der volle Genuß, das volle Verständnis des Geleisteten nur am Original gewinnen. Die richtigste Übersetzungsform wären hier etwa Stanzen mit Byronscher Kraft und Beweglichkeit des Ausdrucks – ein Metrum, das ja Schiller wählte, um den viel schlichteren Vergil wiederzugeben.

Wir wählen als Probe der Schilderung die Beschreibung des goldenen Zeitalters, als Beispiel erotischer Dichtung die Episoden von Apoll und Daphne, Ceyx und Alkyone – diese mit einigen Kürzungen – Pyramus und Thisbe, weiter von den Göttergeschichten Latona und die lykischen Bauern und Dionysus und die Seeräuber – Gedichte, die auch zeigen, wie unbefangen spielerisch diese Zeit den großen Göttern gegenüberstand, die sie ganz wie ihresgleichen gestaltet. Außerdem die pathetische Wiedergabe der Niobesage.

 

Es folgen nunmehr Schwänke und Novellen, wie sie sich aus den Ansätzen, die oben schon in der »äsopischen Fabel« hervorgehoben wurden, naturgemäß entwickeln mußten. Für diesen Unterhaltungsstoff waren, soweit er der stark erotischen Richtung angehörte, die Milesischen Geschichten des Aristeides von Milet (erstes Jahrhundert v.Chr.) das viel bewunderte und viel gelesene Vorbild. Auf ihn u. a. berief sich Ovid, als ihn Augustus zum Teil seiner üppigen Liebeslieder wegen nach Tomi verbannte. Im Gepäck der vornehmen Offiziere, das die Parther nach der Katastrophe des Crassus bei Carrhae erbeuteten, fanden sich, wie uns berichtet wird, zahlreiche Exemplare dieser Milesiaca. Eine Vorstellung von ihnen gibt – außer den Novellen bei Apuleius und Petron, von denen weiter unten die Rede ist – der zehnte der sogenannten Aischinesbriefe, eine Rhetorenarbeit hellenistischer Zeit. Die geschickte Inszenierung des anscheinend ehrlich entrüsteten Erzählers und der kecke Ton des Frevlers hüllen das verfängliche Thema in ein Gewand heiterer Laune, wie wir sie ähnlich nur in der Renaissance treffen. Aus sehr viel späterer Zeit stammen die beiden ebenfalls in Briefform gehaltenen Novellen des Rhetors Aristainetos (5. Jahrhundert n.Chr.), die nur inhaltlich wirken. Der Reiz jonischer Phantasie oder attischen Witzes fehlt.

Ins Reich der Spuk- und Zaubergeschichten führt uns die durch Goethes herrliche Umdichtung bekannte Erzählung von der Braut von Korinth. Sie ist in den » Wunderbaren Geschichten« (Mirabilia) des Phlegon von Tralles, eines Freigelassenen des Kaisers Hadrian, nur unvollständig erhalten. Hier ist der Anfang nach einer andern Quelle, die zu Goethes Zeit noch nicht bekannt war, ergänzt. Der gewaltige Hintergrund der Geschichte jedoch, den Goethe durch den Gegensatz der christlichen Satzung zur heitern Welt der alten Götter schuf, ist ganz Goethes eigenes Werk. Der Novellist der ausgehenden Antike will nur die finstere Macht der Dämonen herausarbeiten, die den Lebenden zu sich hinab ins Grab ziehen.

 

Aus anderem Ton heraus hat der Spötter Lukian (125 n.Chr. in Syrien geboren) seinen Lügenfreund geschrieben, der eben dem Wunderglauben auch der Gebildeten seiner Zeit zu Leibe rücken und einen abergläubischen Lügenphilosophen an den Pranger stellen will. Aber die Geschichten, die er dazu mitteilt, sind aus dem Volksglauben geschöpft und lassen sich meist noch in Einzelzügen anderswoher belegen. Da es uns hauptsächlich auf diese Geschichten ankam, ist in der Einleitung wie am Schluß gekürzt. Das Ganze ist bei Lukian ein Dialog, in dem Tychiades (= Lukian) einem gleichgesinnten Freunde erzählt, welchen Wust von Aberglauben er an seinem Krankenbett hat hören müssen.

Ein bloßes Spiel heiterer Laune dagegen sind die Wunschmärchen, die im » Schiff« aneinander geknüpft werden.

Berechtigter Spott führt ihm die Feder in seiner » Wahren Geschichte«, einer Satire auf die beliebten Reiseromane, die mit ihren Lügengeschichten und Aufschneidereien zur Parodie geradezu auffordern mußten. In der von uns weggelassenen Einleitung versichert Lukian ausdrücklich, daß jede seiner Erfindungen auf einen bestimmten Autor und dessen Lügenberichte ziele. Die Rücksicht auf den verfügbaren Raum zwingt uns bei der Wiedergabe dieser ältesten Münchhausiade zu erheblichen Kürzungen und Weglassungen.

