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Zwanzigstes Kapitel

Eines Tages fiel ihm ein Gedicht von Freiligrath in die Hände. »O lieb', solang' du lieben kannst …«:

»Und hüte deine Zunge wohl –
Bald ist ein böses Wort gesagt!
O Gott, es war nicht bös gemeint, –
Der andre aber geht und klagt.«

Es gefiel ihm, und er vertonte es. Er schrieb es in As-dur, der leidenschaftlichsten Tonart. Es wurde ein Vortragsstück, vor dessen frischer Volkstümlichkeit man förmlich Angst bekommen konnte. Das hatte er gar nicht beabsichtigt. Wenn er eingeladen war und zum Klavierspielen Lust bekam, bat ihn die ganze Gesellschaft flehentlich, dieses Lied zu spielen.

Jetzt traf er in Wien mit Berlioz zusammen. Hector bereiste ebenfalls die Welt, gab Konzerte und verdiente gut. Ihre Freundschaft hörte nicht auf, trotzdem sie sich oft sehr lange nicht sahen. Sie standen in Briefwechsel und pflegten sich ihre Arbeiten gegenseitig zuzuschicken. Virtuosen können sich ebenso schwer treffen wie einzelne Herrscher, mögen sie auch noch so eng miteinander befreundet sein. Um so mehr freuten sie sich jetzt über diese Begegnung. Ihre ganze freie Zeit verbrachten sie zusammen. Franzi verpflichtete sich zu neun Konzerten in Wien, Hector fuhr von hier nach Pest.

»Ich könnte ein gutes, wirkungsvolles ungarisches Vortragsstück gebrauchen«, sagte er vor seiner Abreise, »das ich nach meiner Art umarbeiten könnte.«

»Ich kann Ihnen ein solches verschaffen«, nickte Franzi, »etwas Aufwieglerischeres kenne ich nicht.«

Er gab ihm die ungarische Liedersammlung, in der auch der Rákóczi-Marsch enthalten war. Berlioz fing sofort Feuer. Den Tag vor seiner Abreise verbrachte er damit, diesen Marsch für Orchester zu bearbeiten. Dann fuhr er nach Pest. Sie vereinbarten eine Zusammenkunft in Prag. Franzi blieb noch in Wien. Er gab Konzerte, arbeitete und ging in Gesellschaft. Belloni konnte in seinen Wohnräumen im »Hotel zur Stadt London« keine Ordnung halten, soviele Menschen besuchten den Weltberühmten. Unter den vielen Besuchern befanden sich wenigstens zwei, deren Bekanntschaft für ihn Bedeutung hatte. Der eine war ein Wunderkind, der Sohn eines Kaufmanns aus Kittsee namens Joachim, ein fünfzehnjähriger Bursche, der ausgezeichnet Violine spielte. Der Junge war schon viel in der Welt herumgekommen und hatte bereits vor der Königin von England und dem russischen Zaren gespielt. Franzi war von seinem Spiel hingerissen und trat auch gemeinsam mit ihm auf. Der Erfolg, den sie in Wien hatten, war ungeheuer. Der zweite interessante Mensch war ein ungarischer Pianist namens Ehrlich. Er spielte in einer gewissen Zigeunerart und stellte aus ungarischen Motiven Phantasien zusammen, in der Art von Franzis »Ungarischen Rhapsodien«, deren Zahl bereits zehn betrug. Einzelne Stücke Ehrlichs gefielen ihm gut, nicht so sehr durch ihre Ausarbeitung, als durch ihre Motive.

»Ich wage Ihnen meine Bitte eigentlich gar nicht vorzutragen«, stotterte Ehrlich, »denn es ist sowieso unmöglich. Es wäre sinnlos von mir, Sie zu bitten, daß Sie jetzt, wo Sie nach Pest fahren, etwas von meinen Kompositionen in Ihre Vortragsfolge aufnehmen.«

»Warum wäre das sinnlos?«

»Sie komponieren doch tausendmal bessere Rhapsodien als ich. Warum sollten Sie meinen Rhapsodien zum Ruhme verhelfen? Warum sollten Sie Ihre Einnahmen aus dem Notenverlag dadurch mindern, daß Sie meine Sachen spielen? Ich sehe das natürlich ein. Bitte, betrachten Sie die Angelegenheit so, als ob ich Ihnen nichts gesagt hätte.«

»Da kennen Sie mich aber schlecht, mein Freund. Ich gedenke Ihre Stücke zu spielen.«

Ehrlich entfernte sich verwundert und voller Dankbarkeit. Franzi setzte sich wieder an seine Arbeit. Er lebte sich in die Stimmung der Kaiserstadt hinein und bearbeitete Schubert-Melodien unter dem Titel » Soirée de Vienne«. Als er seine Konzerte beendet hatte, fuhr er nach Prag zu Berlioz. Dort hatte man dessen große Orchester-Komposition »Romeo und Julia« aufgeführt.

