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Zwölftes Kapitel

Maries Traum war in Erfüllung gegangen. Sie reisten in Italien umher. Schon die italienischen Ortsnamen entzückten sie. Ravenna, Sesto Calende, Varese, – diese Worte sprach sie genießerisch mit besonderer Freude aus. Alles gefiel ihr, die Volkstracht, die Landstraßen, die Dorfkirchen, sogar Bäume und Sträucher lobte sie begeistert zum Nachteile der Schweiz und hatte ganz vergessen, daß einige Meilen hinter ihr in der Schweiz dieselben Bäume und dieselben Sträucher gedeihen.

Sie beschlossen, sich für einige Zeit da niederzulassen, wo es am schönsten war. Zunächst packte sie die Schönheit des Comersees so sehr, daß sie dort haltmachten. An der bezaubernden Lage Bellagios konnten sie sich kaum satt sehen. Das auf der in den See hineinragenden Landzunge liegende kleine Dorf, von dem aus sie den gabelförmig sich teilenden See nach drei Richtungen hin betrachten konnten, verlockte sie zu bleiben. Das war auch vom praktischen Standpunkt aus günstig, denn von hier aus konnte Franzi verhältnismäßig leicht Mailand erreichen, wo er Konzertpläne hatte. Anfänglich wollte er zwar seine Tage ungekannt und unerkannt und in vollkommener Ruhe neben Marie verbringen, – Mailand mußte er sich aber ansehen. Und wenn er schon einmal in Mailand war, dann mußte er auch unbedingt den Musikverlag Ricordi aufsuchen. Er sprach kein Wort, setzte sich an ein Klavier und begann zu spielen. Im nächsten Augenblick stand Ricordi selbst neben ihm:

»Das ist entweder der Teufel oder Liszt.«

Franzi lächelte, erhob sich und reichte ihm die Hand. Die ganze Firma scharte sich um ihn. Am anderen Tage schrieb bereits eine Mailänder Zeitung: »Glückseliges Italien, das den ersten Klavierkünstler der Welt auf seinem Boden begrüßen darf!« Das Unbekanntsein und die Ruhe waren dahin. Er mußte immer wieder nach Mailand reisen, um so mehr, als er hier zufällig lauter alten Bekannten begegnete. Rossini lebte jetzt ständig in Mailand, Nourrit gab in der »Scala« ein Gastspiel, bei Ricordi traf er Pixis, und wem lief er eines schönen Tages in den Weg? Keinem anderen als dem guten, alten, lieben, so lange nicht mehr gesehenen Hiller. Alles das hatte natürlich immer neue Zusagen weiterer Besuche und Pläne zu neuen Konzerten zur Folge. