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Neuntes Kapitel

Das Glück des Paares unterschied sich in nichts von dem Jungvermählter. Nach verschiedenen Fahrtunterbrechungen ließen sie sich in Genf nieder, mieteten sich an einer Ecke der Rue Tabazan eine Wohnung und richteten sie ganz nach ihrem Geschmack ein. Geldsorgen quälten sie nicht; die Gräfin hatte aus ihrem eigenen Vermögen ein jährliches Einkommen von zwanzigtausend Franken, und Franzi brachte aus seinen Konzerten und den Verträgen mit den Musikverlegern soviel auf, daß er sich nicht abhängig zu fühlen brauchte. Als sie am ersten Tage, einem Augustmorgen, im Schlafzimmer der neueingerichteten Wohnung erwachten und sich aus den beiden benachbarten Betten anlachten, hatte Franzi das Gefühl, daß dies das vollkommene Glück sei. Sie sprangen zugleich aus dem Bett und eilten zum Fenster. Ein wunderbarer Ausblick auf den strahlenden herrlichen Gipfel des Mont Blanc!

Neben der neuen Wohnung nahm das Umherstreifen in der Stadt ihre ganze Zeit in Anspruch. Eine gierige Sehnsucht, alles zu sehen, alles kennen zu lernen, jagte Franzi, und auch Marie bekam das Spazierengehen sehr gut bei den mit ihrem Zustand verbundenen häufigen Beschwerden. Sie bestiegen die auf die Höhen führenden Straßen, sie suchten das Haus, das die Erinnerungen an Rousseau barg, oder wandelten am Ufer des Sees entlang und belustigten sich mit der Fütterung der gefräßigen Schwäne, – sie taten nur das, wozu sie gerade Lust hatten. Die Passanten bewunderten sie verblüfft, denn auch Marie war eine auffallende Erscheinung in dieser kleinen Stadt, wo sonst jedermann die vornehmen, schönen Frauen kannte. Und Franzi erregte erst recht großes Aufsehen mit seinem bis zu den Schultern reichenden blonden Haar. Es gab sogar Gaffer, die vor Erstaunen stehenblieben und sie von oben bis unten musterten. Zumeist wurde jedoch dem Manne, nicht der Frau, die größte Aufmerksamkeit zuteil. Die Erscheinung Franzis war, wenn man sich an seine lange Mähne gewöhnt hatte, viel vorteilhafter als die seiner Geliebten. Er näherte sich jetzt seinem vierundzwanzigsten Lebensjahre, sah aber kaum älter als zwanzig aus; die Nöte und Kämpfe der vergangenen Monate hatten Marie aber begreiflicherweise sehr mitgenommen, und obwohl sie erst dreißig Jahre alt war, konnte man sie ohne weiteres für fünfunddreißig halten.

Nur für Franzi war sie unverändert feenhaft schön, schöner als alle anderen, unvergleichlich, einzig! Er umgab sie mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, griff jeder ihrer Bewegungen vor und fing jeden Blick auf. In vielem erschien seine Geliebte für ihn ganz neu, seit er mit ihr zusammenwohnte. So sah er erst jetzt, wieviel Sorgen, Zeit und Geld die elegante Erscheinung Maries in Anspruch nahm. Wenn sie ausgehen wollten, konnte Marie nicht schneller als in anderthalb Stunden fertig werden. Die Pflege ihres Haares, die abends beim Schlafengehen mit dem Lösen der goldblonden Fülle begann, sich in sorgfältigem Kämmen fortsetzte und im Einflechten für die Nacht endete, war eine regelrechte Zeremonie, die mindestens eine Stunde in Anspruch nahm. Und wie sachverständig und empfindlich sie in bezug auf die Speisen war! Sie war gewöhnt, nicht viel, aber vielerlei zu essen. Sie hatte einen ausgezeichneten Geschmack für die Speisen, aber erst wenn sie bereits aufgetragen waren, die Zubereitung interessierte sie nicht, weil sie davon nichts verstand. Die Bequemlichkeit liebte sie über alle Maßen. Von Kindheit an war sie an die um sie herum lauernde vielköpfige Dienerschaft gewöhnt, und wenn sie irgendeinen Gegenstand, der ganz in ihrer Nähe lag, haben wollte, war sie zu bequem, auch nur aufzustehen und drei Schritte zu tun. Unwillkürlich suchte sie ab und zu die ihr vom Palais her gewohnte Tischglocke und besann sich oft erst nach langem, vergeblichem Suchen auf ihre neue Umgebung. Darüber lachten sie dann alle beide herzlich.

