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Achtzehntes Kapitel

Dann abermals Konzerte, Hotelzimmer, neue Gesichter.

In München schloß er sich dem Maler Kaulbach an, der ihn auch porträtierte. In Weimar, wohin er mitgeteilt hatte, daß er die getroffene Vereinbarung wegen der Kürze der Zeit in diesem Jahr noch nicht einhalten könne, verweilte er nur ein paar Tage. Er spielte das h-moll-Klavierkonzert von Hummel. Auch die Witwe Hummels war anwesend, die ihm sagte:

»Das konnte mein Alter wahrlich selbst nicht so gut spielen!«

Jena, Rudolstadt, Erfurt, Gotha. Dann Dresden. Hier stieg er im »Hotel de Saxe« ab. Das Hoftheater kündigte zwei Ereignisse an: das Auftreten einer andalusischen Tänzerin namens Lola Montez und eine Aufführung des »Rienzi« von Richard Wagner. Franzi beschloß, sich beides anzusehen. Besonders wegen »Rienzi« mahnte ihn das Gewissen, weil er sich diese Oper seinerzeit in Berlin trotz seines Versprechens nicht angesehen hatte. Von Lola Montez war ihm schon manches zu Ohren gekommen. Die Zeitungen waren voll von der interessanten spanischen Tänzerin, die wie ein feuriger Komet die Städte Europas durchzog. Wo sie auch nur für einen einzigen Tag verweilte, war schon irgendein Skandal um sie entstanden, man trug unzählige Duelle ihretwegen aus, viele begingen Selbstmord. Man sagte, sie sei ein teuflisch begehrenswertes Wesen und tanze großartig.

Franzi sah sie sich also an. Lola Montez tanzte spanische Tänze, in große buntgeblümte Tücher gekleidet, mit den Kastagnetten in der Hand. In ihrem Wesen lag etwas von der weichen und zähen Biegsamkeit schöner wilder Tiere. Bei bestimmten Katzenarten und wilden Menschenstämmen kann man diese züngelnde schlanke Vollkommenheit in den Bewegungen beobachten. Das Dresdner Publikum spendete stürmischen Beifall. Der langhaarige Klavierkünstler ging auf die Bühne, um die berühmte Tänzerin kennen zu lernen. Man führte ihn in ihre Garderobe.

»Du bist also dieser Liszt?« fragte mit blitzenden Augen die schöne wilde Katze, »man hat mir schon erzählt, daß du auch in Dresden bist.«

Währenddessen begann sie mit nachlässiger Gleichgültigkeit das farbige Tuch, das ihren Körper eng umspannte, zu lösen. Es stellte sich heraus, daß ihre ganze Bekleidung aus diesem langen Seidenschal bestand, den sie mehrmals eng um ihren Körper wickelte.

»Jetzt dreh' dich mal für eine Minute weg. Im übrigen ist es mir gleichgültig, du kannst auch zusehen.«

Die Zofe war behilflich. Franzi bewunderte entflammt die sich vor ihm enthüllende vollkommene Gestalt. Die Tänzerin redete weiter in einem unvollkommenen Französisch, dem man deutlich anmerkte, daß sie über das Englische zu ihm gekommen war.

»Wie ich höre, wird jede Frau, die du nur ansiehst, deine Geliebte. Aber mich siehst du umsonst an. Und von mir aus kannst du ruhig auch eine so interessante Löwenmähne haben, ich brauche dich nicht.«

»Ich brauche dich auch nicht, mein Liebling. Ich wollte mich mit dir nur ein wenig unterhalten.«

Lola Montez hielt in ihren Bewegungen inne. Im Spiegel sah sie das Gesicht des hinter ihr sitzenden Besuchers. Sie wunderte sich. Dann lächelte sie aber verächtlich:

»Gut, gut, das kenne ich schon. Ihr glaubt, es ist interessanter, wenn ihr so anfangt. Ihr seid alle gleich. Bist du tatsächlich ein so schöner Mann, wie man behauptet? Laß' dich einmal ansehen. Na, ich kann nicht sagen … obwohl ich die sogenannten schönen Männer verabscheue. Dieser Moriani ekelt mich auch schon an.«

»Wer ist dieser Moriani?«

»Ein italienischer Tenor. Er ist hier. Er will mit mir zu Abend essen, ich habe es ihm versprochen. Er langweilt mich aber furchtbar. Du langweilst mich auch, und wenn du noch so weltberühmt bist. Mich langweilt jeder Mensch.«

Die schöne Lola hantierte an ihrem Toilettentisch, drehte und wendete sich hin und her und bewegte sich vor ihm mit der sieghaften Schamlosigkeit jener Frauen, die der Vollkommenheit ihrer Gestalt gewiß sind. Das nützte ihr aber gar nichts. Der verwöhnte Mann, der Beherrscher der Musikwelt ertrug es nicht, daß man über ihn in dem gleichen Tone redete, wie über einen unbekannten italienischen Tenor. Er stand auf und schickte sich an zu gehen.

»Also ich gehe wieder«, sagte er leichthin, »es freut mich, daß ich dich kennengelernt habe, schöne Lola.«

Schon schloß er die Tür der Garderobe hinter sich. Er zuckte verächtlich die Achseln. Aber als er sich im »Hotel de Saxe« allein zum Abendessen setzte, fiel ihm ein, daß diese Tänzerin doch höllisch schön sei. Schade, daß sie so unverschämt war, obwohl in ihrer Unverschämtheit auch etwas Reizvolles lag. Es gibt eben Frauen, zu denen alles paßt, die auch dann noch graziös sind, wenn sie sich verstellen.

