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Viertes Kapitel

Der Wagen hielt vor einem Palais des Quai Malaquais, das den Besucher mit feindseligem Hochmut empfing. Der Künstler überreichte mit weißbehandschuhter Hand dem Pförtner seine Visitenkarte. Er gab sich Mühe, unbefangen zu erscheinen, aber es gelang ihm nicht recht. Der Pförtner des Saint-Cricq-Palais kam ihm wieder ins Gedächtnis …

Er mußte nicht lange warten. Ein Lakai in Kniehosen geleitete ihn durch pompös ausgestattete Säle, die mit den riesigen Bildern der gepanzerten Ahnen die vornehme Herkunft der Bewohner und mit ihrer luxuriösen Einrichtung die vernichtende Macht des Reichtums verkündeten. Mit pochendem Herzen trat er in einen kleinen Salon. Dort befand sich die Gräfin D'Agoult in Gesellschaft einer anderen Dame und eines Herrn. Die Gräfin erhob sich, kam ihm entgegen und reichte ihm mit untadeliger Liebenswürdigkeit die Hand.

»Es freut mich sehr, daß Sie gekommen sind. Der Graf wird bedauern, daß er nicht zu Hause sein konnte. Erlauben Sie, daß ich Sie bekanntmache.«

Die andere Dame war die Frau des Marquis Gabriac, des ehemaligen französischen Gesandten in Stockholm, der Herr war Baron Meyendorff, ein Russe. Die Marquise begrüßte ihn ebenfalls sehr liebenswürdig, während der Baron ihm mit einer gemessenen Höflichkeit begegnete. Franzi setzte sich. Die Unterhaltung begann stockend und wollte nur sehr schwer in Fluß kommen. Das lag aber nicht an der Hausfrau, die mit den nichtssagenden Worten einer gewandten Gastgeberin unaufhörlich bemüht war, die Stimmung zu retten. Als der Baron schon zum drittenmal eine Bemerkung Franzis sehr von oben herab beantwortete, wandte er sich plötzlich an den Russen:

»Stehen Herr Baron in verwandtschaftlichen Beziehungen zu jenem Baron Meyendorff, der an der Unterdrückung der Polen teilnahm?«

»Selbstverständlich. Das ist mein jüngerer Bruder. Er wurde Kommandant von Warschau. Durch wen haben Sie von ihm gehört?«

»Durch meinen besten Freund Chopin.«

Der Baron war betroffen. Er konnte plötzlich nichts erwidern. Die Marquise Gabriac und die Hausfrau sahen sich verstohlen an. Über das Gesicht der Gräfin D'Agoult lief ein verstecktes Lächeln. Aber schon kam sie mit der mildernden Frage:

»Aber Sie sind kein Pole, nicht wahr?«

»Nein, Gräfin. Ich bin in Ungarn geboren.«

»Oh«, rief die Marquise, »das muß ein schönes Land sein. Der Graf Apponyi hat schon oft davon geschwärmt. Erzählen Sie uns doch etwas aus Ihrer Heimat.«

»Ich kann Ihrem Wunsche leider kaum nachkommen, Frau Marquise, weil ich Ungarn schon in meinem zehnten Lebensjahre verlassen habe. Ich habe nur noch eine ganz blasse Erinnerung an meine Kindheit. Aber ich habe schon einmal daran gedacht, diese Erinnerungen aufzuschreiben. Mickiewicz, der große polnische Dichter, den ich neulich kennenlernte, sagte mir in einem Gespräch, das Vaterland liege nicht auf der Landkarte, sondern im Herzen.«

Man sah es dem Baron Meyendorff an, daß er sich unbehaglich fühlte, er sagte aber nichts. Die Hausfrau unterdrückte abermals ein leises Lächeln, lenkte dann aber geistesgegenwärtig ein.

»Wir wollen bloß nicht anfangen, von Politik zu reden! Die Politik langweilt mich unsagbar. Die Musik hingegen langweilt mich nicht. Erzählen Sie uns doch bitte lieber, was es Neues in der Musikwelt gibt. Ich habe zum Beispiel gehört, daß Spontini in Paris weilt. Das interessiert mich außerordentlich, weil ich einige seiner Kompositionen spiele. Haben Sie ihn noch nicht gesehen?«

»O doch. Wir speisten erst vor kurzem zusammen bei der Familie Erard. Er ist nämlich mit einer Tochter des alten Erard verheiratet. Solange der alte Herr noch lebte, legte er sich bei seinen Familienbesuchen wenigstens einigen Zwang auf, seit aber der alte Erard – für mich übrigens fast ein zweiter Vater und ein hochherziger Gönner – gestorben ist, bemüht sich Spontini, hier ebenso den Tyrannen herauszukehren wie daheim in Berlin. Und das ist mir nicht besonders angenehm, da auch unsere musikalischen Ansichten in vielem nicht übereinstimmen.«

Gleich wollte der Baron wieder obenauf sein:

»Nun, dieser Spontini ist doch ein hervorragender Musiker.«

»Das stellte ich ja auch gar nicht in Abrede. Aber er gehört der Vergangenheit an. Heute regiert eine andere Musik. Meiner Auffassung nach folgt auch in der Musik, wie im Leben überhaupt, auf eine Zeit der Unterdrückung ein Zeitalter der Freiheit. Die rohe Gewalt mag vorübergehend den freien Gedanken unterjochen, am wechselvollen Lauf der Welt vermag das aber nichts zu ändern.«

Der Baron rutschte abermals nervös auf seinem Sessel hin und her, konnte aber wiederum nichts entgegnen.