Langsam rundete sich das Bild ihres neuen Lebens ab. Franzi fragte Marie oft, ob sie glücklich sei und ob sie es sich so vorgestellt habe. Die Frau beantwortete solche Fragen mit seligem Lächeln. Aus Briefen der Freunde und von durchreisenden Bekannten erfuhren sie, daß ihr kühner Entschluß eine wahre gesellschaftliche Revolution verursacht hatte. Der unglaublichste Klatsch war im Umlauf. So hieß es zum Beispiel, Franzi hätte um Mitternacht den Küster von Notre Dame geweckt und von ihm die Schlüssel gefordert, um dem in seiner Begleitung befindlichen Manne etwas auf der Orgel vorzuspielen. Der Mann sei niemand anderes als die verkleidete Gräfin D'Agoult gewesen. In dieser Nacht seien sie geflüchtet, zuvor hätten sie aber noch Orgel spielen wollen … Nach einem anderen Gerücht hatte Franzi seine Geliebte, in dem Innern eines Klavieres verborgen, über die Grenze entführt … über solches Gerede konnten sie sich nicht genug belustigen. Es kamen ihnen aber auch Dinge zu Ohren, die sie sehr ernst stimmten. Maries Mutter hatte, von Basel heimkehrend, ausführlich darüber geschrieben, in welcher Weise sie die ganze Angelegenheit dem Grafen mitgeteilt habe. Der Graf hatte erschüttert, aber wortlos zugehört. Dann hatte er nur gesagt:

»Ich werde es zu ertragen versuchen.«

Mehr von dieser Sache zu reden, war er nicht geneigt. Die kleine Claire fühlte sich sehr wohl in einem Internat und weinte ihrer Mutter keine Träne nach. Die Fäden, die Marie mit ihrem früheren Heim verbanden, waren gerissen …

»Nur Sie sind mir geblieben, Franz«, sagte sie, ihn umarmend, »Sie sind mein Leben. Wenn ich mich einmal in Ihnen täuschen müßte, würde ich sterben.«

Franzi lachte und antwortete mit einem Kuß. In diesen Tagen war er fast immer guter Laune. Er fühlte sich erlöst, leicht und frei. Das neue Leben schien verheißungsvoll. Schon in den ersten Tagen meldeten sich neue Schüler. Die erste Schülerin war niemand anderes als die Frau des Grafen Miramont, desselben Grafen Miramont, um dessentwillen er bei jenem Besuch im Schloß der schönen Adèle solche herzzerreißende Qualen erduldet hatte. Auch den Grafen selbst lernte er kennen: die beiden Männer drückten sich mit betonter Liebenswürdigkeit die Hände und tasteten sich mit neugierigem Lächeln ab. Die zweite Schülerin war die Gräfin Maria Potocka, eine ihm durch Chopin zugeführte Bekannte, die sich hier in Genf niedergelassen hatte.

Von diesen Stunden erzählte er Marie mit großer Freude.

