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Fünfzehntes Kapitel

Die Arbeit entschädigte ihn für alles, obgleich er in der Hast und Unruhe seines Zigeunerlebens die Pläne, die eine große innerliche Vertiefung voraussetzten, nicht verwirklichen konnte: die Dante- und die Faust-Symphonie. Nur für kleinere Arbeiten blieben ihm Nerven und Zeit. Seine Schöpfungen der letzten Jahre aber umfaßten Bände. Er überarbeitete Melodien von Schubert und Mendelssohn. Wenn ihm ein Gedicht gefiel, vertonte er es, ab und zu setzte er lyrische Stimmungen in Töne um, und auf das Drängen der Verleger schuf er nacheinander seine Opernphantasien. Wo überall auf der weiten Welt ein Klavier erklang, da spielte man seine Phantasie über »Robert der Teufel«, »Der Jäger Abschied« und »Norma«. Die berühmten Opern fanden durch seine Klavierphantasien den Weg zum Publikum. Auf der einen Seite standen Donizetti, Weber, Rossini, Mozart und alle die anderen Größen, auf der anderen Seite stand die klavierspielende Menschheit, die Bürgerstöchter der norwegischen Kleinstadt, die Frau des Chicagoer Finanzkönigs, die Kinder des australischen Farmers, die englische Frau Oberst in Indien, Hunderttausende, Millionen sich nach Musik sehnender Gemüter. Und Franz Liszt war der geniale Vermittler. Er übertrug die orchestralen Gedanken der Opern in seine eigene Klaviersprache für die ganze Welt. Einst hatte er diese Arbeit über alle Maßen geliebt, denn diese Art der Verdolmetschung war ja eigentlich seine Erfindung, jetzt verachtete er sie und schüttelte diese Arbeiten überlegen aus dem Ärmel; er war Verträge eingegangen und mußte liefern.

Von seinem umfangreichen Notenmanuskript trennte er sich nie, er nahm es auch mit auf Reisen. Keiner konnte sich darin zurechtfinden außer ihm. Mit der Zeit hatte er es sich zu eigen gemacht, eine Arbeit, von der er etwas hielt, wegzulegen und ruhen zu lassen, um sie erst nach Monaten, ja sogar nach Jahren erneut vorzunehmen und mit klaren Augen zu feilen und zu verbessern, sie aber noch immer nicht aus der Hand zu geben. So bewahrte er eine Komposition auf, die er schon mit fünfzehn Jahren zu Papier gebracht hatte. Sein Vater hatte sie zwar damals unter den Etüden mit drucken lassen, aber er hatte sie inzwischen immer wieder vorgeholt, weil er das Gefühl hatte, daß darin viel mehr steckte, als für eine Etüde nötig war. Chopin hatte ihn nämlich mit der Mazeppa-Legende bekanntgemacht, mit der Gestalt des schönen, jungen Liebhabers, den der betrogene Gatte nackt auf den Rücken eines wilden Pferdes binden ließ. Sofort fiel ihm das stürmische, erregende Pulsieren seiner Etüde ein, das genau solche Stimmungen ausdrückte. Daraus hatte er vor vier Jahren den »Mazeppa« geschaffen, – vorerst jedoch wieder beiseite gelegt. Jetzt holte er ihn wieder hervor und schrieb das Ganze um. Der polnischen Erzählung nach sollten die Kosaken Mazeppa noch lebendig vom Pferde losgebunden und den erretteten Jüngling zu ihrem Führer erwählt haben. Deshalb ließ er die Komposition in einem brausenden, kraftvollen Kosakenmarsch ausklingen. Nun fand er die Arbeit zwar vollkommen, legte sie jedoch abermals beiseite, um sie gelegentlich einmal, in ruhigeren Zeiten, für Orchester zu instrumentieren.

Von seinen Kompositionen waren ihm zwei ungarische Stücke besonders lieb, die er daher auch bevorzugte, wenn er für sich allein spielte. Das eine war der »Heldenmarsch«, ein feuriger Marsch, den er aus ungarischen Motiven seiner Kindheitserinnerungen aufgebaut hatte, und das andere eine Rhapsodie, die klang, als ob er ein Zigeuner am Klavier wäre. Sie war ein aus ungarischen Motiven geflochtener Strauß. Als ob er jetzt nicht Paganini, sondern Bihari auf dem Klavier besiegen wollte. In Pest hatte er diese Rhapsodie oft vorgetragen, die Zuhörer konnten nicht genug davon bekommen. Das war eine Komposition, die er dort nie nur einmal zu Gehör bringen konnte, sondern mindestens zweimal spielen mußte, so stürmisch forderte der Beifall die Wiederholung. In der sommerlichen Stille der kleinen Insel Nonnenwerth spielte er sie oft für sich. Diese Musik war im Verein mit den unvergeßlichen Pester Erinnerungen sein Zaubertrank gegen die lähmende Eintönigkeit des Zusammenlebens mit Marie und ihre häufigen Streitigkeiten.

Aber auch sonst wurde diese Sommerfrische keine richtige Erholung für ihn. Vergebens hatte er seine Konzerte so zusammenzustellen versucht, daß ihm einige freie Wochen verblieben, es sollte nicht sein. Da drohte zum Beispiel der Kölner Domchor einzustürzen, und für die notwendigen Ausbesserungsarbeiten war noch nicht einmal genügend Geld vorhanden. Als er diese Nachricht las, meldete er sich sofort und kündigte ein Konzert zugunsten des Kölner Dombaues an. Er fuhr nach Köln, hinterließ einen großen Betrag für die Ausbesserungen am Dome und kehrte wieder auf die Insel zurück. Kurze Zeit darauf besuchte ihn eine Abordnung aus Aachen, um ihn ebenfalls für ein Konzert zu gewinnen. Diese Abordnung zählte mehrere hundert Menschen, die einen ganzen Dampfer füllten. Sie kamen abends mit Musik und Fackeln auf der Insel an. Marie stellte sich stolz neben ihrem Geliebten auf, an den man eine Rede richtete. Sie versammelte auch die drei Kinder um sich, die Aachener sollten ruhig das innige Glück bewundern, das sie diesem Halbgott schenkte. Und weil Bonn und Koblenz ebenfalls in der Nähe lagen, lud man ihn auch dorthin ein. Endlich war er gezwungen, auch nach Frankfurt zu fahren, weil der dortige Musikverein »Liederkranz« eine Mozart-Stiftung ins Leben rufen wollte und ihn um Hilfe bat. Derartige Bitten konnte er nie ablehnen. Er gab sogar den Frankfurtern noch ein zweites Konzert und schenkte den Erlös, an die tausend Gulden, in voller Höhe dem »Liederkranz«.