Franzi hatte sich auch schon wieder an die Damen gewandt und fuhr fort:

»Ich hatte absichtlich Berlioz zum Mittagessen bei Erards mit einladen lassen, weil ich gerne bei Spontini ein wenig Interesse für ihn erweckt hätte. Aber ich bin vollständig damit durchgefallen. Spontini sagte mir unter vier Augen, daß Berlioz ein formloser, ungebildeter, barbarischer Musiker sei, mit dem er sich nicht abgeben wolle. Einige Tage später lobte Berlioz in einem Zeitungsartikel die Musik Spontinis bis in den Himmel. Ich lief sofort zu Erards und zeigte Spontini den Artikel. Er las ihn und sagte lediglich frostig: ›Als Kritiker scheint er hervorragend zu sein, seine Musik aber ist furchtbar schlecht.‹«

Die Damen lächelten. Die Gräfin D'Agoult erkundigte sich nach Berlioz. Franzi sprach lange begeistert von dem Freund, und als er bemerkte, daß der sich offensichtlich langweilende Baron Meyendorff im Begriff war, sich zu verabschieden, fuhr er mit einer geschickten Wendung fort:

»Berlioz machte mich übrigens sehr neugierig auf einen russischen Komponisten namens Glinka, den er in Rom kennengelernt hat. Das sei eine außerordentliche Begabung. Die unerhörte Urkraft, die mächtige lyrische Tiefgründigkeit, die in dem großen russischen Volke lebt, strahle nur so aus diesem genialen Musiker.«

Baron Meyendorff verabschiedete sich jetzt tatsächlich. Sonderbarerweise schlug er zuletzt einen liebenswürdigeren Ton auch dem Künstler gegenüber an. Es schien, als ob er noch etwas sagen wollte, aber er schwieg. Sogar zweimal drückte er ihm die Hand, dann verschwand der Russe. Franzi entging es nicht, daß die Blicke der beiden Damen ineinanderblitzten wie die Bestätigung des Einverständnisses zwischen zwei fröhlichen Kameraden. Es war nicht zu leugnen, wie sie seinen gesellschaftlichen Sieg über den Russen bewerteten. Und er gesellte sich als Dritter zum Spiele der spöttischen und vergnügten Blicke. »Nun, Sie haben den Baron ja geschickt erledigt!« – das sagten sie nicht, so sehr er darauf wartete. Die beiden Damen hatten sich zwar über den Russen lustig gemacht; sobald sie ihn aber ansahen, wurden sie würdevoll und höflich zurückhaltend. Das war ein schmerzlicher Schlag für seine selbstgefällige Stimmung. Natürlich, sie ließen ihn als Verbündeten gegen ihresgleichen nicht gelten. Ihnen war es erlaubt, über ein Mitglied ihrer Kaste zu lächeln, ihm nicht. Der unbefangene und vertraulich werden wollende Ausdruck in seinem Gesicht gefror plötzlich. Und als er jetzt die Gräfin D'Agoult ansah, erschien ihm diese verwirrende und betörende Frau auf einmal in unerreichbarer Ferne, obwohl er nur die Hand nach ihr auszustrecken brauchte …

»Ich möchte gern die Musik Ihres Freundes Berlioz kennenlernen. Mir ist nur sein Name zu Ohren gekommen und der um ihn entbrannte Streit. Aber seine Musik kenne ich noch nicht.«

Franzi sah sich um, suchte das Klavier, fand es auch etwas abseits stehend und setzte sich daran. Er spielte aber noch nicht, sondern fragte zögernd:

»Kennen die Damen das Gedicht ›Die Gefangene‹ von Victor Hugo?«

»Selbstverständlich!« riefen beide gleichzeitig, »aus seinem Band ›Orientales‹.«

»Dieses Gedicht hat Berlioz vertont. Wenn Sie sich der Worte nicht gut erinnern, will ich sie hersagen. Ich habe sie im Kopf.«

Er spielte und hob die Melodie stark hervor, dazu sprach er in verhaltenem Ton den Text:

»Wär' ich nicht hier gefangen,
Lieben könnt' ich dies Land,
Wo Maisfelder prangen.
Meeresflut küßt den Strand,
Unzählige Sterne lachen,
Doch der finstern Spahi Wachen
Seh' ich die Runde machen,
Den Säbel in der Hand.«

Schon auf dem Wege hierher hatte er sich vorgenommen, von diesem Gedicht zu sprechen. Unverstandenen Frauen, die in der Gefangenschaft einer trostlosen Ehe lebten, hatte dieses Lied, seit es in Paris bekanntgeworden war, schon manches Geständnis abgelockt. Vom Leben und von der Ehe dieser Frau wußte er noch gar nichts. Er glaubte, durch dieses Lied irgend etwas erfahren zu können. Während des Spieles erhaschte er mit schnellem Blick das Gesicht der schönen Frau, das starr und verschlossen wie das einer Marmorbüste war. Er fuhr fort:

»Doch wenn zumal die Wangen
Kosende Kühle streift,
Des Nachts, o welch Verlangen
Zu träumen mich ergreift.
Ein Sehnen kommt gezogen
Vom blauen Himmelsbogen,
Indes auf Meeres Wogen
Des Mondes Silber schweift.«

Die beiden Frauen sahen sich verstohlen an, ergriffen und ernst, wie zwei, die alle Geheimnisse, auch das größte, voneinander wissen. Als ihre Gesichter sich aber ihm zuwandten, wurden sie wieder ausdruckslos, unbeweglich und höflich.