Im Speisesaal saßen nur Fremde. Er war froh, daß er ein wenig allein sein konnte. Wo er nur in der großen Welt herum kam, überfielen und begleiteten ihn ganze Scharen langweiliger, unbedeutender Menschen; sie hingen an seinem Hals, ließen ihn nicht einmal zu Atem kommen, nur um sich dann jahrzehntelang ihrer Freundschaft mit dem großen Liszt rühmen zu können. Jetzt aber war zufällig Windstille. Er fing ruhig an zu essen. Am dritten Tisch bemerkte er einen aufgeregten Mann mit glattrasiertem Gesicht, der andauernd auf seine Uhr sah. Das war höchstwahrscheinlich dieser Moriani, oder wie er hieß, der Tenor der Tänzerin …

Er hatte sich nicht geirrt. Nach einer kleinen Weile betrat Lola Montez den Speisesaal. Sie sah sich um und ging dann geradewegs auf den Tisch des Tenors zu. Sie vertieften sich sofort in ein Gespräch. Lola bestellte sich etwas, es wurde ihr gebracht, sie begann zu essen, aber plötzlich, man sah es ganz deutlich, ärgerte sie sich über etwas, was der Tenor ihr sagte. Und schon war der schönste Streit im Gange. Plötzlich nahm die Tänzerin wortlos ihren Teller und kam auf Franzis Tisch zu. Mit der unbefangensten Miene der Welt stellte sie ihren Teller hin, setzte sich nieder und aß weiter.

»Ich setze mich lieber zu dir«, sagte sie während des Essens, »mit diesem Idioten will ich nicht an einem Tisch sitzen.«

Blaß vor Wut zahlte der Tenor und ging weg. Nach zehn Minuten hatte er sich die Sache jedoch überlegt, kam zurück, setzte sich abermals und ließ sich Bier kommen. Franzi und die Tänzerin waren schon mitten in der Unterhaltung. Sie fanden ein gutes Thema: die öde Kahlheit eines Wanderlebens. Beide waren in der Welt herumgekommen, beide fühlten sich einsam, beide waren von großen Erfolgen begleitet, beide hatten das alles aber schon längst satt.

»Bist du auch schon müde«, erkundigte sich Franzi, »in so jungen Jahren? Du kannst doch nicht älter sein als dreiundzwanzig Jahre?«

»Genau so alt. Aber ich habe schon sehr viel durchgemacht. Mit siebzehn Jahren war ich schon verheiratet, ich war Mrs. James. Mein Mann nahm mich mit nach Indien. Ich bekam ihn aber bald satt und ging ihm durch. Seit dieser Zeit wandere ich in der großen Welt umher. Ich habe niemanden.«

»Was ist mit deinen Eltern?«

»Ich bin ein uneheliches Kind. Meine Mutter war eine Kreolin, mein Vater ein schottischer Offizier. Wo sie jetzt sind und was sie machen, weiß ich nicht. Mein wirklicher Name ist Rosana Gilbert, denn mein Vater hat mich adoptiert. Ich bin in einem ausgezeichneten Internat erzogen worden, ich war eine sogenannte vornehme Dame. Ich eigne mich aber nicht zur vornehmen Dame. Das Negerblut der Urahnen meiner Mutter läßt mir keine Ruhe. Ich bin ein wildes Tier. Warum irrst du denn herum?«

»Ich irre nicht herum. Ich verdiene Geld für meine Kinder. Ich habe drei Kinder, zwei Mädchen und einen Knaben.«

Lola schrie leise auf, ihre Augen verschleierten sich.

»Kinder … mein Gott … ich sterbe fast vor Sehnsucht, ein Kind zu haben. Es dürfte aber niemandem anderen gehören, nicht einmal dem Vater, der brauchte es gar nicht zu wissen, es soll nur mir gehören. Ich würde mit ihm irgendeinen Baum erklettern und mich in der Krone verstecken wie ein Affe … Wie sind deine Kinder, erzähle mir von ihnen, viel, sehr viel …«

Sie unterhielten sich lange. Der Saal leerte sich langsam. Bald waren sie ganz allein, bis auf den Tenor, der störrisch auf seinem Stuhl saß und mit den Fingern nervös auf dem Tisch trommelte. Endlich zahlte auch Franzi. Sie verließen den Saal und schritten auf die Treppe zu, sie wohnten im selben Stockwerk. Kaum waren sie beim Portier angelangt, um sich die Schlüssel aushändigen zu lassen, war auch schon der Tenor an ihrer Seite. Außer sich und heiser wandte er sich an die Tänzerin:

»Lola, ich will dir etwas sagen …«

»Ach, geh' zum Teufel …«

Franzi trat hinzu. Sehr liebenswürdig und sehr höflich stellte er sich dem Tenor vor.

»Kann ich Ihnen in irgend etwas behilflich sein? Wünschen Sie etwas von dieser Dame?«

»Nichts«, erwiderte der Tenor mit blutunterlaufenen Augen und rannte hinaus in die Nacht.

Sie stiegen beide die Treppe hoch. Als sie vor Lolas Zimmer angelangt waren, beachtete die Tänzerin gar nicht, daß Franzi stehengeblieben war, um sich von ihr zu verabschieden. Sie schloß die Tür auf, trat ins Zimmer und ließ die Tür hinter sich offen. Franzi folgte ihr freudig überrascht. Von da ab verbrachten sie die ganze Zeit gemeinsam. Lola ließ ihm nicht eine einzige freie Minute mehr. Wenn er geschäftliche Besprechungen hatte, wollte sie auch dabei sein. Sie stiftete viel Unruhe, war aber so liebreizend und so ausgelassen lustig, daß man ihr nichts übelnehmen konnte. Sie nannte jeden »du« und redete mit einer offenherzigen Ungezogenheit drauf los, so daß die Anwesenden manchmal nicht wußten, sollten sie überrascht und befremdet sein oder lachen. Wohin sie auch gingen, überall tauchte die aufgeregte eifersüchtige Gestalt Morianis im Hintergrund auf. Er brachte es fertig, bei Franzi einen Besuch zu machen, und blieb sogar zum Essen bei ihm, nur um in der Nähe der Frau sein zu können. Franzi ertrug ihn geduldig, Lola aber beschimpfte und schmähte ihn. Der Tenor hörte schmerzerfüllt zu, blieb aber trotzdem.