»Es wird, es wird! Morgen gebe ich der Gräfin Potocka die erste Stunde.«

»Wann kommt sie her?«

»Sie kommt nicht her. Ich gehe zu ihr. Der Gräfin Miramont gebe ich auch die Stunden nicht hier.«

Beide schwiegen. Sie wollten die heikle Frage nicht berühren. Sie wußten beide, daß es für Marie vorerst nicht ratsam war, mit den Damen der Gesellschaft zusammen zu kommen. Es waren immerhin Taktlosigkeiten zu befürchten. Klüger war es bestimmt, erst etwas Gras über die ganze Angelegenheit wachsen zu lassen, dann würde sich ihr Verhältnis zur Gesellschaft von selbst herausformen.

Franzi machte diese Frage große Sorgen, wenn er auch nicht darüber sprach. Um jeden Preis mußte er Gesellschaft für Marie suchen. Er hatte in Genf viele Bekannte, in erster Linie aber zwei Schüler, Pierre Wolff und Fräulein Boissier. Mit stürmischer Freude empfingen beide den weltberühmten Mann in ihrer Stadt. Franzi bemühte sich sehr behutsam, der Unterhaltung eine Wendung zu geben, die es irgendwie möglich machte, von Marie zu sprechen, sobald sich ein Anknüpfungspunkt bot. Wolff, der Junggeselle, nahm die Gelegenheit sofort wahr und bat um Erlaubnis, die Gräfin besuchen zu dürfen. Die Eltern von Valerie Boissier dagegen waren nicht so leicht zu gewinnen. Franzi verzagte nicht, obwohl er sich Tag für Tag aufs neue überzeugen mußte, daß das spießbürgerliche, kleinliche und sittenstrenge Genf für seine Ziele schlecht gewählt war. Er hoffte aber sehnsüchtig, daß es ihm doch noch gelingen würde, seiner Freundin, die jetzt wie ein gefangener Vogel in einem Käfig lebte, ein abwechslungsreicheres Leben bieten zu können. Es sah freilich nicht so aus, als sollten seine Bemühungen Erfolg haben. Ihn selbst lud man zwar wetteifernd überall ein, wenn er aber durch eine zögernde Zusage ahnen ließ, daß er auf Maries Begleitung Wert legte, nahm man die Einladung vorsichtig wieder zurück. Eine letzte Hoffnung blieb ihm noch: das Ehepaar Belgiojoso. Der Herzog Belgiojoso, ein Verwandter der Pariser Freundin Franzis, lebte mit seiner Frau in Genf als italienischer politischer Flüchtling. Er war ein auffallend schöner Mann und um seinen herrlichen Tenor konnte ihn jeder Sänger beneiden. Seine Frau befaßte sich jedoch mehr mit Politik als er. Die Herzogin organisierte andauernd italienische Freiheitsbewegungen und schrieb ein Flugblatt nach dem anderen gegen Italiens Zwingherren, die Österreicher. Sie vertrat derart krasse demokratische Ansichten, daß Franzis Anliegen aussichtsreich schien. Aber auch hier konnte er nichts erreichen. Die in ihrer Politik so demokratische Herzogin wurde mit einem Male betont höflich und frostig zugeknöpft, wenn die Rede auf ihren Salon kam.