»Besitzen Sie die Noten?« fragte die Gräfin D'Agoult mit gleichgültiger, ein bißchen rauher Stimme.

»Ich würde mich freuen, wenn … wenn ich sie Ihnen schicken dürfte.«

»Ich würde mich freuen, wenn Sie sie persönlich herbringen wollten. Ein so wunderbares Klavierspiel habe ich noch nie gehört. Ich verstehe etwas davon. Das ist die Vollkommenheit selbst. Ich bin überzeugt, daß man besser nicht mehr Klavier spielen kann.«

»Leider. Ich glaube auch«, sagte er leichthin, »aber ich möchte, daß … ich möchte weiterkommen und dadurch … und dadurch einen Inhalt bekommen … so herrscht eine solche Ruhe auf dieser Höhe, auf die ich mich mühsam hinaufgequält habe …«

Alles das sagte er leise vor sich hin in der Hoffnung, die Teilnahme der beiden Damen zu erwecken: »Wieso hat denn Ihr Leben keinen Inhalt?« Aber sie fragten nicht. Die Gräfin D'Agoult antwortete zu seiner größten Überraschung mit einem deutschen Zitat:

»Über allen Wipfeln ist Ruh.«

»Sprechen Sie deutsch, Gräfin?«

»Selbstverständlich, genau so wie französisch. Ich bin durch meine Mutter ein halbe Deutsche. Ich kann also auf diese Noten rechnen? Ich möchte das Lied singen.«

»Wann gestatten Sie, Gräfin, daß ich es Ihnen bringe?«

»Je früher, desto besser. Es ist ein sehr schönes Lied. Um diese Zeit bin ich meistens zu Hause. Wenn Sie morgen zufällig in dieser Gegend zu tun haben sollten, geben Sie es bitte ab. Ich würde mich aber auch sehr freuen, wenn Sie sich anmeldeten. Bin ich nicht zu unbescheiden, wenn ich die Noten schon morgen haben möchte?«

Das klang wie Abschied. Franzi stand auf und verbeugte sich:

»Die Noten werden morgen da sein.«

Man forderte ihn nicht zum Bleiben auf. Er küßte beiden Damen die Hand. Draußen beeilte er sich in eine stille Straße einzubiegen, um dort, ohne Aufsehen zu erregen, stehenbleiben zu können. Er brauchte für einen Augenblick Ruhe, weil er in sich nochmals das Gefühl heraufbeschwören wollte, das ihn ergriff, als er die Hand der Gräfin D'Agoult in der seinen hielt. Es war eine schneeweiße, gepflegte, sich wie Samt anfühlende Hand, deren leichter Druck noch immer in seiner Handfläche prickelte …

Am anderen Tage brachte er die Noten. Diesmal fand er keine Besucher bei der Gräfin vor. Sie fingen an von Literatur zu sprechen, als er ihr die Noten mit dem daruntergeschriebenen Gedicht überreichte. Sie war in der modernen Literatur zu Hause. Von jedem Werk und von jedem Schriftsteller hatte sie sich ihre eigene Meinung gebildet. Franzi war gewöhnt, bei literarischen Unterhaltungen in der Gesellschaft das Wort zu führen. Hier mußte er sich aber zusammennehmen, weil es sich sehr bald herausstellte, daß die Gräfin unvergleichlich mehr und viel systematischer gelesen hatte als er. Aber nicht nur in der französischen Literatur war sie bewandert, sie las ebenso gut deutsch und englisch. Mit Goethe verband sie sogar eine persönliche Erinnerung.

»Das war damals, als ich als kleines Mädchen in Frankfurt zu Besuch war. Wir hatten da eine Sommerwohnung außerhalb der Stadt, ein nettes, liebes, altes Haus. Im übrigen war es eine berühmte historische Stätte, denn Napoleon hatte in diesem Hause nach der Schlacht bei Leipzig übernachtet. Dieses Haus hatte einen großen Park, und die weitverzweigten Äste der uralten Bäume breiteten sich über die schönen Wege. Einmal lief ich gerade in diesem Park mit meinen kleinen Spielkameraden umher, als wir auf der großen Allee einen Greis kommen sahen, begleitet von den erwachsenen Mitgliedern unserer Familie, die mit tiefer Ehrfurcht zu ihm aufschauten. Wir wollten weglaufen, aber ich wurde zurückgerufen. Zögernd drehte ich mich um und ging langsam auf die näherkommende Gruppe zu. Mein Onkel faßte mich bei der Hand und stellte mich vor den alten Herrn hin: ›Das ist meine kleine Nichte Marie de Flavigny.‹ Goethe, denn er war es, nahm meine Hand und sagte etwas zu mir, ich war aber so erschrocken, daß ich es nicht verstand. Dann wandte er sich wieder meinem Onkel zu, ließ aber meine Hand nicht los und so gingen wir bis zur nächsten Bank. Dort setzte er sich und zog mich neben sich. Ich wagte kaum, ihn anzusehen. Aber ich erinnere mich heute noch an seine großen, flammenden Augen und seine mächtige Stirn, als ob es erst gestern gewesen wäre. Eine gute Weile blieben wir nebeneinander sitzen. Dann erhoben wir uns alle. Da legte er seine Hand auf meinen Kopf, als wenn er mich segnen wollte, und strich mir liebevoll übers Haar. Weiter kann ich mich dann auf nichts mehr besinnen.«