Den Herbst verbrachten sie gleichfalls auf Nonnenwerth. Lichnowsky kam zu Besuch. Sie unterhielten sich viel über Musik, die Menschheit, über Liebe und Kunst, saßen oft am Klavier, auf dem sich die zahlreichen Sendungen Chopins häuften. Seine letzten beiden Nokturnos kamen gerade am letzten Tage vor Franzis neuer Konzertreise an. Der Fürst und Belloni, der rührige Sekretär, begleiteten ihn.

»Wie lange sehe ich Sie nicht?« fragte Marie.

»Ich weiß noch nicht. Vielleicht bin ich im Frühjahr wieder in Paris.«

Wiederum fiel die Familie in drei Teile auseinander. Marie fuhr nach Paris zurück, um ihr eigenes Leben zu leben, die drei Kinder kamen zur Großmutter, und Franzi wanderte wieder auf der Landstraße der Welt.

Zuerst gab er in Kassel ein Konzert, dann besuchte er, einer alten Sehnsucht nachgehend, Weimar. Er hatte soviel von dieser kleinen Stadt gehört und Belloni ganz besonders ans Herz gelegt, darauf zu achten, daß Weimar in der Konzertrundreise nicht fehlen dürfe.

An einem lauen Novemberabend traf er in der Stadt Goethes und Schillers ein. Vorerst sah er in der Dunkelheit von der Stadt gar nichts, die Straßen waren kaum beleuchtet. Sie nahmen im »Russischen Hof« Wohnung. Der Fürst war sehr müde und legte sich zur Ruhe, Franzi aber wollte sofort alles sehen, was er noch sehen konnte. Vor allem wollte er im Speisesaal des Hotels zu Abend essen. Noch in der Tür erspähte er Schumann, Clara Wieck und einen fremden Herrn. Die Anwesenheit Schumanns überraschte ihn nicht, denn in ihrem Briefwechsel war bereits davon die Rede gewesen, sich in Weimar zu treffen. Der fremde Herr war ein Mitglied des Weimarer Hoftheaters, der Schauspieler Genast. An den benachbarten Tischen saßen typische Kleinstadtfiguren, Bürger von stattlichem Wuchse, die mit großen Zügen ihre Bierkrüge leerten und den an den Schnurrbärten hängengebliebenen Schaum schwungvoll nach beiden Seiten abwischten. Sie maßen den sonderbar aussehenden Ankömmling mit erstaunten Blicken. Der kleine Speisesaal war angefüllt mit dichtem Tabaksqualm.

»Sie werden schon sehnsüchtig hier erwartet, lieber Meister«, sagte der Schauspieler, »Ihre Konzerte werden bis zum letzten Platz gefüllt sein.«

»Ist das hiesige Publikum musikverständig? Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die einzelnen Städte untereinander ebenso verschieden sind, wie die Menschen.«

»Weiß Gott! Hier ist alles sehr zurückgegangen, seit Hummel gestorben ist. Wir könnten schon jemanden gebrauchen, der die ganze Sache in die Hand nimmt.«

»Ich habe schon einmal daran gedacht, mich hier niederzulassen. Leider kann ich es mir aber noch nicht erlauben. Das ist eigentlich sehr schade. Goethe war ein sehr gescheiter Mann, der wußte, wie ein Künstler leben muß. Sich in einem so stillen, lieben, kleinen Ort niederlassen, nur der Arbeit leben, sich innerlich vertiefen und schaffen. Das wäre auch für mich das Richtige. So aber irre ich in der Welt umher und komme nicht zur Ruhe. Was für ein Mensch ist der Großherzog?«

»Wir haben ihn sehr lieb. Ein sehr feiner, guter Mensch. Genau wie die Großherzogin, unsere Maria Pawlowna.«

»Maria Pawlowna? Russin?«

»Natürlich. Wußten Sie das nicht? Die Schwester des derzeitigen russischen Zaren, die Tochter des Zaren Paul. Keine alltägliche Frau. Eine begeisterte Musikschwärmerin. Sie hat selbst schon Verschiedenes komponiert. Na, Sie werden sie schon kennenlernen. In ganz Weimar erwartet sie den Meister wahrscheinlich am ungeduldigsten. Dem Gerede nach zu urteilen, das vom Hofe durchgesickert ist, soll sie große Pläne mit dem Meister vorhaben.«

»Mit mir?«

»Jawohl. Sie möchte Sie gerne hier behalten.«

»Das wird wohl schwer gehen. Aus geldlichen Gründen. Ich muß für eine große Familie sorgen und gebe selbst auch reichlich Geld aus. Das kann man in einer kleinen Stadt nicht verdienen. Und dann liegt in ganz Europa noch sehr viel Geld auf der Straße. Ich habe noch nicht einmal ganz Deutschland bereist, ganz zu schweigen von Rußland …«

Franzi fing zufällig einen Blick der schönen Clara auf. Die tiefschwarzen Augen hingen mit einem sonderbar gemischten Ausdruck an seinem Gesicht. Sie bewunderte in ihm den Weltberühmten, den Unerreichbaren, den Großen, – mit gebührender Achtung, aber auch mit hartem Neid. Sie hätte diese Weltberühmtheit, diese überwältigenden Erfolge und das viele Geld viel lieber ihrem angebeteten Robert gewünscht. In diesem Blick lag aber auch ein dem zauberhaften Mann, dem kraftvollen Löwen geltendes Leuchten, unterdrückte Anerkennung und zugleich Angst der treuen Braut, etwas wie Haß gegen den, der ihre reine Liebe anzutasten wagte. Franzi unterhielt sich weiter, achtete aber kaum mehr darauf, was er sagte. Er beschloß, auf der Hut zu sein. Das fehlte gerade noch, daß er das Glück dieses leidenschaftlich verliebten, guten, braven und begabten Schumann gefährdete … Sie saßen noch lange zusammen. Der »Russische Hof« machte an diesem Abend ein gutes Geschäft. Seine Stammgäste blieben weit über die gewohnte Zeit hinaus, sie konnten den langhaarigen Mann nicht genug bewundern.