»Nun, und wie war es mit dem Rákóczi-Marsch?« erkundigte sich Franzi, als sie sich beim Wiedersehen umarmten.

»Fabelhaft gelungen! Von Ihren Landsleuten bin ich im übrigen entzückt, Franzi. Welche Liebenswürdigkeit und vornehme Haltung, welcher Schwung und welche Begeisterung! Meine Rákóczi-Bearbeitung hat einen Teil, das Schluß-Fortissimo, das bis jetzt noch niemand gehört hat. Als ich nämlich mit dem Orchester da angelangt war, war das Publikum schon außer sich und brach bei jeder nur möglichen Gelegenheit in solch einen Beifallssturm aus, daß das Orchester in dem Riesenlärm vollkommen unterging. Jedesmal mußte ich das Ganze von Anfang bis zum Ende noch einmal wiederholen. So ein Übermaß von Begeisterung habe ich noch nie erlebt. Graf Kasimir Batthyány hat das Vorführungsrecht für zweitausend Gulden für das Nationaltheater von mir erworben.«

»Das wundert mich nicht im geringsten. Ich habe auch immer einen so großen Erfolg mit diesem Marsch gehabt. Aber was ist denn los? Warum machen Sie so ein überraschtes Gesicht?«

»Ich habe nicht gewußt, daß Sie sich mit diesem Marsch auch schon beschäftig haben. Wenn das so ist, werde ich selbstverständlich die Veröffentlichung meiner Noten zurücknehmen. Der Vortritt gebührt Ihnen. Haben Sie Ihre Bearbeitung schon verlegen lassen?«

»Noch nicht, und ich werde es auch vor Ihnen nicht tun. Nehmen Sie doch diese geringe Zuvorkommenheit als Geschenk von mir an. Sagen wir: als Erwiderung auf die Liebenswürdigkeit, mit der Sie über meine Landsleute gesprochen haben.«

»Nein, Franzi, das geht nicht. Diese Noten werden Ihnen viel Geld einbringen. Das kann ich nicht annehmen.«

»Natürlich können Sie es annehmen, wenn ich es Ihnen anbiete! Nehmen Sie es entgegen, als ob ich Ihnen eine Blume schenkte, die Sie ins Knopfloch stecken. Später gebe ich auch meinen Marsch heraus.«

Und so geschah es. Berlioz zeigte sich erkenntlich und widmete Franzi sein großes Werk » Damnation de Faust«, das er zusammen mit dem Rákóczi-Marsch verlegen ließ. Die beiden guten Freunde kamen sich in Prag noch näher. Sie debattierten unausgesetzt und zechten auch ganz gehörig. Auch ein nächtliches Straßenerlebnis hatten sie gemeinsam: als sie in der Nacht um ein Uhr nach Hause gingen, geriet Franzi mit einem tschechischen Herrn in Streit. Er war in Sektstimmung und wollte sich gleich an Ort und Stelle duellieren. Schreiend verlangte er nach Pistolen. Zum Glück waren Berlioz und Belloni bei ihm, die ihn fortzerrten und im Wagen nach Hause brachten. Am anderen Tage blätterten sie aufgeregt in den Zeitungen, ob die tschechische Presse den Skandal aufgegriffen habe. Die Sache kam aber nicht ans Tageslicht.

»Warum trinken Sie soviel? Das ist doch nicht in Ordnung. Das müßten Sie sich unbedingt abgewöhnen.«

»Ich habe es mir erst in Rußland angewöhnt. Dort war es unmöglich, ohne Alkohol auszukommen. Man hat auch so gute Laune hinterher …«

»Aber daraus wird noch einmal ein Skandal entstehen wie damals in Bonn. Ist das Ihrer würdig?«