»Rienzi« sahen sich der Klavierkünstler und die Tänzerin, die beiden internationalen Berühmtheiten, gemeinsam an. Franzi nahm seufzend Platz. Die unbekannten Komponisten Europas überhäuften ihn förmlich mit ihren Werken, und er wußte schon, daß unter Hunderttausenden kaum einer war, der die Mühe lohnte, sich mit ihm zu befassen. Er kannte auch die Stücke der hiesigen Komponisten. Hätte er alle in sterblicher Langweile darüber verbrachten Stunden zusammenzählen wollen, so hätte sich ergeben, daß diese Stunden einen ganz beträchtlichen Teil seines Lebens ausmachten. Es war ihm aber angeboren, keinen zu verletzen, der geringer war als er, und deshalb pflegte er mit heldenhafter Geduld derartige Kompositionen zu lesen und anzuhören. Auch diesmal nahm er seufzend in der Loge Platz mit dem Wunsch, daß es bald zu Ende sein möge. Aber gegen diesen Wagner wollte er ja besonders höflich sein.

Das Orchester hatte aber noch keine zwanzig Takte gespielt, da horchte er überrascht auf. Dann zog er seinen Stuhl der Logenbrüstung näher. Dann neigte er sich vor. Das Orchester des unbeholfenen kleinen Mannes führte eine kraftvolle eigene Sprache. In der Harmonie tauchten immer wieder Klangverbindungen auf, die noch keinem vorher eingefallen waren. Auch die Partitur war vom ersten bis zum letzten Notenkopf sein ureigenes Werk. Die Instrumentation deutete auf einen fertigen und großartigen Musiker hin. Frau Schröder-Devrient hatte recht gehabt: dieser Mann war sehr begabt. Während der ersten Pause überließ Franzi die Tänzerin als Beute dem auf dem Logengang lauernden Tenor, er selbst eilte auf die Bühne, um Wagner zu suchen. In der Garderobe des berühmten Sängers Tichatschek fand er ihn.

»Ich bin glücklich, Ihnen sagen zu können, daß ich über alle Maßen entzückt bin. Sie haben eine außerordentliche Begabung, mein lieber Herr Wagner.«

»Hat es Ihnen gefallen?« fragte der Komponist.

»Und ob es mir gefallen hat! Ich bin einfach hingerissen! Ein echtes Talent zu treffen, ist stets ein Fest, und Sie machen somit diesen Tag für mich zu einem Feiertag. Ich werde bestrebt sein, Ihnen, wo immer ich nur kann, behilflich zu sein. Ich habe allerlei Pläne, zu deren Ausführung ich begabte Komponisten brauche. Jetzt zum Beispiel will ich eine musikalische Stadt gründen. Kann ich auch auf Sie rechnen? Wer hat das Textbuch geschrieben?«

»Ich habe es selbst geschrieben, ich konnte von niemandem einen mir zusagenden Text bekommen.«

»So sind Sie besser dran. Das Ganze ist pulsierend, interessant und farbig. Wirklich großartig, daß Sie auch das beherrschen! Ich beglückwünsche Sie noch einmal.«

Sie schüttelten sich herzlich die Hände. Franzi gratulierte auch Tichatschek, dann ging er zurück in seine Loge. Gerade noch zur rechten Zeit, denn um Haaresbreite hätte Lola dem Tenor eine Ohrfeige verabreicht. Mit mordgierigen Augen blitzten sie einander an. Um sie herum waren schon mehrere stehengeblieben, um sich den Streit anzuhören. Franzi nahm die Tänzerin am Arm und führte sie in seine Loge. Der zweite Akt begann, er gefiel ihm noch besser. Wenn die Ohren sich erst an die Sprache des neuen Meisters gewöhnt hatten, mußte man es immer schöner und immer kühner finden. Nicht minder kühn war der dramatische Aufbau des gesamten Werkes. Der Komponist hatte offensichtlich der auf zahlreichen Überlieferungen aufgebauten altmodischen Struktur der Oper den Krieg erklärt. Anstelle der pflichtgemäßen Arien, die der Kleister der Rezitative zusammenhielt, brachte die neue Musik gut durchkomponierte Chöre. Er beschloß, auf diesen Menschen tatsächlich zu achten. Er fand ihn würdig, neben seine Pläne mit Berlioz gestellt zu werden.

In der Pause nach dem zweiten Akt nahm Lola Anlauf zu einer Bitte:

»Hör' einmal zu. Ich habe einmal meine Zofe wegen irgend etwas vorausgeschickt und bin vom Theater in der Nacht allein zu Fuß nach Hause gegangen. Auf dem Wege hielten mich zwei betrunkene Männer an. Sie nötigten mich, mit ihnen zu gehen. Dem einen versetzte ich eine Ohrfeige, da fielen sie beide über mich her, um mich zu verprügeln. Das gute Glück schickte mir einen späten Spaziergänger. Der befreite mich. Die beiden Betrunkenen rannten fort. Dieser Retter war Eduard von Bülow. Ein Schriftsteller. Er wohnt hier in Dresden.«

»Nun, und?«

»Ich weiß ja, daß du Wunderkinder nicht leiden kannst. Dieser Schriftsteller hat aber einen vierzehnjährigen Sohn. Der spielt gottvoll. Mir zuliebe mußt du ihn anhören. Und zwar noch heute abend zu Hause. Seine Mutter wird das Kind ins Hotel herüberbringen.«

»Meinetwegen. Ein Wunderkind mehr oder weniger, das ist gleichgültig. Vielleicht, wenn das auch ganz selten vorkommt, findet man doch einmal ein wahres Wunder unter ihnen.«

Im Hotel erschien tatsächlich eine sehr streng aussehende Dame mit sehr bestimmtem Auftreten, die sich als Frau von Bülow vorstellte. Der Knabe, Hans mit Namen, war ein schmächtiges, frühreifes Kind. Auf seiner weißen, auffallend gewölbten Stirn schimmerten blaue Adern durch. Oben in Franzis Wohnräumen setzte man ihn sofort ans Klavier.