Lukian ist Vielschreiber ohne eigene feste Überzeugung. Auch ihm ist es meist mehr ums Gelesen- und Bezahltwerden als um die Sache zu tun gewesen. Aber er hat sich den Sinn für Volkstümliches bewahrt und versteht es, fesselnd zu erzählen.

 

Die weiteren Novellen sind den » Metamorphosen« des Apuleius entnommen. Er war in Numidien geboren und kam in der Mitte des zweiten christlichen Jahrhunderts nach Rom, auch er ein wandernder Vortragskünstler, der sich in den verschiedensten Literaturgattungen versuchte. Dabei unterstützt ihn eine geradezu virtuose Gabe, die verschiedensten Stimmungen anzunehmen. Bald ist er ernster Philosoph der neuplatonischen Schule, bald gläubiger Isisdiener, bald froher Erzähler milesischer Geschichten. Diese Novellen hat er in den großen Roman eingeflochten, der ihm den Eingang in die Weltliteratur verschafft hat, den »Goldenen Esel«, wie man ihn seit den Tagen Augustins nennt. Es ist ein Roman in der Ichform, der auf ein griechisches Original zurückgeht. Der Korinther Lucius macht eine Reise nach Thessalien und wird in diesem klassischen Land des Hexenwesens in einen Esel verwandelt. Als solcher erlebt er die wunderbarsten Abenteuer, bis er durch die Gnade der Isis erlöst wird, in deren Dienst er dann sein Leben beschließt.

Die Sprache des Apuleius ist unendlich manieriert. Sie ahmt dem Zeitgeschmack entsprechend einerseits die Herbigkeit des Frühlateins nach, nimmt daneben eine Menge Wendungen aus dem Wortschatz des Volks auf und übergießt dann das Ganze mit poetischen Bildern und rhetorischen Floskeln. Weiter kann er sich nicht genug tun in Anspielungen und Beziehungen, die oft die Grenze des Läppischen streifen. So entsteht ein eigentümliches Barock, das nachzuahmen fast unmöglich ist –, »und sollte es gelingen, so wäre es unerträglich«, sagt mit Recht O. Jahn. So haben auch wir es bei Andeutungen belassen müssen, die namentlich den höchst komplizierten Periodenbau außer acht lassen.

Das Interesse, das die kleinen Geschichten bieten, liegt unzweifelhaft in dem lebendigen Bild, das wir hier von einer in der Auflösung begriffenen Gesellschaft erhalten. Wir wählen eine Geistergeschichte, die Erzählungen von großen Räubern, eine Kriminalnovelle, die in der Renaissance im Pecorone des Ser Giovanni Fiorentino wieder auftaucht, eine kecke Ehebruchsgeschichte und eine tragische Liebesgeschichte, die ihrerseits an die düsteren Rachenovellen italienischer Renaissance gemahnt. Mag für diese Geschichten das Vorbild auch griechisch sein, das eigentliche Kolorit entnahm Apuleius der eigenen Zeit.

 

Mitten in den eben charakterisierten Roman hat nun Apuleius das Märchen von Amor und Psyche eingeschoben: eine Räuberbande hat dort eine edle Jungfrau an ihrem Hochzeitstage geraubt, und um die Gefangene zu trösten, erzählt ihr die alte Wirtschafterin der Banditen das Märchen. Der Esel, in den der Held des Romans verwandelt wird, hört die Geschichte mit an und bedauert am Schlusse, »nicht Griffel und Schreibtafel zu haben, damit er diese schöne Geschichte aufzeichnen könne«.