Franzi schwieg. Er war genau derselben Meinung wie sein Freund. Aber was nützte das alles, wenn er sich selbst nicht in der Gewalt hatte. Nach dem ersten Glas gab es kein Zurück mehr, und er war verloren. Das Trinken machte ihm ja gar keinen Spaß, nur der Rausch. Sein eigene Kraft langte nicht aus, um sich zu beherrschen. Wenn er mit sich zu Rate ging, fürchtete er sich schon vor den kommenden Ereignissen in Pest, ob er da nicht in eine unwürdige Situation geraten würde … Doch er schüttelte diese unangenehmen Gedanken alsbald von sich ab. Es kam ja doch alles, wie es kommen mußte. Vorerst war er noch in Wien und erlebte eine bisher noch nie gekannte Freude: er kam mit seinen Verwandten zusammen. Sein Onkel besuchte ihn, der aber jünger war als er selbst. Großvater Liszt war mehrfach verheiratet gewesen, und seine Ehen waren durchweg mit Kindern gesegnet. Im vorigen Sommer war er gestorben und die Nachricht von seinem Tode, die dem reisenden Künstler wochenlang von Stadt zu Stadt gefolgt war, ehe sie ihn erreichte, hatte ihn kaum bewegt. Er hatte den Großvater im Leben ja kaum gesehen. Sie wechselten nie Briefe miteinander, und er konnte sich in keiner Weise an ihn erinnern. Der Großvater hatte nicht weniger als siebenundzwanzig Kinder. Franzi hatte also sechsundzwanzig Onkel und Tanten, und wenn auch inzwischen schon viele von ihnen gestorben waren, so lebte immer noch eine ganze Anzahl. Er kannte aber keinen einzigen von ihnen. Einmal wollte sein Vater seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu einem Uhrmachermeister wieder aufleben lassen. Der empfing sie aber so kalt, daß ihnen auch die Lust an den anderen verging. Doch nun meldete sich Eduard, der jüngste, von selbst. Er war ein Mann von tadellosem Äußeren und gutem Benehmen, und in der Unterhaltung erwies er sich auch als sehr gescheiter Mensch. Er hatte die juristische Laufbahn gewählt, und alles deutete darauf hin, daß er eine schöne Karriere machen würde.

Das Auftauchen dieses lieben Verwandten war für Franzi, was die Quelle für den Durstenden ist. Die verwandtschaftlichen Gefühle sind mit der Liebe eng verwandt: in den Verwandten lieben wir unser eigenes Blut. Dieser Eduard Liszt war ein sehr begabter Mensch von gewinnendem Wesen und untadeligem Auftreten. Franzi schloß ihn sofort in sein Herz und räumte ihm unter seinen Freunden den ersten Platz ein. Er liebte in ihm besonders das Familienmitglied, das stolz auf ihn war, und zu diesem Stolz war jetzt reichlich Gelegenheit gegeben. Die Konzerte in Wien hatten unbeschreiblichen Erfolg, und nach einem Konzert am Hofe, bei dem auch das kaiserliche Paar huldvollst Beifall gespendet hatte, überreichte ihm der Flügeladjutant Seiner Majestät eine Nadel mit dem in Brillanten ausgelegten Monogramm Kaiser Ferdinands. In diesem Konzert dirigierte Benedikt Randhartinger, der alte Freund, mit dem er zusammen bei Salieri gelernt und der ihm einst den Handstand beigebracht hatte. Jetzt war er schon ein sehr ernster Herr und zweiter Dirigent des Hof-Orchesters.

Endlich kam der lang erwartete Tag der Budapester Reise heran, auf den er ebenso sehnsüchtig gewartet hatte wie ein Kind auf Weihnachten, obwohl jetzt nicht Dezember, sondern blühender Frühling war. Bei Waitzen erwartete ihn eine stolze Abordnung der Nation: zwei Dampfer waren ihm entgegengefahren, bis zum letzten Platz besetzt mit Magnaten, hohen Beamten und deren Frauen. Von Waitzen bis Pest hätte man ihn fast entzwei gerissen, jeder wollte ihn aus der Nähe betrachten, jeder wollte wenigstens zwei Worte mit ihm wechseln, jeder wollte zumindest seine Kleider berühren wie ein wundertätiges Standbild.

Als der Dampfer in Pest angelegt hatte, bestieg eine Abordnung in ungarischer Galatracht unter lautem Sporengeklirr das Schiff. An der Spitze der Herren ein alter Bekannter, Graf Stephan Széchenyi. Er blieb vor ihm stehen und begrüßte ihn in französischer Sprache im Namen der ungarischen Nation, die mit Begeisterung und Liebe bereit sei, ihn an die Brust zu drücken. Als die Ansprache beendet war und der Redner die Hände des in ungarische Gala gekleideten Künstlers in den seinen hielt, brachen die Gäste der beiden Dampfer in schmetternde »Eljen«-Rufe aus. Die vielen Tausende der am Ufer Wartenden erwiderten diese »Eljen«-Rufe. Die Studenten der juristischen Fakultät zückten die Säbel und schrien ebenfalls aus Leibeskräften.