»Darf ich die Musik der Tante Lola spielen?«

»Selbstverständlich«, gewährte die Tänzerin und gab gleich eine kleine Erklärung dazu. »Hans hat eine kleine Phantasie über die spanische Musik eines meiner Tänze komponiert. Also hör' mal zu. Fang' an!«

Das Kind spielte. Franzi hörte aufmerksam zu. Dann ging er auf den Jungen zu und umarmte und küßte ihn. Und zu Lola, nicht zu der Mutter gewandt, sagte er:

»Ich habe dir einmal von zwei Wunderkindern erzählt, die ich getroffen habe, das ist das dritte. Im übrigen weiß ich noch gar nicht einmal, ob er nicht viel mehr ist als die beiden anderen.«

Der Junge wurde über und über rot vor Freude. Und es wäre ein schöner, ungetrübter Abend geworden, wenn sich nicht Moriani, der eifersüchtige Tenor, eingefunden hätte. Er grüßte und nahm irgendwo Platz. Niemand achtete auf ihn. Man beschäftigte sich mit dem Jungen, von dem es sich noch herausstellte, daß er außer über sein Klavierkönnen noch über ein bewunderungswürdiges Gedächtnis verfügte. Auf das Geheiß seines Vaters hatte er zum Beispiel den ganzen ersten Teil des »Faust« auswendig gelernt. Moriani konnte sich aber nicht beherrschen. Flüsternd neigte er sich zu der Tänzerin. Lola schüttelte ihn ab. Da befiel den eifersüchtigen Mann eine unbändige Wut. Er packte Lola am Arm. Sie schrie vor Schmerz auf. Jeder blickte hin. Franzi stand auf, sah den Tenor an und wies mit dem Zeigefinger nach der Tür.

»Eins, zwei!« sagte er ruhig.

Der Tenor holte tief Atem und ballte seine Hand zur Faust. Franzi sah ihm ruhig in die Augen. Er wußte, daß dieser Mann ihn nicht anfallen würde. Seine unerhörte Autorität machte das einfach unmöglich. Und wirklich: der Tenor ließ den Kopf sinken und schlich wie ein geprügelter Hund aus dem Zimmer. Lola schickte sich an, ihm wutentbrannt zu folgen. Offensichtlich wollte sie ihm noch ein paar Worte nachrufen. Jetzt aber packte Franzi sie am Arm, stärker noch als der Tenor, und sagte energisch:

»Du darfst dem armen Teufel nichts antun. Du bleibst hier!«

Ganz klein geworden, blieb Lola. Die Stimmung des Abends war aber zerrissen. Mit erzwungener Liebenswürdigkeit verabschiedeten sich Mutter und Sohn. Am anderen Tage schickte Franzi jedoch selbst nach dem Jungen. Am dritten Tage wieder. Er konnte nicht genug von ihm hören. Als er aus Dresden wegreiste, sagte er zu dem Kinde:

»Jetzt will ich dir einmal etwas ganz Großes sagen, mein Kind. Du bist der einzige, der mir am Klavier folgen kann, wenn du erwachsen bist.«

Der Junge erwiderte nichts, er wurde nur blaß von dem Lob. Mit dem warmen Blick seiner kurzsichtigen treuen Augen lächelte er den weltberühmten Künstler glückselig an. Franzi gab dieses Lächeln liebevoll zurück. Es war das Lächeln eines Menschen, das bei Männern sowohl als auch bei Frauen und Kindern einen für das ganze Leben bleibenden Eindruck hinterläßt.

Auch Lola hatte er gründlich den Kopf verdreht. Die Tänzerin warf das ganze Programm ihrer Gastspiele über den Haufen und sagte nacheinander die bereits abgeschlossenen ab. Sie wollte um jeden Preis mit Franzi zusammenbleiben. In Bautzen und Bernburg ging noch alles gut. Dann begann sie aber sehr lästig zu werden. In Stettin machte die schöne Lola einen derartigen Eifersuchtsskandal, daß das ganze Hotel dröhnte. Hinterher kniete sie vor ihm nieder und bat weinend um Vergebung. Sie fuhren gemeinsam auf drei Tage nach Berlin. Hier ein Skandal auf der Straße »Unter den Linden«. Franzi war dieser Auftritt außerordentlich zuwider, er flüchtete sich in ein Geschäft. Jetzt sah er, daß dieses Vergnügen kein Vergnügen mehr war. Er kaufte einen Brillantring, der ein kleines Vermögen wert war, und floh mit Bellonis Hilfe vor der Tänzerin. Dem Ring legte er ein paar Abschiedszeilen bei, dann fuhr er nach Braunschweig. Dort ein Riesenerfolg. Sein Konzert war auf abends sieben Uhr im Medizinischen Gartensaal festgesetzt. Das Publikum stand aber schon um zwei Uhr nachmittags am Eingang, um einen guten Platz zu bekommen. Viele hatten sich Handarbeiten, Bücher und Brot mitgebracht, um sich die Wartezeit zu verkürzen. Die Notabilitäten der Stadt statteten ihm nacheinander anschließend an das Konzert Besuche ab. Nach dem großen Erfolg des Konzertes ging er glücklich in sein Hotel. Lolas Anwesenheit wäre hier besonders peinlich gewesen. Und als er in sein Zimmer trat, stand Lola vor ihm.

»Du wirst nicht wieder vor mir ausreißen!« schrie ihn die kreolische Schönheit an und warf ihm den Ring vor die Füße. »Ich brauche deinen Ring nicht, sondern dich selbst.«

Sie fuhren zusammen nach Magdeburg. Hier entschloß sich Franzi, endgültig Ordnung zu schaffen. Vor allem gab er Lola eine falsche Richtung an, in der er von hier aus weiterreisen würde. Während sie schlief, stahl er sich in einem geeigneten Augenblick aus dem Hotelzimmer, drehte den Schlüssel von außen um und sagte unten zum Portier:

»Die Künstlerin ist oben geblieben. Ich habe die Tür von außen zugesperrt. Jetzt schläft sie. Wenn sie aufwacht, wird sie zweifellos einen fürchterlichen Lärm schlagen. Sie werden die Tür jedoch erst morgen früh um sieben Uhr öffnen. Haben Sie verstanden? Hier sind zwanzig Taler.«

Und fuhr nach Hannover. Da atmete er beglückt auf. Schon peitschte aber ein neues Ereignis seine schwer erkämpfte Ruhe auf. Er erhielt von Marie einen Brief in einem noch nie gebrauchten leidenschaftlichen Ton, in dem sie ihn wegen der Lola Montez zur Rede stellte. Einen ganzen Monat war er mit der Tänzerin herumgereist, die Zeitungen wagten auch schon Anspielungen, ihm war aber nicht einmal der Gedanke gekommen, das Abenteuer zu verheimlichen. Zwischen ihm und Marie konnte man schon seit Jahren nicht mehr von Treue sprechen. Man sah dem Brief der Frau auch viel zu deutlich den Zweck an, sich entweder den vollständig freigewordenen Künstler wieder zurückzuerobern, oder aber einen Grund zur Trennung zu haben. Jedenfalls war der Ton des Briefes so grob und so roh, wie es in ihrem Briefwechsel bislang noch nie vorgekommen war.