Der Großherzog Karl Friedrich war ein liebenswürdiger, schlichter Soldat. Wer ihm auf der Straße begegnete, konnte ihn für einen gutgelaunten General bürgerlicher Herkunft halten. Während der Audienz sah man ihm das Bestreben an, den berühmten Gast einerseits gebührend auszuzeichnen und andererseits eine der kulturellen Überlieferungen des Weimarer Großherzogtums würdige Unterhaltung zu führen. Das gigantische Erbe Goethes und Schillers bedrückte den gutherzigen Regenten offensichtlich. Es war jedoch seine Pflicht, als Herrscher kulturfördernd zu wirken. Man sah ihm die Erleichterung an, mit der er, nachdem genügend Zeit verflossen war, den großen Künstler entließ. Seine Gemahlin, die russische Großfürstin, war ganz anders. Sie empfing den Künstler unmittelbar nach der Audienz beim Großherzog. Nach zwei Minuten waren sie bereits in ein Musikgespräch vertieft. Die Großherzogin stand nicht oberflächlich zur Musik nach der Art der vornehmen Salondamen, sondern hatte durchaus ihre eigenen Ansichten. Sie besaß einen vorsichtigen, aber gesunden Geschmack und eine umfassende musikalische Bildung. Sie deutete ihrem Gast an, daß sie großer Opfer fähig wäre, wenn er aus Weimar eine berühmte Musikstadt machen würde. Gerade heraus sagte sie allerdings nicht, worauf sie hinzielte, und der Künstler wiederum wollte es nicht verstehen.

Um so deutlicher sprach es dann das dritte Mitglied der Herrscherfamilie aus, mit dem man Franzi schon am ersten Tage bekannt machte. Es war der hübsche junge Erbgroßherzog Karl Alexander. Auf den ersten Blick ließ er erkennen, daß er über die Menschenkenntnis seiner Vorfahren verfügte und den kulturellen Ehrgeiz, der diese Dynastie berühmt gemacht hatte, in viel stärkerem Maße besaß als seine Eltern. Er sprach ganz offen. Zunächst französisch:

»Es wird Sie vielleicht von dem Thronerben eines deutschen Groß-Herzogtums sonderbar berühren, aber ich spreche lieber französisch. Ich bin von französischen Lehrern erzogen worden und von Ihnen weiß ich, daß Sie aus Paris kommen.«

»Ich kann Eure Hoheit durchaus verstehen. Ich bin in Ungarn geboren und kann nicht ungarisch sprechen. Soviel ich weiß, hat sich Friedrich der Große stets gefreut, wenn er mit Voltaire französisch sprechen konnte.«

»Der Vergleich ist sehr schmeichelhaft. Sie haben allerdings seinen Ruhm bereits erreicht, ich muß dagegen noch ein Weilchen warten, bevor ich mich mit Friedrich dem Großen vergleichen könnte. Auf jeden Fall liebe ich dieses kleine Weimar ebensosehr wie er sein Preußen geliebt hat. Und ich wünschte nichts sehnlicher, als daß wir mit friedlicheren Mitteln dafür arbeiten dürften. Wissen Sie, ich bin ein sehr gefährlicher Mensch. Ich sitze wie eine Spinne in der Ecke, und sobald ich jemanden erspäht habe, der Weimar nützlich sein könnte, beeile ich mich, ihn einzufangen. Im Augenblick zum Beispiel Sie. Könnten wir uns nicht darüber unterhalten, daß Sie sich hier niederlassen? Ich weiß, ich weiß, Sie haben Konzertverpflichtungen, Sie gehören der ganzen Welt. Wir könnten es aber schließlich so einrichten, daß Sie über einen gewissen Teil des Jahres frei verfügen dürften. Hätten Sie dazu keine Lust? Ich kann Ihnen schon im voraus versichern, daß ich zu unserem gegenseitigen Übereinkommen die Zustimmung meines Vaters auf alle Fälle erhalten würde, denn die endgültige Entschließung steht selbstverständlich ihm zu. Nun, was meinen Sie zu diesem Gedanken?«

»Hoheit, ich will ganz aufrichtig sein: meine Freiheit kann ich vorderhand noch nicht entbehren. Ich bin aber überzeugt davon, daß ich in ständiger und inniger Verbindung mit Weimar bleiben werde.«

