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Sechzehntes Kapitel

Noch in Berlin stellte sich heraus, daß Graf Teleki den Fürsten Lichnowsky auch kannte und sie somit einen gemeinsamen guten Bekannten mehr hatten. Teleki hatte trotz seiner Jugend gemeinsam mit Lichnowsky an den Kämpfen des Don Carlos um die spanische Krone teilgenommen. Die gemeinsame Reise gestaltete Franzis Freundschaft mit Teleki noch inniger. Ihre Gespräche auf der endlosen Fahrt in der rüttelnden Postkutsche berührten alle Gebiete des Lebens, der Welt und der Seele, und das gab dieser Reise ihr ganz besonderes Gepräge. Am meisten unterhielten sie sich aber doch über die Zigeuner und über die ungarische Volksmusik. Franzi interessierte sich für nichts lebhafter als für diese beiden Dinge. Teleki hatte ein sehr lustiges und ausgelassenes Leben hinter sich. Auf seinem Erbgut weilten ständig kesselflickende und ziegelbrennende Zigeuner, die, wenn es erforderlich war, zu den Unterhaltungen der Herren Musik machten. Franzi ließ den Grafen in der Postkutsche stundenlang singen, er wollte jedes Lied kennenlernen. Und der Graf konnte noch so müde sein vom Singen, Franzi hatte immer nur eine Antwort: weiter, weiter!

Auf der Reise machten sie in all den Städten Halt, in denen der ihnen vorausgefahrene Belloni die Konzerte bereits vorbereitet hatte. In Königsberg wählte die Universität Franzi nach seinem Konzert zum Ehrendoktor. Der ungarische Staatsangehörige Franz Liszt wurde Ehrenbürger der deutschen Universität. Teleki war auf diese Urkunde fast stolzer als der Meister selbst. Konzerte in Mitau, Riga und Dorpat. Überall starker Erfolg. Und endlich, an einem frühen Märztage, kamen sie in St. Petersburg an. Noch ehe sie dort angelangt waren, hatten sie schon gelernt, daß die Hauptstadt Rußlands im Volksmunde einfach »Piter« heißt.

Piter lag noch im Schnee. Der bunte Wirrwarr der Paläste mit ihren europäischen Fassaden und die altrussischen Kirchen mit ihren zwiebelförmigen Kuppeln, das Schellengeklingel der Troiken, der ungewohnte Gesichtstyp der Bevölkerung, die vollständig unbekannte Sprache, die Popen mit ihrer röhrenförmigen Kopfbedeckung, die fremden Uniformen, die Aushängeschilder mit ihren zyrillischen Buchstaben, alles das erfüllte ihn mit dem Gefühl, daß er noch niemals in einer so fremden Welt gewesen war. Wenn er an der Preistafel einer Delikatessenhandlung das komische Wort » CAXAP« las, stellte sich heraus, daß diese zyrillischen Buchstaben »Sachar« ausgesprochen wurden und »Zucker« bedeuteten. Alles war anders als in Europa, alles überraschend farbig und reizvoll.

Seine erste Aufgabe war, sich bei dem Zaren zu einer Audienz zu melden. Die Audienz wurde ihm sofort gewährt. Nikolaus, der eiserne Zar, empfing ihn mit auffallender Zuvorkommenheit. Er ging ihm entgegen, reichte ihm die Hand und sagte:

»Ich freue mich außerordentlich, Sie auf russischem Boden begrüßen zu können. Die Zarin hat mir von Ihnen wahre Wunderdinge erzählt, und ähnliches schreibt auch meine Schwester, die Großherzogin von Weimar, und meine Nichte, die Kronprinzessin von Preußen.«

Franzi verneigte sich.

»Ihre Majestät und Ihre kaiserlichen Hoheiten sind mir gegenüber sehr nachsichtig.«

»Nein, nein, alle drei sind in musikalischen Angelegenheiten große Sachverständige. Ich bin eher Soldat. Nun, erzählen Sie mir von Weimar und Berlin. Wie geht es meinen Verwandten?«

Die Audienz zog sich ziemlich in die Länge. Als er von dem tyrannischen Vater aller Russen entlassen wurde, empfingen ihn die Kämmerer und die dekorierte Schar der Adjutanten in großer Aufregung. Man beglückwünschte ihn: die Audienzen der Künstler pflegten sonst nie so lange zu dauern. Eine ähnliche Auszeichnung wurde ihm von der Zarin Alexandra zuteil. Auch sie befragte ihn über die Verwandten, denn sie war die Schwester des Königs von Preußen. Diese Dynastien waren zwei- und dreifach untereinander verschwägert. Franzi wußte ganz genau über ihre verwickelten Verwandtschaften Bescheid, er kam oft mit den hohen Herrschaften zusammen und war auf diese Weise ein ausgezeichneter Unterhaltungspartner für sie, die sich gegenseitig nur wenig sahen und deshalb die Nachrichten über Mitglieder ihrer auseinandergerissenen Familie doppelt so hoch würdigten. Auch diese Audienz zog sich beträchtlich in die Länge.