Er erwiderte verletzt und zornig. Er wähnte seine Freiheit in Gefahr, und das erregte ihn. Trotzdem antwortete er so, daß Marie die Verbindung mit ihm aufrecht erhalten konnte, wenn sie wollte. Die Antwort war eine nicht mißzuverstehende Trennung.

Über die Wiedererlangung seiner langersehnten Freiheit hätte er nun eigentlich aufatmen und aufjauchzen müssen. Trotzdem fühlte er eine sonderbare, unruhige Verstörtheit in sich. Er entdeckte in seinem Herzen unsichtbare Fäden, die der Trennungsbrief blutig riß, und diese Fäden schmerzten jetzt. Er verstand sich selbst nicht. Wenn er sich prüfte, ob er diese Frau noch liebte, so mußte er ehrlich zugeben, daß dies nicht mehr der Fall war. Was tat dann aber noch weh? Er quälte sich, er grübelte über den Trennungsschmerz und konnte doch keine Antwort finden.

Da fuhr er nach Paris und schrieb ihr sofort einen Brief mit der Bitte um eine Aussprache. Die vollständige Trennung ging leichter vonstatten, als er es sich gedacht hatte. Marie war kalt und hochmütig. Wahrscheinlich hatte sie von Seiten Franzis reuige Verzweiflung erwartet, als das aber nicht eintrat, zog sie die Augenbrauen in die Höhe und sah von der einstigen hohen Warte des Faubourg Saint-Germain als Gräfin D'Agoult auf den Künstler bürgerlicher Herkunft herab. Das hatte Franzi nur noch gefehlt. Sein verletzter Stolz konnte solche Scherze nicht verstehen. Er wurde abweisend und hart. Über die Zukunft der Kinder verhandelten sie wie zwei Feinde. Trotzdem einigten sie sich: die beiden Mädchen kommen in das Bernardsche Internat, wo man nur vornehme und reiche Töchter aufnimmt, der kleine Daniel bleibt vorerst bei der Großmutter, dann kommt auch er in ein Internat. Die gesamten Kosten der Erziehung der drei Kinder nimmt Franzi für immer auf sich und wird sogar auf zwei getrennte Bankkonten einen ansehnlichen Betrag deponieren, damit die Zukunft der Töchter gesichert sei, wenn ihnen beiden etwas zustoßen sollte, obwohl die Mädchen früher oder später ja doch heiraten werden …

Ein einziges gutes Wort hatte er nach so vielen Jahren erwartet, das diesen Augenblick erträglicher gemacht hätte. Marie aber gab ihm nicht einmal die Hand. Sie trennten sich im Bösen. Im Vorzimmer begegnete er einer schlanken jungen Dame. Er begrüßte sie mit einem Kopfnicken. Erst draußen auf der Straße besann er sich darauf, wer es war: die Komtesse D'Agoult, Maries älteste Tochter, bald im heiratsfähigem Alter.

Daß sie im Bösen auseinandergegangen waren, konnte er schon am anderen Tage verspüren. Aus zwei Quellen hörte er, daß Marie gegen sein nächstes Konzert intrigierte. Sie besuchte mehrere Leute, um sie von diesem Konzert fernzuhalten. Sie versuchte, die noch nicht ganz eingeschlafenen Musikkritiker der Thalberg-Partei aufzuhetzen. Ihre Bemühungen waren aber vergeblich. Das Konzert lief mit einem großen Erfolg ab. Auch in der Presse war keine feindliche Einstellung fühlbar.

Da erhielt er einen Brief von Heine. »Ich erwarte Sie morgen zwischen zwei und drei in meiner Wohnung, mein Lieber. Ich habe meinen ersten Artikel über Sie geschrieben, den ich noch vor Ihrem zweiten Konzert verschicken möchte. Vielleicht ist jedoch etwas darin enthalten, was Ihnen nicht gefällt. Deshalb ist es besser, wenn wir vorher über die Angelegenheit sprechen. Ihr H. Heine.«

Nicht ohne Argwohn kam er der Einladung nach. Heines Ruf war in den letzten Jahren ein sehr schlechter geworden. Er belästigte berühmte Persönlichkeiten mit aufdringlichen Geldbitten, und wenn sie sich nicht freigebig zeigten, ließ er sie seinen Groll in widerwärtigen Zeitungsartikeln fühlen; mit einem Worte, er trieb eine Revolver-Politik.

Eugenie öffnete Franzi die Türe, jene kleine Kaufmannstochter, die sich von Heine heiraten ließ. Der Dichter lag im Bett; er trug einen grünen Augenschirm. Er empfing den Besucher außerordentlich liebenswürdig und ging gleich zur Sache über, indem er ihm das Manuskript des Artikels überreichte. Franzi las es durch. Tatsächlich waren einzelne Stellen darin enthalten, die den französisch-deutschen Gegensatz ein wenig scharf betonten. Das billigte er durchaus nicht.

»Im übrigen«, sagte Heine, während Franzi las, »daß ich es nicht vergesse. Ich bin in einer sehr mißlichen Lage. Sie würden mich außerordentlich verpflichten, wenn Sie das da unterschreiben würden.«

Er überreichte ihm einen bereits ausgeschriebenen Wechsel über dreitausend Franken. Franzi wiegte den Kopf hin und her.

»Ich bedaure außerordentlich, das kann ich aber nicht unterschreiben. Sie wissen sehr gut, daß ich wahllos jedem zur Verfügung stehe, der sich an mich wendet. Meinen Kritikern aber kann ich kein Geld geben, da ich mich dessen schämen würde. Da könnte man ja auf den Gedanken kommen, daß ich die Anerkennung meiner Kunst durch Geld erkauft habe. Unmöglich!«

Heine schwieg eine Weile, dann entgegnete er gereizt:

»So? Es ist gut. Verzeihen Sie, daß ich Sie gestört habe.«

Das klang wie eine Aufforderung, den Besuch zu beenden. Und als Franzi sich erhob, um sich zu entfernen, bat ihn Heine tatsächlich nicht zu bleiben. Franzi verspürte einen bitteren, ekelhaften Geschmack im Munde. Diese schmutzige Angelegenheit erregte ihn aufs äußerste.