»Hand darauf.«

Der Erbgroßherzog hielt ihm die Hand hin, Franzi schlug lächelnd ein. Was er geantwortet hatte, war seine ehrliche Meinung. Hier gefiel es ihm ausnehmend. Er gab drei Konzerte und fand begeisterten Anklang sowohl beim Publikum, als auch bei den Mitgliedern des Herrscherhauses. Da er ständig entweder zum Frühstück, zum Tee oder zum Mittagessen an den Hof geladen war, lernte er die Herrschaften immer besser kennen. Die Bewohner des großherzoglichen Schlosses führten ein inniges, fast bürgerliches Familienleben. Der Vater war ein wenig tyrannisch veranlagt, aber gemütvoll und mit natürlichem Gerechtigkeitsgefühl gesegnet. Sein Sohn aber verriet eine vielseitige Begabung und bereitete sich ernsthaft auf seine große Berufung vor. Eine bedeutende Persönlichkeit war vor allem die Mutter, Maria Pawlowna. Nachdem ihre beiden Töchter aus dem Nest geflogen waren – die eine war mit dem Kronprinzen von Preußen, die andere mit dessen jüngerem Bruder verheiratet –, blieb ihr reichlich Zeit, ihre Tage mit Wohltätigkeit und Musik zu verbringen. Dank ihrem russischen Privatvermögen war sie eine steinreiche Frau, legte aber großen Wert darauf, die Äußerlichkeiten ihres Lebens dem Serenissimus-Stil des kleinen Hofes bescheiden anzupassen. Ihr musikalisches Verständnis, das Franzi schon beim ersten Male überrascht hatte, stellte sich während der späteren langen Unterredungen und beim gemeinsamen Musizieren als ganz außergewöhnlich heraus. Die Großherzogin war imstande, eine Partitur wie ein berufsmäßiger Dirigent abzulesen. Sie war seinerzeit am Zarenhofe von dem berühmten Italiener Sarti im Kontrapunkt unterrichtet worden, und als sie sich nach Weimar verheiratete, setzte sie ihre Studien unter der Leitung Hummels fort. Auch in der Welt der Herrscherhäuser findet man alle Typen des bürgerlichen Familienlebens: Maria Pawlowna war jenes vornehme, steinreiche Mädchen, das in eine Familie hineingeheiratet hat, die an Rang und Besitz unter ihr steht. Sie konnte eine folgsame und anpassungsfähige Frau sein, bestimmte jedoch trotz ihrer Bescheidenheit das Niveau und den Ton, sie brachte den geheimen Schwung in die Familie.

Und auch sie ließ sich von Franzi die Versicherung geben, daß er mit Weimar in ständiger Verbindung bleiben würde. Den Ertrag eines seiner Konzerte bot er der Großherzogin zugunsten ihrer Wohltätigkeitsvereine an. Er gewann die liebenswürdige Dame so lieb, daß er sich bemühte, ihr eine Freude zu bereiten. Die Weimarer Dynastie blieb ihm jedoch nichts schuldig. Der Großherzog zeichnete ihn mit dem weißen Falkenorden aus, und die Großherzogin überraschte ihn mit einem prächtigen Brillantring.

Auf das Zureden eines in musikalischen Veranstaltungen sehr rührigen jungen Mannes aus Jena, namens Gille, gab er auch im benachbarten Jena ein Konzert. Dann besuchte er Dresden, Halle, Altenburg und fuhr sogar auch nach Leipzig, denn sein Selbstgefühl hatte die peinliche Erinnerung an diese Stadt immer noch nicht verwunden. In der Gesellschaft von Mendelssohn, Schumann und Clara Wieck verbrachte er dort seine Zeit. Dann reiste er in dem Bewußtsein ab, nunmehr auch Leipzig erobert zu haben. Seinem Konzert war ein entscheidender, unbestreitbarer Erfolg beschieden gewesen.

Am dritten Weihnachtstage kam er in Berlin an. Hier verbrachte er zwei Monate. Zwei Monate, die sogar die Pester Erlebnisse weit hinter sich ließen. Der phänomenale Erfolg setzte schon beim ersten Konzert ein, das in der Musik-Akademie stattfand. Belloni hatte diesen Saal für zehn Abende belegt. Unter den Zuhörern befanden sich der König mit vier oder fünf Mitgliedern der Herrscherfamilie, sehr viele Aristokraten, Mendelssohn, Spontini … Kein einziger Platz blieb frei. Schon nach dem ersten Vortrag hielt der Beifall ungewöhnlich lange an. Die Erregung im Saal stieg immer höher und höher. Der König applaudierte auffallend, daraufhin brach der ganze Saal in einen noch ungeheuerlicheren Beifallssturm aus. Als das Konzert beendet war, strömte das Publikum auf ihn zu wie aus einer geöffneten Schleuse. Man wollte ihn aus der Nähe betrachten, seine Stimme vernehmen, sein Kleid betasten. Mit Mühe und Not erreichte er seinen Wagen, der im Gedränge der Massen kaum anfahren konnte, um ihn ins »Hotel de Russie« zu bringen. Die Kritik feierte ihn am anderen Tage mit den höchsten Worten des Lobes. Das wärmste Urteil gab Rellstab, der führende Kritiker Berlins.

Alles das hielt sich jedoch noch innerhalb der natürlichen Grenzen eines zwar unwahrscheinlichen Erfolges; als aber das zweite, dritte, sechste, das zehnte Konzert mit immer neuem Programm stattgefunden hatte, wurde die Liszt-Schwärmerei Massenpsychose. In den Geschäften wurden Handschuhe zum Kauf angeboren, auf denen sein Bild gedruckt war. Jeder legte sich solche Handschuhe zu. Auf Tellern, Gläsern und Schachteln prangte sein Bild, in den Restaurants benannte man Speisen, in Modegeschäften Krawatten und in Drogerien ein neues Parfüm nach ihm. Die Zeitungen beschäftigten sich tagtäglich mit ihm. Wenn er selbst kein Konzert gab, dagegen versprochen hatte, dem Konzert eines anderen Künstlers beizuwohnen, klebte man auf die Wandanschläge bunte Zettel: »Herr Liszt wird anwesend sein.« Diese Zettel füllten dann auch die Konzerte anderer. Im »Hotel de Russie« mußte man auf dem Gang vor seinen Zimmern eine lange Reihe Stühle aufstellen, denn von früh bis abends sprach ununterbrochen eine unabsehbare Menge verschiedenartiger und verschiedenrangiger Menschen in den unmöglichsten Angelegenheiten bei ihm vor. Zumeist verhandelte Belloni mit ihnen. Vor allen Dingen waren es Unterstützungsuchende, unter die er dann den für derartige Zwecke bestimmten ziemlich bedeutenden Betrag täglich verteilte. Von jungen Tondichtern nahm er Kompositionen entgegen, von angeblichen Verwandten genaue Berichte über den Grad ihrer Verwandtschaft, von Erfindern die Beschreibung ihrer Erfindungen. Die größten Unannehmlichkeiten gab es jedoch mit den Wunderkindern. Es verging kein Tag, an dem im »Hotel de Russie« nicht ein oder zwei erschrockene und flennende Kinder vorgeführt wurden. Die Wunderkinder hörte sich Franzi persönlich an. Er fand unter ihnen nicht ein einziges, das wirkliche Begabung hätte spüren lassen. Die Eltern entfernten sich trotzdem hingerissen und begeistert, denn er gab sein Urteil mit bestrickender Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit ab. Außer den Wunderkindern empfing er andere Personen nur in den seltensten Fällen. Er konnte schon so kaum richtig ausschlafen. Im Hotel war eine besondere Kellner-Garde nur damit beschäftigt, gewaltsam vordringende Schwärmer und Bittsteller abzufangen, noch ehe sie zu ihm gelangen konnten. Auf der Straße gab es Menschenansammlungen, wenn er Lust hatte, spazieren zu gehen. Fremde Menschen winkten ihm zu. Besonders aber durchbrach die Begeisterung der Frauen alle Schranken der Vernunft. Korbweise kamen Briefe mit Geständnissen und Bitten um ein Stelldichein an.