»Sie sind ein gemachter Mann in Piter, mein lieber Freund«, sagte ihm einer der Höflinge, der Graf Wielhorsky.

Es war derselbe Graf Wielhorsky, in dessen Hause er in Rom die kühne Neuerung der selbständigen Konzerte eingeführt hatte. In dem Fürsten Galizyn durfte er ebenfalls einen alten Bekannten aus Rom begrüßen. Seine Einladungen überstürzten sich. Graf Benckendorff, der Polizeichef, Graf Woronzow-Daschkow, Fürst Jussupow und die Fürstin Belopolski wetteiferten miteinander, ihn bei sich zu sehen. Sowohl seine öffentlichen Konzerte als auch seine Konzerte am Hofe waren von hinreißendem Erfolg gekrönt. Er schwelgte in Geld und Verehrung. Das Geld streute er uneigennützig wie immer mit beiden Händen aus. Als die Nachricht von dem großen Hamburger Brande durch die Zeitungen lief, sandte er sofort fünfzigtausend Franken zur Unterstützung der Obdachlosen. Beim nächsten Hofkonzert redete ihn der Zar daraufhin an:

»Ich habe von Ihrem ritterlichen Geschenk gehört, lieber Liszt. Wenn Sie ein so opferbereiter Mann sind, so haben Sie dazu auch hier Gelegenheit. Wir wollen zugunsten der Invaliden der Schlacht von Borodino ein Konzert veranstalten. Ich würde mich freuen, wenn Sie in diesem Konzert mit auftreten würden.«

Er überlegte einen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf.

»Ich bedaure von ganzem Herzen, Majestät. Bisher verdanke ich meinen Ruf und meine Erziehung zum weitaus größten Teile den Franzosen. Und es ist mir ganz unmöglich, mich mit jenen zu identifizieren, die sie besiegt haben.«

Der Zar fuhr zusammen, erwiderte jedoch nichts und wandte sich ab. Nach dem Konzert zog ihn Fürst Galizyn beiseite.

»Es ist ein kleines Unglück geschehen, lieber Freund, der Zar grollt. Er bemerkte, zwei Sachen an Ihnen gefielen ihm nicht: Ihr Haar und Ihre Politik.«

»Das tut mir leid«, entgegnete er lächelnd, »mein Haar ist mir in Paris gewachsen und ich bin nur geneigt, es in Paris abschneiden zu lassen. Und Politik treibe ich auch nicht, weil ich keine Armee dazu habe.«

Ein großes Unglück entstand nicht daraus, der Hof lud ihn trotzdem wieder ein. Franzi fühlte sich sehr wohl. Er war oft mit dem vorzüglichen Klavierspieler Henselt zusammen, der die offizielle Seele des russischen Musiklebens war, und mit jenem Lenz, der ihn einst in Paris besucht und ihm die »Aufforderung zum Tanz« von Weber vorgespielt hatte. Mit allen diesen freundete sich auch Graf Teleki an. Als das Ende der schönen Petersburger Tage herankam, dachte Franzi schweren Herzens seufzend daran, daß er von den so süßen, so lyrischen, so stimmungs- und geheimnisvollen Küssen der russischen Frauen Abschied nehmen und in den unzufriedenen, lustlosen und mit Vorwürfen erfüllten Alltag Maries zurückkehren mußte.