Es ist kein Zweifel, daß Apuleius auch diese Geschichte nicht erfunden, sondern ein griechisches Urbild in seine Sprache und seinen Stil übertragen hat. Aber schon über den Zweck, den unser Erzähler mit dieser Geschichte verfolgte, herrscht bis jetzt Streit unter den Fachleuten. Wollte er lediglich eine »Fabula«, eine unterhaltende Geschichte, neben andern in seinen Roman einflechten? Oder ist die Erzählung von den Leiden der Psyche (= Seele) allegorisch gemeint und mit den mythisch-religiösen Gedanken und Erfahrungen, in die der Roman ausklingt, in Verbindung zu bringen? Jede dieser Meinungen ist schon mit Gründen vertreten worden. Die Schwierigkeiten wachsen aber noch, wenn der Versuch gemacht wird, die Natur des unbekannten griechischen Vorbilds, das Apuleius bearbeitet hat, zu ergründen. Die einen nehmen ein altes griechisches, ja indogermanisches Volksmärchen als Quelle an und weisen auf die vielen unzweifelhaft echten Märchenzüge der Geschichte hin. Solche sind: die übergroße Schönheit der Königstochter, die den Haß der bösen Schwiegermutter erregt, der in einen Drachen verwandelte Prinz, die Vermählung mit dem Ungeheuer, das Verbot, nach Namen und Gestalt des Geliebten zu forschen, und die Strafe für die Übertretung des Verbots, die unsichtbaren Dienerinnen, das Tischleindeckdich, die Strafe der bösen Schwestern, die Arbeiten und Prüfungen der Heldin, die helfenden, redenden Tiere und Pflanzen, der redende Turm und noch manches andere. Wenn schon jeder unbefangene Leser der Erzählung ganz von selber an Aschenbrödel, Schneewittchen und andere Grimmsche Märchen erinnert wird, so war es für Kenner dieses Gebietes nicht schwierig, aus der Märchenliteratur aller Völker eine Menge ähnlicher und verwandter Motive beizubringen, um so den märchenhaften Charakter des Urbilds unserer Geschichte zu erweisen. Demgegenüber geben andere zwar den märchenhaften Charakter sehr vieler Einzelzüge zu, weisen aber mit Nachdruck auf alle diejenigen Elemente hin, für die in einem Märchen kein Platz ist, die, wie z. B. die göttlichen Namen der Hauptgestalten selbst, auf mythisch-religiösen Ursprung des Ganzen hinweisen. So sucht die jüngste Behandlung der Frage von sehr beachtenswerter Seite den Nachweis zu erbringen, daß ein hellenistisches Märchen, dem selbst wieder ein orientalischer Göttermythus zugrunde liegt, die letzte Quelle unserer Geschichte sei. Wieder andere finden in den Erlebnissen der Psyche, also der Menschenseele, und des Amor, des griechischen Eros, d. h. des Gottes der Liebe und jedes leidenschaftlichen Strebens, einen tiefen allegorischen Sinn und von vornherein schon einen mehr oder weniger engen Zusammenhang mit den Geheimlehren griechischer Mysterienreligion.

Wir müssen uns an dieser Stelle mit diesem Hinweis auf die Probleme und die Wege, die man zur Lösung eingeschlagen hat, begnügen, aber ein Punkt verlangt doch noch eine kurze Würdigung, das ist der Ton, in dem das Märchen erzählt wird, ein Ton, der zunächst bei deutschen Lesern Befremden erregen muß. Denn seit der klassischen Leistung der Brüder Grimm erscheint uns allein die von diesen gewählte Darstellungsform dem Wesen des Märchens angemessen: in kindlicher Einfalt und schlichter, schmuckloser Sachlichkeit ziehen die Ereignisse am Ohr des Hörers vorüber; das Wunderbare des Märchens braucht für uns nicht noch durch irgendwelche effektvolle Darstellung gehoben zu werden. Ganz anders bei Apuleius. Die schon oben charakterisierte Art und Unart des Verfassers erreicht hier ihren Höhepunkt. Hier erzählt ein Schriftsteller, der zugleich einer der raffiniertesten Sprach- und Stilkünstler des Altertums ist, er erzählt es seinen Zeitgenossen, die mit den gepfeffertsten Reizungen einer überreifen Sprachkultur unterhalten sein wollen, denen jedes Genre recht ist außer dem schlichten und selbstverständlichen. Das Märchen bekommt von diesem in seiner Art unerhörten Stilisten das prunkvollste, auffallendste, wenn man will, unpassendste Gewand übergeworfen, das sich denken läßt: ein wahres Feuerwerk aller rhetorischen Künste und Künsteleien umprasselt den Leser beständig, da werden die Worte gehäuft, dichterischer Rhythmus, schöne Gleichklänge, geistreiche Verschränkungen und zugespitzte Gegensätze der Worte und Begriffe sollen den Eindruck verstärken, blumige Wendungen, Zitate und Anspielungen, Wortspiele und andere Künsteleien werden nicht gespart. Auch stofflich werden in das Märchen wesensfremde Elemente hineingebracht, es fehlt gelegentlich nicht an etwas lüsterner Erotik; die Gestalten der alten Götter, die ja jener Welt religiös kaum mehr etwas bedeuten, werden parodistisch behandelt und möglichst ins Kleinbürgerliche herabgezogen. Neben Absonderlichem, ja Abgeschmacktem finden sich dann Stellen voll hoher Pracht der Schilderung oder Reden, getragen von jenem echten, wirkungsvollen Pathos der hochentwickelten römischen Rhetorik.