Die ersten Häuser der Stadt wetteiferten miteinander, ihn als Gast bei sich zu sehen. Allen voran das königliche Haus, hauptsächlich aber das Kronprinzenpaar. Die Kronprinzessin schickte ihm bereits am zweiten Tage eine Einladung, und als er im Schloß erschien, empfing man ihn wie einen alten Bekannten der Familie.

»Meine Mutter hat sehr viel von Ihnen geschrieben«, sagte Prinzessin Augusta, »ihrer Meinung nach hat noch niemand so Klavier gespielt wie Sie, seit die Welt besteht. Erzählen Sie von Weimar. Wie geht es meinen Eltern und meinem Bruder?«

Er erzählte bereitwilligst und war stolz darauf, auch von anderen die Prinzessin interessierenden Ereignissen berichten zu können. Stundenlang gab er Anekdoten vom französischen, englischen, holländischen und österreichischen Hof zum besten. Aber auch zum König wurde er oft eingeladen, der anläßlich des Aufenthaltes des berühmten Künstlers im historischen Weißen Saal des Schlosses zwanglose Zusammenkünfte veranstaltete, zu denen er die Berühmtheiten der literarischen und musikalischen Welt einlud, Dichter, Schauspieler und Sängerinnen. Humboldt und Varnhagen fehlten gleichfalls nicht. Gleich beim ersten Male entdeckte Franzi unter den Gästen eine alte Bekannte: Karoline Unger in der reifen Pracht ihrer vierzig Jahre. Sie gab gerade ein Gastspiel in Berlin. Franzi wollte eben pflichtgemäß in den alten Ton ihres Liebesgeplauders von einst übergehen, als Karoline ihm einen Herrn vorstellte:

»Mein Mann.«

Karoline hatte sich in der Zwischenzeit verheiratet. Ihr Gatte war ein Franzose namens Sabatier, mit dem sie in friedlichem, trautem Glück lebte. In der Nähe von Florenz besaßen sie eine Villa, in der sie in aller Ruhe die Monate verbrachten, in denen Karoline keine Gastspielverpflichtungen hatte. Franzi schüttelte herzlich die Hand des glücklichen Ehemannes. Ihn freute nicht nur die egoistische Erleichterung, daß er das alte Verhältnis nicht zu erneuern brauchte, sondern er bewahrte dieser Frau, deren Bild sich einst seiner Kinderseele unauslöschlich eingeprägt hatte, eine aufrichtige Freundschaft.

Da zog in dem bunten Reigen der Gäste schon wieder eine Dame seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie schien in den dreißiger Jahren zu sein, war wundervoll gewachsen und so schön, daß er Meyerbeer erregt am Arm packte.

»Wer ist das dort?«

»Die in der Mitte dieser Gruppe? Charlotte von Hagn. Wir nennen sie in Berlin nur ›die schöne Hagn‹. Eine Schauspielerin und noch dazu eine sehr begabte. Ihr Vater war ein vornehmer Grundbesitzer, geriet aber in Konkurs und hinterließ eine ganze Schar von Töchtern. Diese Charlotte unterstützt jetzt ihre Schwestern. Früher spielte sie in München und in Wien. Sie ist dadurch berühmt, daß sie immer die vornehmsten Verehrer um sich versammelt. In München sogar den König. Im übrigen ist es nicht uninteressant, daß sie eine ihrer Schwestern in diesem Hause als Kammerjungfer der Kronprinzessin unterbringen konnte. Vielleicht ist ihr diese Schwester sogar beim Pelzablegen behilflich, wenn sie hier erscheint. Warum sind Sie denn so aufgeregt?«

»Stellen Sie mich vor, stellen Sie mich vor.«

Meyerbeer stellte ihn vor. Sie fanden sofort Gefallen aneinander. Die geheimen Funken, die, wenn ein Mann und eine Frau einander gefallen, sofort von einem auf den anderen überspringen, wenn sie sich sonst auch noch so fremd sind, ließen ihre Augen erglänzen und ihren Blick lächeln. Den ganzen Abend versuchte Franzi, in der Nähe der Schauspielerin zu bleiben. Er sagte sich für den anderen Tag zu einem Besuch im Theater an und kam auch hin. Charlotte spielte den Puck im »Sommernachtstraum«. Die Sehnsucht des Verehrers flammte noch wilder auf, als er sie in dem verführerischen Kostüm zu Gesicht bekam. Er fing an, ihr stürmisch den Hof zu machen. Charlotte sträubte sich mit dem glücklichen und stolzen Lachen der vielbegehrten Frau. Sie sahen sich auch am darauffolgenden Tag. Und am nächsten auch. Franzi wurde ungeduldig.

»Ich verstehe das nicht, Charlotte. Hoffentlich sind Sie nicht der Alltagstyp, der mir so verhaßt ist? Anfänglich sah es so aus, als ob ich Ihnen gefallen hätte. Und jetzt? Mit jedem Tag entfernen Sie sich weiter von mir. Wollen Sie mich nicht?«

»Doch«, erwiderte die Frau hastig, »natürlich! Ja doch!«

»Also dann?«

Eine leichte Röte stieg in ihre Wangen. Sie schämte sich, das zuzugeben.