So fand sich denn in der Wohnung in der Rue Tabazan zwar eine ständige Gesellschaft zusammen, die aber ausschließlich aus Männern bestand. Pierre Wolff war der erste und häufigste Gast. Auch Doktor Coindet kam öfters, ein namhafter Arzt, der Marie vor Jahren einmal bei einem Genfer Aufenthalt behandelt hatte. In ihrem Hause verkehrten ferner der Geschichtsforscher und Sprachgelehrte Simon de Sismondi, ein außerordentlich liebenswürdiger alter Herr, der Orientalist Alphonse Denis, James Fazy, ein sehr einflußreicher Beamter der Schweizerischen Landespolizei, und Edmond Boissier, der Bruder von Valerie. Und der Herzog Belgiojoso – ohne seine Frau. Alles hervorragend gebildete, interessante, geistvolle Männer, aber eben nur Männer. Und Marie, die mit der Gewandtheit der geistig hochstehenden Frau mit dem Geschichtsforscher über Geschichte, mit dem Orientalisten über den Orient, mit dem Schriftsteller über Literatur debattierte und ihren Geist an solchem Gedankenaustausch mit der größten Leidenschaft schärfte, fing allmählich schon an, über die Genfer Frauen boshafte Bemerkungen fallen zu lassen. Sie bemängelte ihre Kleidung und bespöttelte ihre spießbürgerlichen Gewohnheiten. Sie schätzte sich glücklich, daß sie mit »denen« nicht zusammen zu kommen brauchte. Aber Franzi wußte nur zu gut, daß die arme, verlassene Marie sich freudig beeilen würde, vor einer jeden von »denen« ihre Tür zu öffnen. So teilte nur der kleine Putzi die Einsamkeit mit ihr. Franzi hatte das Kind aus Paris nachkommen lassen und in seiner Wohnung untergebracht. Putzi trug jetzt auch schon bis zu den Schultern reichendes Haar wie sein Meister und war ein geweckter, unterhaltsamer, hübscher kleiner Bursche. Er brachte Marie mit seinen drolligen Reden und Streichen zwar zum Lachen, – aber die verlorene Gesellschaft konnte er ihr nicht ersetzen.

In der Genfer Abgeschlossenheit setzte Franzi die noch in Paris begonnene Reihe seiner Aufsätze »Über die Stellung der Künstler« für die » Gazette Musicale« fort. Die ersten drei Abschnitte brachte die Zeitung bereits, wie zugesagt, im Frühjahr. Jetzt schickte er nacheinander die folgenden drei ein. Im vierten Abschnitt rannte er leidenschaftlich gegen jene Schriftsteller an, die seinen bisherigen Veröffentlichungen barsch begegnet waren und ihm Übertreibungen, taktlose Fragenstellerei, rechthaberische Aufwiegelung eingebildeter talentloser Neuerer vorgeworfen. Er drückte kräftig auf die Feder, aus der die Sätze dann auch flossen, wie sie ein geborener Journalist nicht besser hätte formen können. »Kann man von Übertreibung sprechen, wenn es Tatsache ist, daß der wahren Kunst keine Anerkennung gezollt wird? Sehen Sie sich doch zum Beispiel Berlioz an, diesen Feuergeist der Musik, dessen Berufung zweifelsfrei ist! Seine › Francs Juges‹ betitelte Oper hat er inzwischen beendet und findet kein Theater in Paris, das sie aufzuführen wagt.« Der in Schwung geratene Schriftsteller prangerte nacheinander die Pariser Direktoren an, die »nicht gewillt waren zu experimentieren«, und wusch gründlich das Weihwasser von ihnen ab. Im fünften Abschnitt, den er als den Kern der gesamten Studie ansah, schälte er Punkt für Punkt die grundsätzlichen Fehler der Pariser Musikwelt heraus. Er begann beim Konservatorium und erzählte, wie er einst als Knabe von Cherubini abgewiesen worden war. Er beleuchtete die Fehler der Unterrichtsmethoden, die vollkommene Ziellosigkeit in der Arbeit dieses Institutes und geißelte die Mängel des Lehrplanes, daß zum Beispiel die Schüler weder in Musikgeschichte, noch in Musikliteratur und Musikästhetik unterrichtet würden. Er zog dann gegen die musikalischen Veranstaltungen zu Felde, die unter einer berechnenden kaufmännischen Leitung der Zuhörerschaft lediglich marktschreierische Wertlosigkeiten vorsetzten. In den seltenen klassischen Darbietungen seien die Meisterwerke der Großen auf ein Drittel ihres wahren Umfanges verkürzt. Die Philharmonischen Gesellschaften von Paris und ganz Frankreich seien unzulänglich und unfähig. Im ganzen Lande könne man nirgends ein vollkommenes Orchester finden. Für die Konzerte gäbe es keinen geeigneten Saal in Paris, nur einen einzigen, und den hielte eine Clique fest in der Hand, damit in den guten Monaten ja kein anderer auch nur zu einem einzigen Abend kommen könne. Der Musikunterricht sei jämmerlich. Unglaublich Unfähige wagten zu unterrichten und unglaublich Unwissende wagten zu kritisieren. Und endlich, im sechsten Abschnitt, stellte er die Forderungen für ein wahres, fruchtbares und lebendiges Musikleben auf.