Trauer, Unglück und Lustlosigkeit überall, wohin er nur sah. Er besuchte Chopin und erkannte ihn kaum wieder. Der arme Friedrich war zu Haut und Knochen zusammengeschrumpft. Rote Flecke auf seinen eingefallenen Wangen, anhaltender typischer Husten und die fiebrige Wärme seiner Hände verrieten unbarmherzig die schwere Lungenkrankheit. Dann besuchte er Berlioz: der hatte sich gerade von seiner Frau scheiden lassen, weil er sich in eine Spanierin, Maria Recio mit Namen, verliebt hatte. Berlioz war gereizt und aufgewühlt. Franzi begegnete dem seit langer Zeit nicht mehr gesehenen Pater Lamennais; der war sehr alt geworden, kränkelte in einem fort und hatte tausenderlei Beschwerden.

Nur die erfrischende gute Laune des Grafen Alexander Teleki milderte seine Qualen einigermaßen. Der ungarische Graf war nach Paris gekommen und überraschte ihn mit einem sonderbaren Geschenk: er brachte ihm einen Zigeunerjungen mit. Dieser Knabe mochte etwa zwölf Jahre alt sein. In seinem braunen, indischen Gesicht funkelten diamantene schwarze Augen, seine Haare sahen aus wie eine schwarze Pferdemähne. Er trug einen zerschlissenen Husaren-Dolman, seine Hose war zerrissen und voller Flecke.

»Wer ist denn das?« fragte Franzi überrascht.

»Sie haben sich mehr als einmal gewünscht, ein begabtes Zigeunerkind auf der Violine ausbilden zu lassen. Bitte, diesen Jungen mache ich Ihnen zum Geschenk. Sie können über ihn ebenso verfügen, wie über einen kleinen Hund. Er heißt Jozsi.«

Franzi bedankte sich für das Geschenk und war tüchtig verlegen. Er konnte nichts damit anfangen. Deshalb ließ er dem Kind vorerst einmal anständige Kleider besorgen und brachte es bei seiner Mutter in der Küche unter. Dann prüfte er sein Violinspiel, der Zigeunerjunge konnte wirklich ganz geschickt spielen. Alsbald aber wurde er der Fluch des ganzen Hauses. Er naschte, er stahl, er steckte seine Nase überall hinein und verdarb alles. Sprechen konnte niemand mit ihm, weil er nur ungarisch und zigeunerisch sprach. Endlich mußte man ihn aus dem Hause schaffen. Franzi brachte ihn mit voller Verpflegung unter. Dann nahm er den Jungen mit zu Massart, dem Violinlehrer am Konservatorium, und ließ ihm Privatunterricht erteilen. Die Verpflegung, die Unterrichtsstunden und den französischen Sprachlehrer bezahlte er gleich im voraus für ein ganzes Jahr.

Den Widerhall seines Besuches bei Heine erlebte er noch vor seiner Abreise aus Paris. Der Artikel, den ihm Heine seinerzeit vorgelegt hatte, erschien in ganz anderer Form. Arglistig und gemein nahm Heine Rache dafür, daß Franzi nicht geneigt war, seine Anerkennung zu erkaufen. Er behauptete nun gerade, daß Liszt die Anerkennung zu erkaufen pflege; er selbst bezahle die Lorbeerkränze, die Blumensträuße und die Huldigungsgedichte. Damit man ihn aber nicht der Erpressung verdächtige, lobte er den allgemein bekannten Opferwillen und die in Geldangelegenheiten so freigiebige Hand des großen Künstlers …

Seinen Kindern hinterließ Franzi ein Morgengebet für drei Kinderstimmen mit Klavierbegleitung, das Gedicht Lamartines: »O Vater, den mein Vater ehret.« Er schrieb es für zwei Sopran- und eine Altstimme. Dann ging er wieder auf Reisen mit verbrauchten Nerven und zerrissenem Herzen. Er grübelte immerfort nach, ob er richtig gehandelt hatte oder was er sonst hätte tun müssen. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu ein und derselben Erwägung zurück, ob er seinerzeit das Recht gehabt, Marie aus ihrem Heim herauszureißen. Darauf konnte er sich aber keine Antwort geben. Marie hatte sich an der Seite des Grafen D'Agoult unglücklich gefühlt, jetzt aber »lebte sie ihr eigenes Leben«, hatte sich eine neue Stellung in der Gesellschaft geschaffen, war vermögend und frei. Ihre heutige Position würde sie kaum mit der vor zehn Jahren vertauschen. Und schließlich und endlich hatte sie ihren Namen mit einer Weltgröße verbunden, diesen Namen, der sonst im Nichts vergangen wäre, so aber ein Stern bleiben würde wie der Mond, der im Weltall von der Erde seinen Glanz verliehen bekommt. Wenn dem ehrgeizigen Herzen von Marie irgend etwas überhaupt wichtig war, so war es dies. Nicht immer konnte er sich jedoch mit diesen Erwägungen beruhigen. Man konnte das Ganze ja auch noch mit anderen Augen ansehen. Er verliebte sich in eine Frau, schwor ihr das Blaue vom Himmel herunter und, nachdem sie ihm außerehelich drei Kinder geboren, betrog er sie auf Schritt und Tritt. Alle jene schlechten Eigenschaften Maries, ihr maßloser Egoismus, ihr ernüchternder Gleichmut ihren Kindern und der Arbeit ihres Lebensgefährten gegenüber und ihre starre Abneigung gegen jedweden Fortschritt konnten seine Sünden als Mann nicht mildern. Er hätte vor zehn Jahren prüfen müssen, mit wem er sein Leben verknüpfte. Aber, du lieber Gott, er war damals zweiundzwanzig Jahre alt, wie hätte er mit untrüglichem Blick in die Seele einer reifen Frau hineinschauen können?