Eine Übersetzung, die alle diese Züge des Urbilds beibehielte, ist in unserer Sprache undenkbar und unmöglich: vieles und gerade das Originellste entzieht sich jeder Übersetzung. Auch die letzte, die dem Verfasser vorlag und aus der er mit Dank bekennt, außerordentlich viel gelernt zu haben, die von Ed. Norden, hat an vielen Stellen von dem Mittel einer vorsichtigen Retouche Gebrauch gemacht, um dem Geschmack des modernen Lesers nicht zuviel zuzumuten. Aber auf der anderen Seite ist doch der seltsame Stil des Apuleius selbst wieder eine der größten literarischen Merkwürdigkeiten, die in der Weltliteratur kaum ihresgleichen hat. Darum glaubte der Verfasser der vorliegenden Übertragung, die sich doch an literarisch interessierte Leser wendet, im Anschluß an das seltsame Original gelegentlich wohl noch einen Schritt weiter gehen zu sollen als sein Vorgänger. Er hat so viel Vertrauen zum Inhalt, daß er hofft, die Leser werden trotz des manchmal absonderlichen Gewandes das Entzücken eines Raphael nachfühlen können, den das Märchen zu seiner heitersten Schöpfung angeregt hat, und Goethes Urteil nicht übertrieben finden, der von ihm sagt: »Schwerlich ist jemals in eines Menschen Geist etwas Lieblicheres und Zarteres aufgestiegen; der Verstand ist befriedigt, das Gemüt erfreut und das Herz entzückt und schlägt froh dem Werke entgegen, welches reizt, ergreift und unsere schönsten Empfindungen aufregt; die Kunst überschüttet uns mit ihren Wohltaten.«

 

Auch das unbestreitbar genialste Werk der gesamten uns erhaltenen römischen Literatur, der satirische Roman des Petronius Arbiter aus der Zeit des Kaisers Nero geht in dem einen Hauptmotiv, der Geschichte der Leiden eines Mannes, den der Zorn des Priapus, des Gottes der niederen Minne, verfolgt, auf die fabulae Milesiae zurück. Damit sind andere Motive verknüpft, und als Rahmen die Schilderung von Reiseerlebnissen in Unteritalien, besonders in einer Kleinstadt – vermutlich Kroton – gewählt. Mit unübertrefflicher Realistik ist hier das Leben der Kaiserzeit mit seiner verfeinerten Genußsucht und gewissenlosen Liederlichkeit wiedergegeben. Das einzige größere Stück, das uns von dem sehr umfänglichen Roman erhalten ist, schildert das Gastmahl bei dem Parvenü Trimalchio, das wir um ein Drittel verkürzt wiedergeben. Der überlegene Humor, mit dem diese reich gewordenen Freigelassenen gezeichnet werden, mit ihrer gemeinen Gesinnung und ihrer Unbildung, die sich im Original auch in der pöbelhaften Sprache spiegelt, hat nicht nur in der römischen Literatur nicht seinesgleichen. Die Szene ist seit jeher bewundert und gelegentlich auch bei Karnevalsfestlichkeiten aufgeführt worden, so 1702 in Hannover, wie uns ein interessanter Brief von Leibniz schildert. – Aus den Fragmenten fügen wir noch die geistreiche Behandlung des weiberfeindlichen Schwanks von der Matrone zu Ephesus bei, die einst Lessing zur Nachahmung reizte.

 

Zum Abschluß geben wir Proben phantastischer Schilderung ferner Lande und wunderbarer Taten eines kühnen Helden aus dem Alexanderroman, dessen erste Fassung vielleicht noch in der Zeit der Diadochen entstanden ist. Sie zeigen, wie der schlichte Märchenstil, in dem einst Homer dergleichen geschildert hatte, unter dem Einfluß des Orients in Anlehnung an die ethnographische Phantastik der Perser und Inder verwildert ist. Eine Reihe von Einzelzügen, wie die scheinbare Insel, die sich dann als Seeungeheuer erweist, sind ja auch aus Tausend und einer Nacht bekannt.

Der Roman ist in verschiedenen Fassungen überliefert, neben denen auch, wohl schon in sehr früher Zeit, eine Sammlung von Briefen Alexanders voll wunderbarer Geschichten umlief. Da es hier aber darauf ankam, die Fülle der Motive herauszuheben, haben wir ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu älteren oder jüngeren Fassungen, die oft auch der Fachmann schwer scheiden kann, einzelne Abenteuer herausgegriffen, ja in einem Falle – den Erzählungen aus dem Lande der Seligen – verschiedene Fassungen kombiniert.

So toll die Fabulistik auch hier sich gebärdet, so spricht doch aus dem Beschluß von Alexanders Fahrten zum Meeresgrunde und zur Himmelshöhe die griechische Weisheit der Selbstbescheidung. Und griechischer Spekulation sind im wesentlichen auch die Belehrungen entnommen, die Alexander hier von den Brahmanen Indiens empfängt. Das Ganze aber klingt aus in der schwermütigen Dichtung, wie der siegreiche Held auf der Höhe der Erfolge durch Göttermund sein trauriges Ende erfährt. Märchen/Fabeln/ Schwänke und Novellen aus dem klassischen Altertum


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