Der Verleger der » Gazette Musicale« veröffentlichte die sechs Aufsätze wortgetreu, obwohl sie in einem außerordentlich scharfen und herausfordernden Ton geschrieben waren. Franzi war diese Arbeit genau so lieb geworden wie das Komponieren. Er komponierte aber daneben auch. Was er von dem Wechsel seiner Umgebung erwartet hatte, war eingetroffen: die Phantasie, die schöpferische Kraft des Tondichters, regte sich ganz gewaltig. In diesen Tagen behandelte er mit Vorliebe lyrische oder naturalistische Themen. Der Anblick einer malerischen Kapelle, das Erlebnis einer nächtlichen Kahnfahrt, ein Gebirgsgewitter, – alles wurde in ihm von selbst zu Musik. Wenn er sich an sein Erard-Klavier mit den Elfenbeintasten setzte, verspürte er die trunkene Seligkeit eines im unendlichen Meere schwimmenden Fisches. Und ob er Artikel schrieb, ob er Musikstücke komponierte, alles brachte er sofort zu Marie, las ihr den Artikel oder spielte ihr das Musikstück vor. Sie hörte aufmerksam zu, machte auch hin und wieder eine überkluge Bemerkung, die Franzi stets mit höflicher Überlegenheit zur Kenntnis nahm, aber über allen musikpolitischen und tondichterischen Ereignissen schwebte ein Schreckgespenst vor Marie: die Langeweile, das jeglicher Zerstreuung beraubte, trüber Eintönigkeit ausgelieferte Dasein einer aus der Gesellschaft ausgestoßenen Frau.

Im Spätherbst veranstaltete die Herzogin Belgiojoso ein Wohltätigkeitskonzert. Hierzu wurde auch Franzi gebeten. Marie – es war drei Monate vor der sehnsüchtig erwarteten Ankunft ihres Kindes – nahm in einer der besten Logen Platz. Sie erschien in einem blendenden Abendkleid und hatte ihren ganzen Schmuck angelegt. Aller Augen wären sicherlich nur auf ihre Person gerichtet gewesen, wenn der Zuschauerraum nicht noch einen sehr interessanten Gast beherbergt hätte. Jêrome Bonaparte, der Exkönig von Westfalen, war gleichfalls anwesend, und weil Monarchen in republikanischen Staaten sich stets großer Anziehungskraft erfreuen, schenkten die Genfer dem Exkönig mehr Beachtung, als der Heldin des berühmten Liebesskandals. Neben dem ehemaligen König von Westfalen saß seine Tochter, die vornehme und sanfte Mathilde, die gleichfalls die sonst der Gräfin D'Agoult zugefallene Aufmerksamkeit auf sich ablenkte. Franzi, der zum ersten Male in Genf spielte, errang einen Riesenerfolg. Viele erhoben sich von ihren Plätzen, um dem Wundermann begeisterten Beifall zu spenden. Das sittenstrenge protestantische Genfer Publikum zeigte ihm, dem Mann gegenüber, eine milde Nachsicht, die es seiner Geliebten nicht zuteil werden ließ.

Sobald es ihm möglich war, eilte er zu ihr in die Loge. Hinter dem liebenswürdigen Lächeln der Frau sah er ein Wetterleuchten aufgehen.