Die Frauen, die Frauen … unzählige Male beschwor er die letzten Worte seines sterbenden Vaters herauf, der sich der Frauen wegen um ihn sorgte. Damals wunderte er sich über diese Bemerkung und verstand sie nicht. Heute staunte er über den Scharfblick und die weise Menschenkenntnis seines längst schon zu Asche gewordenen Vaters. Aber was sollte er tun? Er war eben mit der Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Küssen geboren, und es war sein Schicksal, daß sich ihm beides unverlangt anbot. Er konnte doch nicht aus seinem eigenen Ich heraustreten …

Und in diesem Gram, in diesem lichtlosen und unschlüssigen Umherirren seiner Instinkte und Gefühle tauchte im strahlenden Glanze der Reinheit das Gesicht der Gräfin Saint-Cricq auf. Diese Erinnerung wühlte ihn jetzt bis auf den Grund seiner Seele auf. Anschließend an die Konzerte in Frankreich mußte er nunmehr nach Spanien reisen und kam so auch nach Pau. Der Grundbesitz des Grafen D'Artigaux grenzte an Pau. Das hatte er nicht gewußt. Während des Konzertes leuchtete ihm jedoch aus der ersten Reihe der Zuhörer ein Gesicht entgegen, und ihm war, als hätte ihn der Blitz getroffen. Es war das Gesicht Lilines. Während der vergangenen sechzehn Jahre hatte es sich kaum verändert. Er mußte eine unmenschliche Kraft aufbringen, um seine Ergriffenheit zu bekämpfen und Klavier spielen zu können. Als er ihr nach dem Konzert im Gedränge der Hinausgehenden gegenüberstand, bebten seine Lippen, und er konnte kaum ein Wort hervorbringen. Er hielt nur die feine weiße Hand in der seinen und blickte unentwegt in das angebetete schöne Antlitz.

»Ich kann es nicht fassen … mir ist, als ob ich träume …«

»Mir auch, Franzi … mir ist es auch so …«

Sie schwiegen, öffneten immer wieder die Lippen, aber ihre wie das Meer sich ergießenden Gefühle fanden keine Worte.

»Wie geht es Ihnen?« Nur das konnten sie beide sagen und antworteten gar nicht, sahen einander nur unentwegt in die Augen.

Endlich fingen sie an zu sprechen. Liline war allein zu dem Konzert gekommen, ihr Mann nahm an einem längeren Jagdausflug teil, sie hatte sich einem benachbarten Gutsbesitzersehepaar angeschlossen. Sie vereinbarten miteinander, daß Franzi am anderen Tag Schloß D'Artigaux besuchen würde.

Er schlief kaum, er schlummerte nur unruhig und kehrte aus dem Wirrwarr der Traumbilder immer wieder in den Zustand des Wachseins zurück. Er stand viel früher auf, als er vorgehabt hatte, und schlenderte unschlüssig durch die Straßen mit ihren vielen Erinnerungen an die Herrscher Navarras, bis die vereinbarte Zeit der Abfahrt herankam. Auf einem holprigen Gebirgspfad fuhr ihn der Wagen an den Hängen der Pyrenäen entlang. Dann tauchte das Schloß auf und am Portal die rührende Frauengestalt. Als sie sich gegenübersaßen, tasteten sie sich abermals nur schweigend und vor Rührung zart und unendlich liebevoll mit den Augen ab. Und auf einmal fingen sie beide an zu weinen. Sie schluchzten aus tiefstem Herzen und hielten sich bei den Händen. Sie umarmten sich nicht. Die strenge Zurückhaltung von jeder körperlichen Berührung war heute genau noch so wach in ihnen wie vor Jahren.

Als sie ihre Tränen getrocknet hatten, brach endlich ihr Redebedürfnis durch. Hastig fielen sie sich gegenseitig ins Wort, sie konnten kaum Ordnung in ihren Berichten schaffen. Zuerst erzählte Liline ihren Lebenslauf. Der war sehr traurig. Noch im ersten Jahr ihrer Ehe gebar sie ein kleines Mädchen, das vom ersten Tage an dauernd krank war. Irgendeine fürchterliche Krankheit hatte die Gelenke der Knie und Hüften befallen, und die Ärzte hielten das Kind für unheilbar. Liline hatte es schon in verschiedene Bäder mitgenommen, man versuchte alles nur mögliche, – alles umsonst, der Zustand des kleinen gelähmten Mädchens wollte sich nicht bessern. Im übrigen führe sie ein ruhiges, erlebnisarmes Eheleben, ihr Gatte sei ein guter Mensch. Zurückgezogen verbrächten sie ihre Jahre in diesem Schloß, und hätten sie sich schon einmal von hier weggerührt, so sei es nur der kranken Tochter wegen geschehen …

Liline führte den Gast auch zu dem kranken Kinde. Es war ein blasses Mädchen mit feinem Gesicht, und es bestaunte mit weitaufgerissenen Augen den weltberühmten Mann, von dem ihm seine Mutter offenbar schon viel erzählt hatte. Franzi munterte es mit einigen heiteren Worten auf, sie lachten alle drei. Nachdem er die kleine Kranke aber auf die Stirn geküßt und sie sich aus dem dumpfen, von Arzneigeruch erfüllten Zimmer entfernt hatten, standen ihrer beider Augen wieder voller brennender Tränen …

Dann kam Franzi an die Reihe. Er erzählte seine Lebensgeschichte, seinen schmerzlichen und schlecht endenden Roman mit Marie. Er beschönigte nichts, er klagte sich eher selbst an. Die Erzählung war lang und die Stunden vergingen. Als Franzi die Beichte beendet hatte, nach einer so langen Zeit die erste, folgte eine tiefe Stille.

»Haben Sie manchmal an mich gedacht?« fragte er leise.