Länger als ein halbes Jahr hatte er Marie nicht gesehen. Er fand eine ganz andere Frau wieder. Die alte Madame de Flavigny war gestorben, und Marie erhielt ein großes mütterliches Erbe. Sie richtete sich ein Haus ein und suchte sich einen Kreis. Ihr Salon wurde nach und nach in Paris anerkannt. Ihre alte Welt, die Aristokratie, blieb diesem Salon zwar fern, die Größen der literarischen und Künstlerwelt folgten aber gern ihrer Einladung. Marie nahm ihre schriftstellerische Tätigkeit immer ernster, hier und da erschienen bereits einige Artikel von Daniel Stern. Es war kein Geheimnis, daß sich in Franzis monatelanger Abwesenheit zahlreiche gefunden hatten, die sie trösteten. Franzi war darauf aber gar nicht neugierig. Wenn nur endlich jemand für immer die Last dieser Liebe von seinem Herzen nähme … Aber das geschah nicht. Diese Frau konnte mit einem jeden eine oberflächliche Liebelei anfangen, sobald aber der hervorragendste und berühmteste unter den Männern wieder auftauchte, waren sofort alle anderen Luft für sie, obwohl auch in ihrer Seele die Liebe schon längst gestorben war. Der große Liszt gehörte aber ihr, und diesen großen Liszt gab sie nicht her. Störrisch betrachtete sie ihn als ihr ewiges Eigentum.

Franzi wohnte jetzt nicht mehr mit Marie zusammen. Das hätte ja auch ihren Bestrebungen, die Anerkennung der Gesellschaft wiederzugewinnen, geschadet. Sie vereinbarten aber, wieder mit den Kindern nach Nonnenwerth zu fahren. In Paris dagegen sollte Marie für sich bleiben, während er zu seiner Mutter und den Kindern in die Rue Blanche zog.

Blandine war jetzt schon sieben, Cosima fünf und der kleine Daniel drei Jahre alt. Sie beteten ihre Großmutter an. Und Mutter Liszt pflegte und betreute sie mit jener unermüdlichen Hingabe, deren eben nur eine Mutter fähig ist. Sie erzog sie aber auch nach ihrer schlichten ländlichen Art. Ihr fehlte jede Anpassungsfähigkeit. Während ihr Sohn sich den vornehmen Kreisen angepaßt hatte, blieb sie auch jetzt noch in ihren Ansprüchen und ihrer Lebenshaltung die Tochter des Kremser Kurzwarenhändlers. Die beiden kleinen Töchter aßen sehr unmanierlich, Franzi schwieg dazu, um seine gute Mutter nicht zu verletzen, fühlte aber, daß es so nicht ganz in Ordnung war, daß er etwas unternehmen mußte. Er zerbrach sich auch den Kopf darüber, fand aber vorläufig keine Lösung. Das Fortbestehen seiner lockeren Verbindung mit Marie ließ ihn nicht klar sehen. So nahm er sich vor, erst dann etwas zu beschließen, wenn das Verhältnis geklärt sein würde.

Einer Regelung würden keine finanziellen Hindernisse im Wege stehen. Er hatte sehr viel Geld und wußte, daß er auch immer soviel haben würde, wie er nur wollte. Marie fiel ihm ja nun auch nicht mehr zur Last. Außerdem hatte er noch Aussicht, eine sehr vorteilhafte Stellung zu erhalten. Bei seinem letzten Londoner Besuch hatte man ihn gefragt, ob er nicht Lust habe, sich an die Spitze einer in London zu gründenden deutschen Oper zu stellen. Wenn in Paris eine italienische Oper gut bestehen konnte, so dürfte in London sicherlich auch eine deutsche gut bestehen können. Dieser Plan gefiel ihm. Es schien ihm eine schöne Aufgabe, ein mutiges, fortschrittliches Theater zu gründen und mit diesem für die Erneuerung der modernen Bühnenmusik zu kämpfen. Dieser alte Plan lebte jetzt wieder auf. Die Londoner Finanzgruppe war zustandegekommen. Ein Bevollmächtigter war bereits auf dem Kontinent gewesen und hatte deutsche Choristen engagiert. Die Choristen kamen auch in Paris mit ihren abgeschlossenen Verträgen in der Tasche zusammen. Aber gerade wie sie nach London abreisen wollten, traf die Nachricht ein, daß sich die Verhandlungen in der letzten Minute zerschlagen hätten, aus der Theatergründung würde nun nichts mehr werden. Die unglücklichen Choristen kamen scharenweise in die Rue Blanche. Sie flehten den um Hilfe an, der ihr Direktor geworden wäre. Franzi entfaltete eine rege Tätigkeit in der Gesellschaft, um zu ihrer Unterstützung ein Wohltätigkeitskonzert zustandezubringen. Eine deutsche Sache stand auf dem Spiele, Deutsche waren die Leidtragenden, also stellte er ein vorwiegend deutsches Programm zusammen und bereitete sich zu dem Konzert vor, für das ihm der mit dem französischen Adel verwandte steinreiche amerikanische Oberst Thorn den Musiksaal seines Schlosses zur Verfügung gestellt hatte.