Die bereitstehende Galakutsche war gleichfalls von lauter Bekannten umringt: Festetics, Fay, Angusz, Esterházy, Zichy und viele andere. In der Galakutsche nahm Graf Széchenyi neben ihm Platz.

»Ich lasse Ihnen nicht einmal soviel Zeit«, sagte der Graf, »sich Ihr Zimmer im Hotel ›Zur Königin von England‹ anzusehen. Sie müssen zuvor meine Brücke bewundern.«

Sie fuhren den Donau-Kai entlang. Schon von weitem konnte man die beiden mächtigen Pfeiler sehen, die wie zwei Türme aus der Donau emporragten. Ein dichtes Holzgerüst umgab die Pfeiler, und dort, wo sie ins Wasser ragten, schwamm ringsherum eine ganze Schar kleiner Flöße, Kähne und Dampfer, mit Arbeitern und Maschinen beladen. Am Pester Ufer beförderten Hunderte von Arbeitern die Erde in Schubkarren, und dasselbe Gewimmel war drüben in Ofen am Fuße des Festungsberges. Franzi wandte sich begeistert an Széchényi:

»Ich beglückwünsche Sie! Das ist großartig! Diese Brücke ist eine ganz große Tat.«

»Mehr als das«, verbesserte der Graf, »diese Brücke ist Geschichte.«

»Mein Gott«, rief Franzi aufgeregt, »auch ich … auch ich will so etwas zustande bringen.«

»Was wollen Sie zustande bringen?«

»Ich will eine Musik-Akademie in Pest errichten. Ich werde es schaffen! Sie werden sehen, Graf, daß die Akademie zustande kommt!«

Die Kutsche bog vom Ufer ab und fuhr zum Hotel »Zur Königin von England«. Vor dem Eingang eine »Eljen« rufende Menge. In den schon vorgerichteten Wohnräumen sehr viel Blumen und eine ganze Reihe von Geschenken. Bücher mit Widmungen, hauptsächlich aber Noten, fast alle mit der Hand geschrieben, prunkvoll vergoldet oder in die Nationalfarben gebunden. Eine Unzahl von Erinnerungsgegenständen, darunter einfache hölzerne Feldflaschen und Streitbeile mit Tulpen bemalt. Draußen ununterbrochen »Eljen«-Rufe. Ein vornehmer Gast nach dem anderen. Dann Fackelzug mit Orchester. Franz Erkel dirigierte persönlich seine Hunyadi-Ouvertüre.

»Wir haben auch schon eine National-Oper«, flüsterte ihm Leo Festetics stolz ins Ohr, als sie mit entblößtem Haupte am Fenster standen, »vor zwei Jahren wurde sie uraufgeführt, wir können uns aber bis heute noch nicht satt daran hören.«

»Ja, ich weiß, die Angelegenheit interessiert mich sehr. Ich will unter allen Umständen die ganze Oper anhören.«

»Haben Sie keine Lust, auch eine zu komponieren, Meister? Das wäre doch eine ganz große Sache. Die ganze Welt würde hierher schauen bei der Uraufführung.«

»Ja freilich, ich habe auch schon daran gedacht. Man müßte ein gutes Textbuch haben.«