»Ich denke unaufhörlich an Sie, Franzi. Seit sechzehn Jahren ist nicht ein einziger Tag vergangen, an dem ich nicht für Sie gebetet hätte. Ich habe auch an dem Tage für Sie gebetet, als mein Kind zur Welt kam. Die Liebe, die ich für Sie gefühlt habe, lebt heute noch. Sie hat sich aber in unbekannte Höhen erhoben, es ist nichts Irdisches mehr darin enthalten. Sie gleicht jetzt der Religion und hat mir geholfen, so unendlich viel Leid ertragen zu können. Wenn ich es nicht mehr ertragen zu können meine und glaube mich auflehnen zu müssen, dann denke ich an Sie, und dann kann ich mich dem Willen Gottes fügen. Und Sie? Haben Sie sich manchmal meiner erinnert?«

»Ich werde ganz aufrichtig antworten. Als ich mein Leben mit dem Leben der Gräfin D'Agoult vereinte, nahm ich mir vor, mit ihr eins zu werden und ihr treu zu sein. Damals mühte ich mich, nicht an Sie zu denken, und wenn ich trotzdem an Sie denken mußte, versuchte ich diese Gedanken sofort wieder zu unterdrücken. Dann gab es später eine Zeit, als ich zwischen oberflächlichen Abenteuern und zwischen Küssen, bei denen das Herz nicht dabei war, wiederum nicht an Sie denken wollte, weil ich das Empfinden hatte, damit Ihr reines Andenken zu verletzen. In der letzten Zeit aber beschwor ich die Erinnerung an Sie um so öfter herauf. Ihr Andenken, Liline, bedeutet für mich einen unsagbaren Schatz. Es ist der einzige reine Punkt in meinem Leben. Es gibt nichts mehr in meinem Herzen, wogegen ich nicht schon gesündigt hätte. Zu meiner Mutter war ich schon herzlos und ungerecht. Mit meinen Kindern war ich ungeduldig und hart, wenn sie mich allzusehr plagten. Ich sündigte sogar gegen meine Kunst, denn ich habe zum Beispiel einmal das Gedicht einer Berliner Schauspielerin nicht der Verse wegen, sondern der Frau wegen vertont. Sie sind die einzige, an der ich nie gesündigt habe. Ihr Andenken ist in meinem Herzen schneeweiß, himmlisch klar und makellos wie ein Gebet geblieben. Und so wird es auch bleiben, solange ich lebe …«

Sie waren allein, es störte sie niemand. Keinem von ihnen kam aber der Gedanke, daß sie sich auch nach den Gesetzen der irdischen Liebe angehören könnten. Uber ihnen schwebte die heilige Reinheit des Märtyrertums. Sie saßen sich minutenlang schweigend und versunken gegenüber, diese Stille war aber die lilienreine Stille des Glücks. Später setzte sich Franzi auch ans Klavier. Er spielte das Morgengebet, das er für seine Kinder komponiert hatte …

Früh am Vormittag war er gekommen und lange nach Sonnenuntergang war er noch immer da. Liline beschloß, ihn ein Stück zu Fuß zu begleiten. Der Wagen fuhr leer die Straße entlang, sie gingen langsam hinterher. Die erquickende und unermeßliche Ruhe der Gebirgslandschaft senkte sich auf die herannahende Dämmerung, in der sie dahinschwebten. Von Pau her erklang der Glockengesang des Angelus, der leise Abendwind spielte mit ihm einmal abschwächend, einmal anschwellend. Sie blieben stehen und bekreuzigten sich. Anstelle eines Gebetes sprach Liline aber andere Worte:

»Versprechen wir einander, Franzi, daß wir, so oft wir in unserem Leben das abendliche Glockenläuten hören, aneinander denken werden.«

Wortlos reichte ihr Franzi die Hand. Mit diesem Händedruck verabschiedeten sie sich auch.

»Ob wir uns je wiedersehen werden?« fragte Franzi.

»Das ist nicht wichtig«, erwiderte Liline ernst, »ich werde sowieso bis zu meinem letzten Atemhauch bei Ihnen bleiben. Und Sie, suchen Sie sich eine gute liebenswürdige, zärtliche Frau, heiraten Sie sie und arbeiten Sie in einem stillen Heim und werden Sie glücklich!«

»Glücklich? Ich wäre nur glücklich geworden, wenn ich an Ihrer Seite hätte leben können. Sie sind das einzige menschliche Wesen, mit dem ich mich hätte eins fühlen können. Ohne Sie bin ich immer und ewig zur gefährtenlosen Einsamkeit verdammt.«

»Ich weiß es, Franzi. Gott hat es aber so befohlen, beugen wir uns. Jetzt gehen Sie und sehen Sie sich nicht um.«

Franzi küßte ihr die Hand. Seine Augen standen voll Tränen. Liline schluchzte. Der Wagen, dessen Kutscher nicht auf sie geachtet hatte, war inzwischen weit vorausgefahren. Franzi konnte vor Schmerz nicht nach ihm rufen und begann deshalb zu laufen. Er sah nicht zurück. Auch dann nicht, als er bei dem Wagen angelangt war. Er stellte sich nur die in der Abenddämmerung kaum erkennbare Gestalt vor, das Glück selbst, das ihm das Schicksal gezeigt hatte, um ihm durch dessen Verweigerung eine noch größere Wunde zu schlagen …

In dem kleinen ländlichen Hotel gab es kein Klavier. Trotzdem komponierte er bis spät in die Nacht hinein beim schimmernden Glanz der Kerzen. Er befaßte sich zu dieser Zeit viel mit den Gedichten Herweghs und hatte schon mehrere von ihnen vertont. Jetzt, als er seiner Gewohnheit gemäß vor dem Einschlafen in dem Gedichtband blätterte, vermochte er sich nicht zu sammeln und wollte das Buch gerade beiseite legen, als sein Auge an einer Strophe hängen blieb. Er überflog sie, dann las er sie noch einmal. Dann schlüpfte er in seinen Schlafrock und setzte sich an den Tisch. Leise summend malte er die Notenköpfe auf das Papier …

»Ich möchte hingehn wie das Abendrot
Und wie der Tag in seinen letzten Gluten:
O leichter, sanfter, ungefühlter Tod –
Sich in den Schoß des Ewigen verbluten!«

Nur der Struktur nach hielt er die Melodie und die Harmonie fest, dann legte er sich zur Ruhe. Er blies die Kerze aus und begann im Dunkeln in Gedanken Klavier zu spielen. Die rechte Hand trug die Melodie halblaut, mit gedämpfter Stimme, die linke verstreute die einzelnen Teile der Harmonie mit zartem, süßem Staccato. Er wähnte wunderschön zu spielen und schlief mit dem traurigen Lächeln dieses wehmütigen Liedes und mit der gesättigten Freude über die gelungene Komposition und ihren vollendetem Vortrag ein.


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