»Hat man Sie diesem Bonaparte vorgestellt?«

»Ja. Noch vor dem Konzert ließ er mich bitten. Er wie seine Tochter waren sehr liebenswürdig zu mir.«

»Das hatte ich nicht anders erwartet. Trotzdem freue ich mich, daß die Reihe nicht mehr an mich kommt. Wenn ich mit meinem Manne hier wäre, würde sich dieser unrechtmäßige Machthaber beeilen, meine Bekanntschaft zu machen, und das wäre mir sehr peinlich. Gott sei Dank, daß das nicht in Frage kommt.«

Franzi legte seine Hand auf die Hand der Geliebten. Er verstand nur zu gut, was in dieser schönen Frau vorging, die gewöhnt war, am Hofe empfangen zu werden, die den ihrem Range zukommenden Platz an der Tafel der Bourbonen ganz genau kannte, die die ganze Zeit ihrer Ehe im Hochmut des Legitimismus verbracht hatte und die sich jetzt, angesichts des Glorienscheines, der hier die Loge der »unrechtmäßigen Machthaberfamilie« umstrahlte, wie ein Niemand vorkommen mußte. Wolff und der kleine Putzi teilten die Loge mit ihr …

Als sie sich am anderen Morgen erhoben, bemerkte Franzi, daß Maries Kopfkissen naß war. Sie hatte also die ganze Nacht geweint. Er erwähnte kein Wort davon, um den Schmerz nicht noch größer zu machen, und hoffte im stillen, daß die Zeit die Wunde schon heilen würde. Bei dem Gedanken, wieviel leichter sein Schicksal als das seiner Geliebten war, plagten ihn Gewissensbisse. Er hatte seinen Beruf, der ihn beschäftigte, und dann war er auch ein Mann, dem alles erlaubt war, Marie dagegen war viel allein, und Genf wollte nichts von ihr wissen. Ihre Lage verbesserte sich nicht, während die seine immer spannender und angenehmer wurde.

In Genf hatte man erst vor kurzem eine Musikschule gegründet. Ein vermögender Musikschwärmer namens Bartholoni hatte sich solange dafür eingesetzt, bis das Kasino Saint-Pierre endlich der Schule zur Verfügung gestellt wurde. Die Gründungskommission beriet in einer der Eröffnung vorangehenden Sitzung über das großherzige Angebot des Genfer Einwohners, Franz Liszt, die Ausbildung einiger fortgeschrittener Schüler im Klavierfach unentgeltlich zu übernehmen, ja auch ein Lehrbuch des Klavierunterrichts zu schreiben, dieses auf eigene Kosten zu verlegen und der Musikschule zu widmen. Die Kommission nahm dieses Angebot mit freudiger Genugtuung zur Kenntnis. Daraufhin trat Madame Henri, die ihrerseits für den Unterricht der Fortgeschrittenen vorgesehen war, von ihrem Posten sofort zurück. Als angestammte Genferin war sie nicht geneigt, neben dem berühmten Ankömmling die zweite Geige zu spielen. Der andere Klavierlehrer aber dankte nicht ab, er freute sich im Gegenteil ganz außerordentlich, denn es war niemand anders als Pierre Wolff.

Franzi erhielt zehn Schüler zugeteilt. Darunter waren auch einige talentvolle, an denen er Gefallen fand. Bei manchen war allerdings jede Mühe umsonst. Zu deren Spiel nickte er wohlwollend und verschwendete keinerlei Bemerkungen an sie. Die Begabten aber nahm er tüchtig vor.

»Wackeln Sie nicht mit den Schultern, Fräulein. Halten Sie Ihren Arm ruhig. Spielen Sie doch nicht wieder mit den Schultern. Ich habe Sie doch nun schon oft darum ersucht.«

»So spielt man das Arpeggio nicht, Fräulein. Reißen Sie den letzten Ton plötzlich und heftig ab, dann wird er wie ein Harfenton klingen. So müssen Sie es machen. So. Sehen Sie?«

»Das ist nicht gut, Fräulein. Auch wenn ich nicht hinsehe, kann ich erraten, daß Sie diesen Ton mit dem Daumen angeschlagen haben. Das darf ich aber nicht erraten. Jeder Finger muß vollständig gleichmäßig anschlagen. Auch der vierte soll nicht schwächer anschlagen, als der dritte. Lassen Sie mich mal ans Klavier.«

So verfuhr er meistens, und wenn er sich dann erst einmal ans Klavier gesetzt hatte, stand er nur schwer wieder auf. Er spielte gerne vor den jungen Mädchen, die das Klavier dann sofort umzingelten und von denen diejenige am glücklichsten war, die ihn zufällig hatte streifen können. Während des Spieles erklärte er.