Ansprachen, nicht enden wollende »Eljen«-Rufe. Gala-Bankett. Abermals Ansprachen. Beisammensein bis zum Morgengrauen. Klingende fröhliche Zigeunermusik. Am anderen Tage hunderterlei Arten der Verehrung. Eine lange Ausfahrt mit Stephan Széchenyi, eingehende Besichtigung des Baues der Kettenbrücke und der neuen Schiffswerft. Mittagessen bei Széchenyi. Die wunderschöne Gräfin Crescencia. Ein Konzert mit den ungarischen Rhapsodien in der Redonte. Tobender Beifall. Gala-Bankett. Ein Ausflug zur »schönen Hirtin«, große Gesellschaft der Aristokraten, die Hausfrau ist Gräfin Georg Károlyi. Abendessen bei der Baronin Wenckheim. Fackelzug. Konzert. Rákóczi-Marsch, Himmel und Erde erschütternder Beifall. Konzert des Künstlers Rozsavölgyi, entzückende ungarische Melodien. Abendesten im »Pesti Kör«, die Festrede hält Graf Ladislaus Teleki. Ein Schauspieler namens Gabriel Egressy deklamiert die Ode des großen ungarischen Dichters Michael Vörösmarty, die dieser schon vor Jahren geschrieben hat. Die Dichter Lisznyay und Garay erscheinen gleichfalls mit Festgedichten. Die Zeitungen überbieten sich gegenseitig in Lobpreisungen. Ein großes Fest, der Meister wird mit einem Lorbeerkranz aus gehämmertem Golde geschmückt. Abermals Fackelzug mit Musik, abermals Konzert. Er muß eine Ansprache ans Volk halten. Er stellt sich auf den Balkon und ruft die ungarischen Worte, die er sich hat aufschreiben lassen und die er sorgfältig eingeübt hat:

»Es leben die Pester Bürger!«

Stürmischer, beglückter Jubel. Die Zeitungen veröffentlichen seinen in ungarischer Sprache an Baron Josef Eötvös gerichteten Brief, den er nach dem Konzept des Baron Augusz eigenhändig abgeschrieben hat, und in dem er dem Kultusminister für die Zwecke einer in Budapest zu gründenden ungarischen Musik-Akademie einen weiteren großen Betrag zu dem schon vor sechs Jahren gestifteten Betrag anbietet. Im Nationaltheater ist »Hunyadi« auf dem Spielplan nicht vorgesehen. Ihnen zuliebe führt man an einem Mittwochvormittag das ganze Stück auf. Erkel, der Komponist, nimmt erfreut den Glückwunsch entgegen, die Musik sei außerordentlich interessant und talentvoll, es sei eine ohne Überlieferungen aus dem Nichts geschaffene, stark ungarische Opernmusik, überraschend neu und erregend. Und wieder ein Festmahl, die Hauptstadt wählt ihn zum Ehrenbürger, abermals Fackelzug mit Musik, Rausch, himmelstürmende Begeisterung, eine traumhaft ineinanderfließende Bilderreihe der nationalen Verbundenheit, die den Tag zur Nacht und die Nacht zum Tage macht …

Und in all den Glanz und Trubel hinein fällt plötzlich ein Buch aus den Wolken. Ein Bekannter bringt es aus Paris mit, es ist vor kurzem erschienen. Der Titel: »Nelida«. Der Autor: Daniel Stern. Ein umfangreicher Band. Marie hat einen Roman geschrieben.

Er las ihn in einem Atemzug. Abends beim Schlafengehen schlug er das Buch auf, um einige Seiten daraus zu lesen. Er konnte es aber nicht wieder aus der Hand legen, denn schon auf den ersten Seiten erkannte er, daß das Bach die Geschichte einer großen Liebe behandelte, deren Heldin eine Aristokratin und deren Held ein Künstler war. Marie hatte also einen Schlüsselroman verfaßt. Stark unter dem Einfluß George Sands. Er las schnell, verschlang gierig die Zeilen. Es wurde heller Morgen, als er endlich fertig war.

Die Heldin, mit ihrem Mädchennamen Nélida de la Thienllaye, verehelichte Mme. Timoléon de Kervaëns, der Held Guermann Régnier, ein Maler bürgerlicher Herkunft. Sie lernten sich kennen, verlieben sich ineinander und gehören sich an. Der Maler ist bis Seite einhundertsechsundvierzig das hinreißende Ebenbild eines Feuergeistes, auf Seite einhundertsiebenundvierzig wird aus ihm mit einem Male ein schmutziger Geselle, ein minderwertiges Individuum, das auf niederträchtigste Art die erhabene und edle Nélida betrügt. Er erhält auch seine ihm gebührende Strafe, weil er die bewunderungswürdig großartige und vollkommene Dame so häßlich und pöbelhaft behandelt, obwohl diese auf jeder zweiten Seite des Buches immer neue einschneidende Opfer für ihn gebracht hat: er stirbt an Gewissensbissen.