»Franzi, bleiben wir doch noch so. Die Sehnsucht ist immer unvergleichlich schöner als die Erfüllung … Die Schönheit dieser Tage wird niemals wiederkehren …«

Franzi sah der Schauspielerin überrascht ins Gesicht. Er gab ihr recht und wurde nachdenklich. Dreißig Jahre war er nun schon alt, und alle die Frauen, die ihm in seinem bisherigen Leben in die Arme gesunken waren, reihten sich in seiner Erinnerung zu einer langen Kette auf. Umsonst forschte er aber in der Vergangenheit seiner Küsse nach einer einzigen Minute, die ihm das Gefühl der Unendlichkeit und Ewigkeit der Liebe gegeben hätte. Er fand höchstens Augenblicke, in denen er wähnte, wahrhaft und ernstlich verliebt zu sein. Er begann langsam zu begreifen, daß er nur verliebt sein, sich hingezogen fühlen und Freundschaften eingehen, nicht aber wirklich lieben konnte. Aber kann man denn überhaupt einwandfrei erklären, was Liebe ist? Es schien ihm, als bezeichne die Armut der menschlichen Sprache hunderterlei ganz verschiedener Dinge mit diesem einzigen Wort. Jede Sprache weiß, daß sie der Liebe die wichtigsten Schattierungen noch schuldig geblieben ist. Die deutsche Sprache bringt neben dem Wort »Liebe« Umschreibungen, wie »ich bin dir gut«, ähnlich auch die italienische Sprache: » io ti voglio bene«, die französische Sprache versucht Unterschiede zwischen » amour« und » tendresse« zu machen, der Engländer dagegen läßt es einfach bei dem Wort » love« bewenden. Welch grenzenlose, unabsehbare Fülle der verschiedenartigsten Gefühlserlebnisse tut sich hier auf! Wie verschieden die Ausgangsempfindungen, das Gefüge, die Form! Die Dichter haben längst noch nicht genug gearbeitet, für die allerwichtigsten Nuancen haben sie noch keine neuen Ausdrücke geformt, obwohl das die erste und vornehmste Aufgabe der Kunst ist. Auch seine Aufgabe. Durch Musik noch nie ausgesprochene, noch nie genannte Dinge zu erzählen. In dieser Aufgabe, für diese Aufgabe lebt er, zu etwas anderem taugt er nicht. Auch nicht für die Liebe. Man müßte die Frauen davor bewahren, sich in wirkliche Künstler zu verlieben. Der Künstler gehört einzig und allein der Kunst, und mag er sich noch so sehr bemühen, er kann nicht aus seiner Haut. Er gehört ewig und immer nur dem geheimnisvollen Dämon, den wir Schaffen nennen. Für jeden Menschen von verschiedenstem Rang und unterschiedlichster Veranlagung kann die geliebte Frau das Erste sein, für den Künstler kommt sie immer nur an zweiter Stelle.

Charlotte von Hagn genoß die süßen und verheißungsvollen Tage der keimenden Liebe, solange es nur irgend möglich war. Dann bedachte sie aber, daß dieser umschwärmte Halbgott im Glanze des lodernden Begehrens von hundert und aberhundert schönen Frauen lebte und daß er Berlin auch bald wieder verlassen würde … Der Tag, an dem auch sie sich widerspruchslos in die Schar der vom Künstler eroberten Frauen einreihte, war bald gekommen. Die vornehmen Verehrer der schönen Hagn zogen sich unschlüssig zurück. Mit diesem Manne konnten sie nicht wetteifern. Die Liebenden aber freuten sich unersättlich des Lebens. Ihre Ruhmsucht, ihre Jugend, ihr Verlangen nach Kameradschaft fand in dieser unerwarteten Liebe volle Befriedigung. Der Künstler entzückte sich daran, daß Berlins begehrteste, im Rampenlicht am verführerischsten prangende Schönheit die Seine war, und die Künstlerin ergötzte sich daran, daß der zur Zeit berühmteste und hervorragendste Mann Berlins gerade sie gewählt hatte.

»Man liebt in der Liebe sich selbst«, gestand er ihr im vertrauten Gespräch heimlichen Beisammenseins.

»So ist es«, lachte Charlotte, »liebe dich nur immer mehr.«

Die Künstlerin befaßte sich auch mit Schriftstellerei. Aus Zeitvertreib machte sie Gedichte, nur für sich allein, die in der Schublade ihres Toilettentisches versanken. Manches las sie Franzi vor, der eines sehr reizend fand und es sich in die Tasche steckte. Es war ein kleiner vierzeiliger Vers:

»Dichter, was Liebe sei, mir nicht verhehle!
›Liebe ist das Atemholen der Seele?‹
Dichter, was ein Kuß sei, du mir verkünde!
›Je kürzer er ist, um so größer die Sünde?‹«

Er vertonte es. Er komponierte auch hier und stahl sich die Zeit dazu vom Schlaf. Sogar zu größeren Sachen hatte er Lust. Der König, der ihn auf jede erdenkliche Art und Weise auszeichnen wollte, schenkte ihm eine Flötenkomposition Friedrichs des Großen, und zwar in der eigenhändigen Handschrift des Fridericus Rex, des weiteren eine eigenhändig niedergeschriebene Komposition des auf dem Schlachtfeld gefallenen Prinzen Louis Ferdinand. Franzi schuf aus den Motiven der letzteren eine Phantasie und widmete sie der Kronprinzessin. Diese Nachricht verbreitete sich selbstverständlich und erweckte viel Neid. Auch dort, wo es Franzi am wenigsten erwartet hätte. Immer öfter kam ihm zu Ohren, daß Mendelssohn seine himmelstürmenden Berliner Erfolge mit galligen Bemerkungen begleitete. Er fürchtete offensichtlich, Liszt könnte ihm beim König den Rang ablaufen. Franzi wußte nicht, ob er den ihm hinterbrachten Äußerungen Glauben schenken sollte oder nicht. Mendelssohn hatte ihm doch bis jetzt ehrliche Freundschaft entgegengebracht, in Leipzig stellte er sich sogar auf seine Seite, als er einen treuen Freund am nötigsten gehabt hatte. Ein wenig begann er aber doch schon mißtrauisch zu werden. An einem sonnigen Februar-Vormittag begegnete er Mendelssohn auf der Straße. Er sah, wie sich dessen Gesicht verzerrte und die Lippen zu beben begannen.