»Beobachten Sie diesen Bach. Es wird Ihnen sicherlich bekannt sein, was die Gotik in der Baukunst bedeutet. Dasselbe ist in der Musik eine Bach-Fuge. So wie die einzelnen Motive sich ineinander verflechten … nicht wahr?«

Er sah auf, – und das Gesicht, in das er blickte, verriet mit seiner schwärmerischen Röte statt musikalischer Aufmerksamkeit ganz etwas anderes. Diese kleinen und großen Mädchen waren samt und sonders in ihn verliebt. Manchmal erwischte er die eine oder die andere, wie sie ihm gerade einzelne kleine Gegenstände, seinen Bleistift oder einen abgeschnittenen Zigarrenstummel, stahlen und verbargen. Er tat so, als wenn er es gar nicht bemerkt hätte. Zu Hause unterhielt er Marie dann mit solchen kleinen, harmlosen Geschichten.

Marie wurde mit jedem Tag schwerfälliger und klagte fortwährend über Fußschmerzen. Sie war launenhaft und gereizt. Franzi begegnete ihr mit verständnisvoller Engelsgeduld. Sie hatten das Kleine zwar erst zu Neujahr erwartet, aber das kümmerte sich nicht um die Vorschriften anderer. Es kam früher an. Am 18. Dezember mußte das keuchende Dienstmädchen Franzi von der Straße zurückrufen, als er gerade in die Musikschule gehen wollte. Bald waren die Hebamme und der Arzt zur Stelle. Der Arzt erlaubte dem künftigen Vater lediglich, Maries heiße Hand zart zu küssen, dann schickte er ihn in die nächste Gastwirtschaft. Dort solle er warten und hier nicht im Wege stehen. Franzi wartete auch gehorsam, vor Aufregung zitternd, stundenlang. Er schickte Putzi nach Pictet und Sismondi und bat sie, ihm Gesellschaft zu leisten, denn allein glaubte er es nicht ertragen zu können. Nach zwei Stunden sprach der Arzt selber in der kleinen Gastwirtschaft vor:

»Gehen Sie nach Hause, Monsieur Liszt. Ein kleines Mädchen. Wunderbar schnell und glatt ist die ganze Sache vor sich gegangen. Gott sei Dank! Morgen komme ich wieder.«

Franzi sprang die Treppe hinauf wie eine Gemse. Schon im Vorzimmer vernahm er das Greinen des neugeborenen kleinen Mädchens. Marie lag blaß, aber mit einem glücklichen Lächeln im Bett. Neben ihr war die Amme an der Wiege um das Baby besorgt.

»Blandine!« sprach der Vater das erstemal im Leben seine Tochter an.

Schon lange vorher hatten sie beschlossen, daß es Daniel heißen sollte, wenn es ein Junge würde, und Blandine, wenn es ein Mädchen wäre. Den Namen hatte Franzi von einer Konzertreise aus Lyon mitgebracht. In Lyon war Blandine ein häufiger Name, und die Lyoner Bekannten hatten ihm erklärt, daß die heilige Blandina eine christliche Sklavin gewesen sei, die in Lyon den Märtyrertod starb. Der Name gefiel auch Marie, und so blieben sie dabei. Die kleine Heidin Blandine achtete gar nicht auf ihren Vater und schrie munter weiter. Der Vater trat zum Bett und kniete nieder. Er küßte der Mutter die Hand. Eine unendliche, überströmende Dankbarkeit schnürte seine Kehle zusammen, daß er nicht sprechen konnte.