»Also leben wir beide mit der unvergeßlichen Erinnerung an zwei große Menschen«, sagte Franzi. »Die Gräfin hat Goethe gesegnet und mich hat Beethoven geküßt.«

»Wirklich? Wie war das? Erzählen Sie es mir bitte.«

Die Gräfin hörte ihm aufmerksam zu, der Name Beethovens hatte sie förmlich erregt. Sie unterhielten sich noch lange, und Franzi war ganz bestürzt, als er auf die Uhr sah. Er dachte, daß er erst eine halbe Stunde lang hier säße, es waren aber schon anderthalb Stunden vergangenen. Er sprang erschrocken auf und entschuldigte sich.

»Wann sehe ich Sie wieder?« fragte die Gräfin.

»Mein Gott, wenn ich es mir erlauben dürfte, möchte ich nach einer Stunde schon wieder zurückkommen. Ich werde wieder hier sein, sobald Frau Gräfin es gestatten.«

»Kommen Sie morgen, um nachzuholen, was wir heute versäumt haben: ich möchte mit Ihnen dieses Berlioz-Lied üben. Es schickt sich doch, daß Sie ein häufiger Gast bei mir werden, nachdem wir unsere Verwandtschaft entdeckt haben.«

»Unsere Verwandtschaft?« stammelte der junge Mann und sein Herz klopfte.

Die Gräfin nickte mit dem gnädigen Lächeln einer Königin:

»So ist es. Die geistige Verwandtschaft durch Goethe und Beethoven. Auf Wiedersehen, mein Herr.«

Au diesem Abend speiste er mit Chopin. Er schilderte dem Polen seine neue Bekanntschaft und berichtete ihm auch von dem Baron Meyendorff, von dessen die Polen betreffenden Äußerungen und seinen geschickten Entgegnungen. Chopin nickte zustimmend, aber man sah ihm an, daß seine Gedanken ganz wo anders waren. Als Franzi seine begeisterte Schilderung der schönen Gräfin beendet hatte, kam auch Chopin auf seine Angelegenheiten zu sprechen:

»Ich habe große Sorgen. Dieser jüdische Räuber, dieser Slézinger, will mich schinden, aber ich lasse es mir nicht gefallen.«

»Können Sie sich nicht einigen?«

»Nein. Dieser Blutegel. Er möchte aus mir alles heraussaugen, was er nur kann. Es gibt keine wildere und gefährlichere Bestie als diesen Verleger, das kann ich Ihnen versichern. Warum lachen Sie denn?«

»Ich lache darüber, Amico«, so nannte er Chopin, »weil jedermann weiß, daß in Paris kein Musiker schlauer verhandeln und geschickter einen Vertrag schließen kann als Sie, und weil ich daran denken muß, daß dieser Slézinger von Ihnen zu sagen pflegt: ›Chopin ist schlimmer als hundert Juden.‹«

»Hat er das gesagt?« rief Chopin erfreut, »das höre ich gerne. Aber sprechen wir von etwas anderem. Was macht denn Ihre alte Wunde? Haben Sie das Mädchen immer noch nicht vergessen?«

Er legte Franzi die Hand auf die Schulter.

»Ich werde es nie vergessen. Mit dieser Wunde kann ich nie glücklich werden. So wie dieses junge Mädchen kann ich nie wieder jemanden lieben …«

»Ist das sicher, Franzi?« fragte Chopin liebevoll und mit einem ganz kleinen bißchen versteckter Ironie im Ton.

»Selbstverständlich ist das sicher. Warum fragen Sie so zweideutig? Woran denken Sie?«

»Ich denke an die schöne Gräfin D'Agoult. So haben Sie noch nie von einer Frau geschwärmt.«

»Aber wo denken Sie hin! In dieser mittelalterlichen, sklavenseligen Gesellschaft trennt uns doch eine ganze Welt von so einer Frau. In der Weltgeschichte kenne ich nur einen einzigen derartigen Fall: van Dyck hat eine Hofdame der englischen Königin, die Lady Ruthven, geheiratet, deren Vater ein Baron und deren Großvater ein Earl war. Diese Entgleisung, daß ein einfacher Künstler, ein Hungerleider, ein armer Schlucker, eine der vornehmsten Aristokratinnen heiratete, hat sich nicht wiederholt.«

»Aber wer redet denn hier von Heirat? Und wenn wir schon von der Gunst der Aristokratinnen sprechen, dann können Sie sich doch weiß Gott nicht beklagen, Franzi.«

»Umsonst, Amico, umsonst. Trösten Sie mich nicht. Das ist alles nur Gift, was Sie mir eingeben. Es ist besser, wenn ich solche Gedanken gar nicht in mir aufkommen lasse. Lassen wir dieses Thema fallen. Woran arbeiten Sie jetzt?«

Statt einer Antwort setzte sich Chopin ans Klavier und spielte ihm die Phantasie » Je vends mes scapulaires« vor. Sie gingen im Klavierspiel auf und sprachen nicht mehr von den Frauen.