»Guten Morgen«, grüßte Mendelssohn, blieb stehen und wartete nicht einmal die Erwiderung seines Grußes ab, »ich höre, daß Sie sich mit lebendigen Fürsten nicht mehr begnügen, sondern nicht einmal die Toten mehr ruhen lassen, so vornehm sind Sie!«

Franzi sah ihm ruhig ins Gesicht, erwiderte nichts und ging weiter. Mendelssohn blieb allein auf der Straße mit seiner quälenden, zornigen Eifersucht. Sie kamen nicht mehr zusammen. Nunmehr schimpfte Mendelssohn zügellos über ihn und schmähte ihn überall. Er antwortete damit, daß er bei einem Festbankett eine Rede über die Entwicklung des musikalischen Lebens in Berlin hielt und sein Glas auf das Wohl Mendelssohns, des hervorragenden Führers der Musik-Akademie, leerte. Damit wollte er feststellen, daß er den Posten Mendelssohns nicht begehrte. Als jedoch später, nach Schluß des Banketts, Mendelssohn ihn schüchtern zu grüßen versuchte, wandte er sich ab.

Er gewann aber nicht nur einen Feind, sondern auch einen Freund, und zwar einen Ungarn. An der Berliner Universität studierte ein junger ungarischer Aristokrat, Graf Alexander Teleki. Der Graf gab seine Karte im »Hotel de Russie« ab, sie verabredeten sich, unterhielten sich glänzend und wurden Freunde. Teleki war ein maßlos hitziger, abenteuerlicher, sonderbarer junger Mann, in dessen Geist die revolutionären Freiheitsideen radikalster Richtung sich mit dem feurigsten ungarischen Nationalgefühl verbanden. Franzi freute sich, einen ungarischen Augenzeugen seiner unglaublichen Erfolge zu haben. Der leicht entflammte Graf schwur ihm mit überschwenglicher Liebenswürdigkeit eine durch Himmel und Hölle gehende ewige Freundschaft. Das schien bloße jugendliche Schwärmerei zu sein, – eines Tages aber erzählte man ihm, Graf Teleki habe gestern seinetwegen ein Duell gehabt. Franzi konnte kaum abwarten, den Freund zu sehen.

»Was muß ich hören, mein lieber Graf? Sie haben sich duelliert? Warum haben Sie mir das gestern nicht erzählt?«

»Darüber pflegt man nicht zu sprechen.«

»Aber so sagen Sie mir doch um Himmels willen, was eigentlich los war.«

»Eine Bagatelle. Eines Tages ging ich mit ein paar Freunden spazieren. Vor uns lief ein Herr her, der mich offenbar schon öfters mit Ihnen zusammen gesehen hat. Er kaufte einem kleinen Jungen, der mit Ihren Bildern handelte, einen ganzen Stoß ab, sah mich herausfordernd an und warf sämtliche Bilder in den Schmutz. Ich trat auf ihn zu und zog ihn zur Rechenschaft. Wir tauschten unsere Karten aus, ich bat daraufhin einen meiner Freunde, den Grafen Rulichowski, mir zu sekundieren. Das war alles.«

»Wieso war das alles? Was geschah nachher? Sie sind doch nicht etwa verletzt worden?«

»Ach, nicht die Spur. Mit dem Säbel können wir Ungarn schon ganz gut umgehen. Ich versetzte ihm einen Hieb auf den Kopf, aber keinen gefährlichen. Ich wollte ihm nicht besonders weh tun. Genug davon.«

Franzi sprach nicht mehr darüber. Aber diesen sonderbaren Ungarn schloß er für ewig in sein Herz. Und noch eine andere interessante Bekanntschaft machte er: in einer Gesellschaft traf er Bettina von Arnim, die von Goethe her berühmte, sogar berüchtigte Bettina. Goethes korrespondierendes » enfant terrible« war jetzt schon nahe den sechziger Jahren, sie bewahrte aber noch immer die Spuren einstiger Schönheit. Auch ihrem unbeherrschten Temperament war sie treu geblieben. Sie duzte Franzi ohne Umschweife, drückte ihm wortreich ihr Bedauern aus, nicht mindestens zwanzig Jahre jünger zu sein, und sprach, einem unaufhaltbaren Wasserfall gleich, mit ihm über Kunst, Genie und Seele. Sie redete sehr verständig über die höchsten geistigen Werte, sprach aber unaufhörlich und ließ niemanden zu Worte kommen. Sie vergötterte Franzi. Diese Verherrlichung wurde allerdings durch den Umstand ein wenig verdächtig, daß sie ihm immer wieder die Gesellschaft ihrer beiden noch unverheirateten Töchter aufdrängte. Sie pries begeistert deren gute Eigenschaften und variierte öfters die Bemerkung, daß es für berühmte Männer in einem gewissen Alter durchaus empfehlenswert sei, eine Familie zu gründen.