»Sie haben noch niemals ein Neugeborenes gesehen«, sagte Marie mit schwacher Stimme, »Sie können deshalb auch nicht wissen, wie schön dieses Kind ist. Meistens sind die Säuglinge rot und häßlich. Sehen Sie sich aber unser Baby an, wie weiß und wie glatt es ist.«

Ach, es hätte aussehen können, wie es wollte, der junge Vater wäre von ihm genau so entzückt gewesen. Um jeden Preis wollte er die Kleine auf seinen Schoß nehmen, aber sowohl die Mutter als auch die Amme protestierten heftig dagegen. So mußte er sich damit begnügen, den Säugling nur stumm zu betrachten. Jede Einzelheit dieses neuen kleinen Stückchen Lebens war unaussprechlich fesselnd. Es waren aufregende Sehenswürdigkeiten, beim Baden und Einpudern zuzusehen, dabei zu stehen, wenn es in Windeln gepackt und wieder in das saubere Bettchen gelegt wurde. Und seiner gierigen Ernährung beizuwohnen, war ein Erlebnis. Es war sogar eine Freude, daß man in der Nacht seinetwegen nicht schlafen konnte. Die erste Tat des nach einer schlaflosen Nacht mit Kopfschmerzen erwachenden Vaters war, daß er die Wiege seines kleinen Mädchens dicht neben das Klavier zog. Er setzte sich und spielte seine eigenen Stücke nur für die Kleine. Allerdings mit wenig Erfolg, denn sie schrie auch dabei unveränderlich.

»Wenn Sie wüßten, Franzi, wie lieb Sie als Vater sind!«

Glücklich und verliebt sahen sie einander mit dem frohen Blick der jungen Elternwürde in die Augen. Dann begannen sie das Kindergesicht zu studieren, wem von ihnen beiden es ähnelte. Stundenlang besprachen sie die winzigsten Einzelheiten des süßen Gesichtchens und einigten sich endlich darüber, daß es ihnen beiden ähnlich sehe.

Am dritten Tage mußte man das Neugeborene beim Standesamt anmelden. Diesem Weg Franzis ging eine lange Besprechung voraus. Welchen Namen sollte man als Namen der Mutter angeben? Der Umstand, daß sie die Frau des Grafen D'Agoult war, mußte doch auf jeden Fall verschwiegen werden. Sie einigten sich auf einen Decknamen. Als Franzi gehen wollte, rief ihn Marie im letzten Augenblick nochmals zurück.

»Und noch eins … ich bin vierundzwanzig Jahre alt.«

Der Vater lächelte verzeihend und nickte. Unten erwarteten ihn die Zeugen. Nach einer Stunde kam er mit dem standesamtlichen Auszug zurück:

 

»Freitag, den 18. Dezember 1835, vormittags um zehn Uhr, kam in Genf Blandine Rachel zur Welt. Unehelich. Der Vater: Franz Liszt, Musikprofessor, vierundzwanzig Jahre und einen Monat alt, geboren in Raiding in Ungarn. Die Mutter: Cathérine-Adelaide Méran, Rentière, vierundzwanzig Jahre alt, geboren in Paris. Beide unverheiratet und Genfer Einwohner. Liszt erkennt von selbst und aus eigenem Willen die Vaterschaft des oben genannten Kindes an. Die Zeugen der Erklärung: Pierre-Etienne Wolff, Musikprofessor, fünfundzwanzig Jahre alt, und Jean-James Fazy, Grundbesitzer, sechsunddreißig Jahre alt, beide Genfer Einwohner. Ausgestellt in Genf am 21. Dezember 1835, nachmittags zwei Uhr. Golay, Standesbeamter. F. Liszt. J. J. Fazy. P. E. Wolff.«

 

»Zeigen Sie her«, Marie griff nach dem Blatt.

Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf das Papier und gab es sofort zurück.

»Vierundzwanzig. In Ordnung.«


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