Da wagte eine Zeitung einen heftigen Angriff. Wie konnte Liszt es wagen, in der französischen Hauptstadt zum Nachteil der französischen Musik die deutsche Musik so auffallend in den Vordergrund zu stellen? Was waren das für Lieder, die er in diesem Konzert durch den Chor vortragen lassen wollte? Wer war dieser Herwegh, dessen Gedichte er vertont hatte? Diesen Angriff wiederholten auch die anderen Zeitungen. Die Konzertfolge nannte tatsächlich zwei von Liszt vertonte Herweghsche Gedichte: »Rheinweinlied« und »Reiterlied«. Eine Zeitung verschaffte sich den Text der beiden Lieder und veröffentlichte mit triumphierendem Zorn eine Zeile des Rheinweinliedes: »Der Rhein soll deutsch verbleiben!« Ist denn das möglich? – fragten die Zeitungen. Kann in Paris jemand straflos franzosenfeindliche politische Agitation betreiben? Die Schutzherrinnen dieses Wohltätigkeitskonzertes, die Baronin Rotschild und die Gräfin D'Orsay wollten erschrocken von ihren Ehrenämtern zurücktreten. Aber Franzi blieb zäh und hartnäckig. Er antwortete nicht durch die Zeitungen, obwohl er sich darauf hätte beziehen können, wie anständig er sich dem Zar gegenüber benommen, als es sich tatsächlich um das französische Nationalempfinden gehandelt hatte, das er als Gast Frankreichs so großzügig wahrte. Das behielt er aber für sich. An der Konzertfolge änderte er nichts. Jedermann hatte vor einem peinlichen Skandal Angst, er nicht. Mochte es kommen, wie es kommen sollte. Und er behielt recht: die musikalische Schönheit der einzelnen Stücke riß alle mit sich. Die gekommen waren, um zu pfeifen und zu demonstrieren, spendeten den lautesten Beifall. Vom Reinverdienst erhielt jeder Chorist dreihundert Franken. Überschwenglicher Dank der Enttäuschten wurde ihm zuteil.

Kaum hatte er sich jedoch des Beisammenseins mit seinen alten Freunden Chopin, Berlioz und Hiller freuen können, da ging er schon wieder auf Reisen. Lüttich, ein großer Erfolg. Brüssel großer Erfolg, eine lange Audienz beim belgischen König Leopold, Leopoldsorden. Beifallsstürme, Liebesbriefe, andauernd neue Gesichter, Rennerei, Müdigkeit und Geld in Hülle und Fülle.

Den Sommer verbrachte er mit Marie und den Kindern, wie bisher, in Nonnenwerth. Die Freude an dem neuen Vergnügen, mit den Kleinen zu spielen und zu spaßen, verging ihm bald. Der des Familienlebens entwöhnte Vater und die das großstädtische Leben vermissende Mutter langweilten einander unendlich. Sie wußten nicht, worüber sie reden sollten, denn sie hatten keine gemeinsamen Interessen mehr. Franzi machte sich nichts aus den schriftstellerischen Versuchen der Frau, und sie nahm an der Musik des Mannes nicht teil, die sie nie wirklich verstanden hatte. Ganz selten, aus Höflichkeit, richteten sie gegenseitig einmal das Wort aneinander. Das Gespräch schleppte sich dann quälend langsam hin. Sie gaben es auch bald wieder auf. Wenn manchmal die Langweile, das Aufeinanderangewiesensein und der Wunsch, den Schein zu wahren, sie einander in die Arme trieb, schämten sie sich am nächsten Morgen, einander in die Augen zu sehen. Die herrliche kleine Insel im Rhein bedeutete für sie beide eine fürchterliche, marternde Leere.

Eines Abends, als Marie am Klavier vorbeiging, blieb sie mit gezwungener Anteilnahme stehen:

»Was komponieren Sie?«

»Ich vertone ein kleines deutsches Gedicht.«

Marie beugte sich über den Notenständer und las den Text.

»Ein schwaches Gedicht«, urteilte sie verachtungsvoll.

Franzi entgegnete nichts. In der einen Hand hielt er den Bleistift, die andere Hand lag auf den Tasten, schweigend arbeitete er weiter …


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