Franzi lachte nur. Es fiel ihm nicht einmal im Traume ein, zu heiraten. Er empfand sogar die Briefe an Marie als drückende Pflicht. Und auch Maries Briefe wurden immer seltener und farbloser. Ihre Zusammengehörigkeit hing jetzt nur noch an einem sehr dünnen Faden. Sie verbrachte ihr Leben sorglos und lustig mit anderen, während Mutter Liszt die Kinder betreute. Wenn kein Brief seiner Geliebten kam, dachte er überhaupt nicht mehr an sie. Sein unglaublicher Erfolg, der zu einer Epidemie anzuwachsen begann, nahm seine Gedanken völlig in Anspruch. Seine ersten zehn Konzerte mußte er um zehn weitere verlängern. Er spielte nicht mehr in der Musik-Akademie, sondern zu wesentlich höheren Eintrittspreisen in dem bedeutend größeren Opernhaus. Der König reiste zwischendurch nach London, kam aber bald wieder zurück und besuchte sofort das nächste Konzert. Dort applaudierte er auffallend. Der Beifall des Publikums war bereits abgeflaut, der König aber applaudierte noch immer, gewissermaßen als Begrüßung nach seiner Rückkehr. Daraufhin brach die Menge selbstverständlich von neuem in einen Sturm der Begeisterung aus. Das Getöse der beifallspendenden Hände wollte nicht abebben. Franzi setzte sich zurück ans Klavier und, die Begrüßung erwidernd, begann er, seinen Kopf dem König zugewandt, mit himmelstürmender Wucht Josef Haydns Kaiser-Hymne zu spielen. Das ganze Opernhaus erhob sich, das Konzert hörte auf, ein Konzert zu sein, und ging in eine tobende Huldigung über. Genau so war es aber auch außerhalb des Konzertsaales. Wenn der Meister in einem Restaurant erschien, wurde er sofort mit Beifallsklatschen begrüßt. Einmal kniete eine Frau vor ihm nieder und bat um den Vorzug, seine Finger küssen zu dürfen. Ein anderes Mal, als er bei der alten Mutter Meyerbeers zum Tee eingeladen war, stahl eine Dame den Rest seiner Teetasse und goß ihn in eine mitgebrachte Kristallflasche. Belloni zählte die in den Berliner Tagen angekommenen Briefe: es waren mehr als dreitausend. Die Berliner Kunstakademie ernannte ihn zum Ehrenmitglied und gab ihm zu Ehren ein großes Fest. In seinen Wohnräumen häuften sich die Urkunden über Ehrenmitgliedschaften in den verschiedensten Vereinen. Endlich verlieh ihm der König den » Pour le mérite«. Er war der erste Nichtsoldat, der damit ausgezeichnet wurde.

Als er abreisen mußte, bedauerte er aufrichtig dem Grafen Teleki gegenüber, sich von ihm trennen zu müssen, seine Verträge riefen ihn nach Rußland. Teleki rieb vor Ärger seine Ohren. Ausgerechnet jetzt verfügte er nicht über das Geld, ihn begleiten zu können. Franzi stellte sofort einen Wechsel über viertausend Taler aus. Teleki aber war ein empfindlicherer Freund als der Fürst Lichnowsky, von einem freundschaftlichen Darlehen wollte er nichts wissen. Am anderen Tage berichtete er jedoch freudestrahlend, daß es ihm gelungen sei, Geld aufzutreiben.

»Ich fühle mich verletzt«, sagte Franzi, »von einem anderen nehmen Sie es an, von mir nicht? Woher haben Sie das Geld bekommen?«

»Von denen, deren Beruf es ist. Wozu sind die Juden da? Die wollen doch auch leben.«

Sie freuten sich sehr, zusammenbleiben zu können. Sodann prüften sie ihre Pässe; sie waren in Ordnung. Franzis Paß wies einen interessanten Vermerk auf. Die ungarische Statthalterei in Buda hatte in die Rubrik der Personalien eintragen lassen: » Celebritate sua sat notus, – durch seinen Ruhm zur Genüge bekannt.«

Dann verbrachte er noch einen letzten Abend mit Charlotte und besuchte alle anderen, von denen er sich verabschieden mußte. Auch beim Kronprinzen sprach er vor, und die Prinzessin Augusta begleitete ihn bis zur Treppe. Dort fiel Franzi der Hut aus der Hand, er rollte die Treppe hinunter.

»Der Hut, der Hut!« rief die Prinzessin.

»Lassen wir den Hut, kaiserliche Hoheit«, entgegnete er gutgelaunt, »ich habe, bezaubert von der Güte Eurer kaiserlichen Hoheit, sowieso schon meinen Kopf verloren, was brauche ich da noch einen Hut!«

Die Kronprinzessin winkte ihm noch lange nach. Im Hotel wurde in größter Eile sein Koffer gepackt. Das Personal konnte die Erinnerungen an die einundzwanzig Konzerte der vergangenen acht Wochen kaum unterbringen. Unmittelbar vor der Abfahrt stellten sich hundert kleine Kinder in der Halle des Hotels auf. Sie dankten mit einem Chorgesang dem großen Künstler, der ein Konzert zugunsten ihres Waisenhauses gegeben hatte. Franzi hörte sich den Gesang an, küßte einige von den Kleinen, dann verließ er das Hotel.

Draußen erwartete ihn eine Galakutsche, die ihm die Berliner Universität gesandt hatte und die ihn bis zur nächsten Poststation bringen sollte. Sechs mit Silberzeug gezäumte Schimmel waren vorgespannt. Auf den Straßen Tausende, jubelnd und begeistert. Franzi nahm zwischen den Dekanen der Universität Platz, die Amtstracht angelegt hatten. Seiner Kutsche folgten noch dreißig andere Kutschen, alle vierspännig. In der zweiten Kutsche saß Graf Teleki, ebenfalls mit einigen Herren der Universität, in den anderen Notabilitäten von Berlin. Die Wagenreihe wurde flankiert von berittenen Chargierten der Korporationen, fünfzig an der Zahl. Überall, auf der ganzen schon vorher festgelegten Strecke, jubelnde und Tücher schwenkende Massen. An einer Biegung begegnete die Wagenreihe der Kutsche des Königs. Friedrich Wilhelm IV. hatte für diese Stunde eine Ausfahrt angesetzt, weil er neugierig auf das Wunder dieses Abschiedes war und es unter allen Umständen miterleben wollte.

»Sie reisen auch wie ein König«, sagte ein Herr der Universität.

»Nicht wie ein König«, verbesserte ein anderer, »sondern wie der König!«

Die Kutsche sauste dahin und Franzi genoß diesen unerhörten Triumph, der noch keinem Künstler in keinem Lande, seit die Welt bestand, zuteil wurde. In der Weltgeschichte gab es also etwas, dessen Rekord er hielt, er, der Sohn des Raidinger Rechnungsführers.


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