Tags darauf ging Franzi zu Erards. Die Damen durften den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, durch die Kunden ihres Geschäftes über jeden Klatsch in Paris haargenau unterrichtet zu sein. Mit einer betont zur Schau getragenen Gleichgültigkeit erzählte er von seinen Besuchen im Palais D'Agoult. Aber sie wußten nicht viel von der Gräfin. Sie sei seit ungefähr sechs Jahren verheiratet, ihr Mann sei wesentlich älter als sie, sie lebe ziemlich zurückgezogen und gehöre zum rechten Flügel der Legitimisten. Sie habe auch einen Bruder, den Diplomaten de Flavigny. Die D'Agoults seien unermeßlich reich, der Graf D'Agoult stamme aus einer der ältesten und angesehensten Familien, die Flavignys seien ebenfalls ein ganz hervorragendes Geschlecht.

Noch am selben Tage hatte er im Hause der Marquise La Valette Unterricht zu erteilen. Dort wollte er seine Nachforschungen möglichst unauffällig fortsetzen, aber die Marquise fing selbst davon zu sprechen an.

»Sagen Sie, lieber Litz, wenn Sie meine Frage nicht als zu neugierig auffassen, haben Sie schon von meiner schönen Freundin, Marie D'Agoult, eine Einladung bekommen?«

»Ja, die Gräfin hat mich bereits ausgezeichnet, und ich war auch schon bei ihr.«

»Dann nehmen Sie also zur Kenntnis, daß ich daran ein wenig beteiligt war. Als Sie sie neulich in meinem Hause kennenlernten, gefiel es mir gar nicht, daß sie Sie nicht einlud, wie es üblich ist. Am nächsten Tage besuchte ich sie und lenkte das Gespräch auf Ihre Person. Das andere wissen Sie ja.«

Franzi küßte der alten Marquise dankbar die Hand. Aber dann verfinsterte sich sein Gesicht sofort.

»Ich danke Ihnen verbindlichst, Frau Marquise, Sie sind sehr gütig. Ich hoffe, es hat Ihnen nicht allzuviel Mühe gekostet, mich einladen zu lassen. Oder doch? Dann wäre es besser gewesen, gar nicht hinzugehen.«

»Aber was fällt Ihnen ein! Die Gräfin war selbst sehr ärgerlich, daß sie nicht gleich daran gedacht hatte. Sie haben einen großen Eindruck auf sie gemacht. Und das will etwas bedeuten auf Ihrer Laufbahn, denn das Haus der D'Agoults ist eins der ersten Häuser dieses Landes. Der Onkel des Grafen, der Vicomte D'Agoult, war königlicher Stallmeister. Wissen Sie, wer den Ehevertrag meiner Freundin Marie unterzeichnet hat? Karl X. selbst, der Dauphin, die Herzogin von Berry und Ludwig Philipp, der jetzige König. Mit einem Wort also die ganze Dynastie der Orleans und der Bourbonen. Pflegen Sie diese Bekanntschaft gut, denn sie öffnet jede Tür vor Ihnen. Ich freue mich von ganzem Herzen, wenn ich Sie in Ihrem Vorwärtskommen unterstützen kann.«

Das Bild der blonden Frau verschwand abermals in eine weite, wehmütige Ferne. Der Traum einer Annäherung war auf einmal verflogen. Am gleichen Tage ging er zur Empfangszeit in das Palais D'Agoult. Diesmal traf er auch den Grafen an. Er war ein alternder, aber kerniger, sonnengebräunter Mann von etwas schroffem Wesen, ein Reiteroberst, sonst nichts. Er verweilte nur wenige Minuten unter den Gästen seiner Frau und verabschiedete sich dann soldatisch. Die Anwesenheit des langhaarigen Pianisten nahm er mit dem Wohlwollen eines ritterlichen Gemahls zur Kenntnis, der die unbedeutenden Launen seiner Frau großherzig übersteht. Es hatten sich noch die Herzogin de La Tremouille, die Herzogin Montmorency-Matignon, die Marquise Gabriac und vier oder fünf Herren eingefunden. Die meisten der Anwesenden kannte Franzi schon. Von einer vertrauten Aussprache mit der Hausfrau konnte keine Rede sein, um so mehr aber von Musik, denn es war leicht zu erraten, daß die Gräfin sich mit der Absicht trug, diesen Empfang zu einem kleinen Hauskonzert umzugestalten, wenn der weltberühmte junge Mann schon einmal unter ihrem Dache weilte. Franzi spielte anderthalb Stunden lang ohne Unterbrechung.

»Schade«, sagte die alte Herzogin Montmorency, »daß ich Sie nicht küssen kann, wie vor zehn Jahren. Sie können sich natürlich nicht mehr darauf besinnen. Das eine steht aber fest, in Paris gibt es niemanden, der von so vielen schönen Frauen geküßt worden ist, wie Sie, beneidenswerter junger Mann.«

»Und von Beethoven«, ergänzte stolz die Hausfrau.