Marie sandte ihm eine Botschaft aus der Vergangenheit. Eine wehleidige, jammervolle Botschaft. Daß sie ein schlechtes Buch geschrieben hatte, ein unzulängliches, das Minderwertigste vom Minderwertigen, das wäre noch nicht so schlimm gewesen. Keiner hat ja die Pflicht, eia guter Schriftsteller zu sein. Aber entsetzlich abstoßend wirkte die hohle, gewaltsame egoistische Eitelkeit, mit der die Autorin sich als eine auf die Erde herniedergestiegene Fee schilderte, als wunderschöne Frau, unglaublich gescheit, märtyrerhaft heilig, majestätisch vornehm und schneeweiß. Nicht die in dem Schmöker erzählte Geschichte regte ihn auf, sondern diese Marie, die ihm auf jeder Seite des Buches aus der Vergangenheit wieder gegenüber trat. Das hatte er also geliebt, diese auf das Niveau der Kolportageromane gefundene Phantasie, diese maßlose Überheblichkeit, diese beschränkte Lebensanschauung und Gefühlsarmut? Diese sich selbst vergötternde Puppe gebar ihm seine Kinder?

Seit ihrer Trennung hatte ihm sein Gewissen keine Ruhe gelassen. Schließlich war er ja doch der Mann, er war dafür verantwortlich, daß er das Lebensschiff dieser Frau in eine ganz andere Richtung getrieben hatte … Dieses Buch aber verjagte in einer einzigen Nacht alle seine Gewissensbisse so spurlos, wie der Hauch auf einer Fensterscheibe verschwindet. Seine Liebe war längst gestorben, die Erinnerung seiner Liebe hatte aber noch im geheimen in ihm fortgelebt. Und ab und zu – er leugnete es umsonst – war sie zurückgekommen, um ihn von neuem zu versuchen. Dieses Buch aber tötete jetzt auch die Erinnerung an die alte Liebe. Grinsend zeigte es ihm die Kehrseite seiner Erlebnisse und bewies dem verblüfften Leser, daß das, was er für Liebe gehalten, nie wirkliche Liebe war. Marie hatte ihm zehn Jahre ihres Lebens geschenkt. Nélida vergiftete nachträglich jede Sekunde dieser zehn Jahre …

Das Buch glitt von der Decke herab und fiel neben dem Bett auf den Fußboden. Er hob es nicht auf. Er strich seine blonde Mähne nach hinten, stand auf und sah zum Fenster hinaus. Drunten begann das Pester Leben zu erwachen. Vereinzelte Fußgänger klapperten den bepflasterten Bürgersteig entlang, schwäbische Frauen schleppten Körbe, ein Mietwagen bog im langsamen Trott um die Ecke, auf dem Bock saß mit schläfrig pendelndem Kopf der Kutscher. Mit sieghaftem Glanz beschien die Sonne die eine Seite der Häuserreihen. Es war Frühling, ein wunderschöner, frischer Pester Frühling. Franzi schlüpfte in den Morgenrock und öffnete das Fenster. Nachdem er die ganze Nacht gelesen hatte, tat die frische Luft seinen müden und brennenden Augen wohl. Er war erschöpft, in der Seele zerquält und trotzdem erleichtert. Er summte vor sich hin. Er wußte selbst nicht warum, sein eigenes Lied verirrte sich in dieses Summen. O lieb', solang' du lieben kannst … O ja, er konnte noch lieben. Aber wen? Wo im geheimnisvollen Schoß der Zukunft ist dieses weibliche Wesen, das sich mit ihm zusammen in Weimar niederläßt und sein Gefährte bei der Arbeit wird, bis er von dort aus die große Aufgabe seines Lebens erfüllt hat, – die neue Musik Europas? Vielleicht findet er nie eine Frau … Vielleicht findet er eine, und wenn er eine Gefährtin gefunden hat, wird es entweder Glück oder Unglück bedeuten … Jetzt ist er fünfunddreißig Jahre alt. Wie lange wird er überhaupt noch leben? Es wäre gut, wenn er noch recht lange leben könnte, denn er hat noch sehr, sehr viele Pläne, von denen es ihm bisher noch nicht gelang, auch nur einen einzigen zu verwirklichen.

Er wandte sich vom Fenster ab und setzte sich ans Klavier. Ganz leise schlug er einen As-dur-Akkord an, um die Morgenstille des Hotels nicht zu stören, und begann das Lied zu spielen, kaum hörbar mit jenem hauchartigen Pianissimo, das außer ihm niemand auf der ganzen Welt hervorbringen konnte. Er spielte für die geheimnisvolle Frau seines künftigen Lebens, die er noch nicht kannte, die morgen oder in einem Jahr kommen würde …

Vielleicht kam sie auch nie.

*


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