Aber diese Bemerkung verfehlte ihre Wirkung, denn die Anwesenden gehörten nicht zu den Stammgästen der Habeneck-Konzerte.

Jetzt verging kein Tag mehr, ohne daß er die Gräfin besuchte. Sie waren entweder zu zweit oder mit der Marquise Gabriac zu dritt. Meist führten sie tiefsinnige Gespräche, immer aber nur über grundsätzliche Dinge, nie über persönliche Fragen. Er war ständig vom Wunsche beseelt, von sich selbst zu sprechen. Seine Erlebnisse und seine Erinnerungen hörte sich die Gräfin auch gerne an. Sobald er sich aber seiner Gefühlswelt nähern wollte, ließ der unbewegliche, abweisende Gesichtsausdruck der Frau den heißen Lavastrom erstarren, der sich aus ihm ergießen wollte. Sie sprachen viel von wahrhafter Gläubigkeit. Und von den Erörterungen über die Reinheit der Seele und des Glaubens hätte nur ein kleiner Schritt genügt, um auf die Liebe zu stoßen. Aber soweit kam es niemals. Und wenn Franzi keinen Schlaf finden konnte, sann er immer wieder darüber nach, wie es möglich sein konnte, daß die langen Stunden, in denen er damals mit der schneeweißen Gräfin Liline von nichts anderem als von Liebe gesprochen hatte, so lilienrein geblieben waren und daß hinter der steifen Maske des Zusammenseins mit der Gräfin D'Agoult, mit der er nie von Liebe sprach, heimlich die Feuerzungen einer wilden Sinnlichkeit loderten …

Einmal unterhielten sie sich von der Oper Meyerbeers »Robert der Teufel«. Franzi trug mit seinem betörenden Können die Phantasie vor, die die hauptsächlichsten Arien der Oper enthielt. Die Gräfin, die in ihrer Jugend auch Unterricht bei Hummel gehabt hatte, konnte dieses Stück am Klavier in keiner Weise bewältigen.

»Gab es denn überhaupt schon eine Frau, die das gut spielen konnte?« fragte sie ihren Gast.

»Ja, es gab eine, die es fast so gut spielen konnte; die Gräfin Laprunarède.«

Das Gesicht der blonden Frau erstarrte mit einem Male zu eisiger Kälte. In einem Ton, der schon von vornherein eine vertraute Unterhaltung über diesen Namen ausschloß, entgegnete sie leichthin:

»Ach, Adèle? Eine sehr gute Freundin von mir.«

Es war offensichtlich, daß auch sie, wie jeder in der guten Gesellschaft, von diesem Liebesroman gehört hatte. Sie war aber nicht geneigt, es zuzugeben, denn dadurch hätte sie die Hoffnung aufkommen lassen, daß ihre Bekanntschaft mit der Zeit auch persönliche Berührungspunkte aufweisen könnte. Aber diese Hoffnung sollte nicht auftauchen. Alle anderen Gesprächsstoffe aber waren ihr willkommen, sie zeigte sich immer sehr liebenswürdig und zuvorkommend und zeichnete ihren Gast bei jeder Gelegenheit aus. In der zweiten Woche ihrer Bekanntschaft wechselten sie schon Briefe miteinander. Das brachte ganz von selbst ein geliehenes Buch oder ein zurückgeschicktes Notenheft mit sich. Die Botendienste ins Palais D'Agoult versah Mutter Liszt selbst, während ihr Sohn seinen Unterrichtsstunden nachging. Franzi hatte sich nach besten Kräften bemüht, seine Mutter zu bestimmen, einen Diener zu nehmen. Umsonst, Mutter Liszt besorgte alles persönlich. Noch weniger durfte von einem Dienstmädchen die Rede sein, denn die Mutter erklärte kriegerisch, daß »die Frau erst noch geboren werden müßte«, die ihren Fuß in ihre Küche setzen dürfte. Sie räumte selbst auf, sie wusch selbst ab, sie erledigte ausnahmslos alle Arbeiten des zweiköpfigen Haushaltes, und jedem gegen diesen Vorsatz gerichteten Versuch ihres Sohnes leistete sie hartnäckigen Widerstand. Sie wies auf die kleine Wohnung hin, führte Sparsamkeitsgründe und andere praktische Erwägungen ins Treffen. Es war aber nicht schwer, den wahren Grund zu erkennen: ihre aus Raiding mitgebrachte Arbeitswut und ihre leidenschaftliche Hausfraulichkeit ließen es einfach nicht zu, von ihrer Arbeit, wie von einem ängstlich behüteten Schatz, einem anderen auch nur etwas abzugeben, und wäre es noch so wenig. Auch die Briefe vertraute sie keinem Boten an, weil sie das Trinkgeld scheute. Im geheimen war sie aber auch neugierig, die Dame kennenzulernen, die neuerdings jede freie Stunde ihres Sohnes in Anspruch nahm. Die von der Gräfin kommenden Nachrichten, die vormittags ein prächtig gekleideter Lakai brachte, nahm sie entgegen, und der wappengeschmückte Brief erwartete auf dem Schreibtisch den mittags von seinen Unterrichtsstunden heimkehrenden Sohn.

»Wenn Sie am Freitag abend nichts anderes vorhaben, mein Herr, würde ich mich freuen, wenn Sie zu mir kämen, um mich mit den versprochenen Schubertliedern bekanntzumachen. Unsere musikalische Verabredung für Sonntag abend bleibt selbstverständlich auch bestehen.«

Franzi gab noch am gleichen Tage Antwort, denn bis zum Abend hatte er keine Gelegenheit, die Gräfin zu sehen, und eine Dame der Gesellschaft mußte doch selbstverständlich schon gut einen Tag vorher die genaue Einteilung für den nächsten Tag festlegen. Das Mittagessen erwartete ihn schon am Tisch, er schrieb aber zuvor noch den Brief.

»Ich habe glücklicherweise erst gestern unter dem Vorwande, ich sei sehr müde, eine langweilige und antimusikalische Einladung zu Freitag abend abgesagt und Sie, Fran Gräfin, erlauben mir nun zu meinem noch viel größeren Glück, eine bis zwei Stunden in Ihrer Gesellschaft verweilen zu dürfen. Empfangen Sie dafür meinen aufrichtigsten Dank und seien Sie überzeugt, daß diese Woche zu meinen musikalisch schönsten und frohesten Erinnerungen gehören wird.«

Es war kaum ein Monat vergangen, – Franzi hatte so viel von seinen Freunden und Bekannten gesprochen, – daß die Gräfin nach einiger Überwindung erlaubte, sie ihr vorzustellen. Der junge Erard riet ihm davon ab, seine Freunde in dieses Haus einzuführen. Es sei viel klüger, eine so vornehme Verbindung für sich allein auszunützen. Andere sollten sich doch ihre gesellschaftlichen Verbindungen aus eigener Kraft schaffen. Franzi lächelte. Er glaubte, diesen guten Rat durchschaut zu haben: Chopin setzte sich für das Pleyel-Klavier ein, und das war nicht nach dem Geschmack Erards. Aber das sagte er nicht.

»Ich werde sie doch vorstellen. Es sind ja meine Freunde, die ich gern habe, und ich freue mich, wenn ich auch dort mit ihnen beisammen sein kann. Und wenn ich nicht bestrebt sein wollte, diese für so außerordentlich nützlich geltende ›Verbindung‹ auch meinen Freunden zugänglich machen, müßte ich mich ja vor mir selber schämen.«

Er nahm Berlioz und auch Chopin mit. Berlioz vermochte in diesem Hause keine Wurzel zu fassen. Die steife Vornehmheit war ihm zuwider, und auch sonst hatte er nicht viel anderes im Kopfe, als die englische Schauspielerin. Chopin aber wurde bald häufiger Gast. Besonders gefiel ihm die Marquise Gabriac, die ihrerseits den genialen Polen mit auffallendem Interesse auszeichnete. Kaum vier Wochen waren vergangen, und die Gräfin D'Agoult entdeckte, daß sie einen literarischen und musikalischen Salon in Paris hatte. Victor Hugo und Alfred de Vigny lasen ihre Verse vor, Chopin und Liszt spielten Klavier, Damen der Aristokratie und Diplomaten pflegten mit diesen Berühmtheiten Verkehr. Die starren Gesichtszüge der strahlend blonden Hausfrau entspannten sich, sie wurde lebhaft, viel fröhlicher, und in ihren berühmten azurblauen Augen lag ein ganz neuer, frischer Glanz. Sie machte den Eindruck einer Frau, die plötzlich eine bisher nicht geahnte Fähigkeit in sich entdeckt hatte und darüber sehr glücklich war.

Wenn sie sich mit Franzi allein unterhielt, vermied sie es auch jetzt noch, die Unterhaltung auf das Gebiet der Empfindungen abgleiten zu lassen. Sie lenkte die Gespräche aber immer mehr auf Persönliches: sie erkundigte sich nach seiner Tageseinteilung, seiner Arbeit, hauptsächlich aber nach seiner Gesundheit. Mit Mutter Liszt, die seine Briefe in das Palais brachte, ließ sie sich in längere, in außerordentlich liebenswürdigem Ton geführte Unterhaltungen ein. Sie beriet sich mit ihr darüber, was man unternehmen könne, daß der Herr Sohn nicht mehr soviel rauche, denn das müsse man unbedingt ändern. Des weiteren, daß der Monsieur Litz in letzter Zeit sehr viel huste, daß sie aber ein ausgezeichnetes Rezept für einen sehr guten Hustentee habe, den die Frauen in der Bretagne zu kochen pflegten. Und manchmal schickte sie nur deshalb eine Botschaft durch einen Lakai, damit Monsieur heute abend unter allen Umständen einen Mantel mitbrächte.

Die begehrenswerte, sein Blut in Wallung bringende Frau entfernte sich immer mehr von Franzi, statt dessen kam ihm eine sich selbst anbietende Muse immer näher. Und je mehr sorgende Anteilnahme die Gräfin, die er deshalb schon eine gute Freundin hätte nennen können, an den Tag legte, um so mehr bedrückte es ihn, daß der ersehnte Augenblick, in dem er einmal leidenschaftlich und kühn die Hand dieser Frau ergreifen würde, von Tag zu Tag in immer weitere Ferne rückte. Dafür kam eines Tages aber der Augenblick, in dem die Frau Franzis Hand faßte.

Sie saßen zu zweit im kleinen Salon, hatten gerade mit dem Klavierspiel aufgehört und schwiegen.

»Ich muß Ihnen etwas Trauriges sagen«, sprach endlich die Gräfin.

»Was?« hob erschrocken Franzi den Kopf.

»Der Frühling ist da, ich muß Paris verlassen. Wir ziehen in jedem Frühjahr nach Croissy und bleiben dort solange, als es die Wetterlage nur gestattet. Das tut den Kindern sehr gut. Und jetzt ist die Zeit gekommen, wo wir reisen müssen. Da wollte ich Ihnen noch sagen, daß es mir sehr schwer fällt, mich von Ihnen zu trennen, – als ob Sie mein Sohn wären.«

»Ihr Sohn?«

»Ach, mein Gott, um wieviel bin ich älter als Sie. Wissen Sie, wie alt ich in diesem Sommer werde?«

»Ich weiß, achtundzwanzig. Und ich zweiundzwanzig. Da ist es etwas schwer, mich als Ihren Sohn zu betrachten.«

»Und doch ist es so. Das hängt nicht von der Anzahl der Jahre ab. Ich betrachte Sie ernstlich als meinen Sohn. Ich bin froh, wenn ich mich um Sie sorgen kann und stolz, daß Sie so schön und so begabt sind. Außer Ihrer wirklichen Mutter könnte niemand Sie mit so mütterlichen Gefühlen lieben wie ich. Ich darf ruhig mit einer so unverhüllten Aufrichtigkeit sprechen; mein Leben ist ja über jeden Verdacht erhaben. Und Sie sind eine reine Seele, Sie können mich nicht mißverstehen. Nicht wahr, Sie tun es auch nicht?«

»Nein«, antwortete Franzi düster.

»Und nicht wahr, Sie werden meine mütterlichen Gefühle achten und den ganzen Sommer hindurch auf sich aufpassen, Sie werden das Rauchen und die Arbeit nicht übertreiben?«

»Nein, ich verspreche es.«

Da ergriff die Gräfin Franzis Hand.

»Mein lieber, guter, kleiner Sohn«, sagte sie zärtlich.

»Ihre Güte erschüttert mich tief, Gräfin«, stammelte er mit tonlos bebenden Lippen.

Seine Augen verschleierten sich. Aber nicht vor Ergriffenheit, sondern von den hervorbrechenden Tränen einer hoffnungslosen Bitterkeit. Die weiche, weiße Hand brannte wie Feuer auf der seinen. Er versuchte, sie unter irgendeinem Vorwande so schnell als möglich wegzuziehen. Bald darauf verabschiedete er sich und ging nach Hause. Er knirschte mit den Zähnen vor ohnmächtigem Zorn.

Anfang Mai hatte die Gräfin schon kaum noch Zeit, ihre vertrautesten Gäste zu empfangen. Sie war dauernd mit Einpacken beschäftigt, machte Besorgungen in der Stadt, fuhr nach Croissy und kam wieder zurück und hatte kaum eine ruhige Stunde, geschweige denn einen ruhigen Tag. So fanden sie auch nur zu einem flüchtigen Abschied Gelegenheit. Sie vereinbarten aber wenigstens, sich recht oft zu schreiben. Die Gräfin versicherte ihn abermals der aufrichtigen Zuneigung ihres mütterlichen Herzens.

Am Tage darauf kam ihm Paris wie ausgestorben vor. Er schlenderte ziellos in der Stadt herum, ging abends zum Palais D'Agoult und blickte zu den verschlossenen, stummen Fenstern hinauf. Er versuchte zu arbeiten. Er mußte die Klavierbearbeitung der Berlioz-Symphonie für die Druckerei ins Reine schreiben und nicht nur das, er mußte sie ganz neu und zum ersten Male überhaupt zu Papier bringen, denn bisher hatte er sie immer nur aus dem Kopf gespielt. Aber die Arbeit wollte ihm nicht von der Hand gehen. Er warf den Gänsekiel hin und lief wieder aus dem Hause, um einen weiten Spaziergang zu machen. Am großen Boulevard traf er Victor Hugo. Sie setzten ihren Weg gemeinsam fort.

»Was ist mit der schönen Gräfin D'Agoult?« fragte der Freund beiläufig.

»Sie ist gestern aufs Land gezogen.«

»Schade, ich wollte sie soeben besuchen. Eine sehr liebenswürdige Frau, und sehr schön!«

Franzi gab sich Mühe, den Teilnahmslosen zu spielen und bemerkte leichthin:

»Sehr schön, ja, aber nach meinem Geschmack ein bißchen kalt.«

Victor Hugo staunte und lachte seinem Freund ins Gesicht:

»Kalt? Wissen Sie, was diese Frau ist? Über sechs Fuß Lava sechs Fingerbreit Schnee. Wehe dem, der unter den Schnee gelangt.«

Franzi erzitterte am ganzen Körper vor Sehnsucht, seine Zähne schlugen sogar aufeinander. Und es sollte ganz gleichgültig klingen, als er entgegnete:

»Meinen Sie? Möglich!«


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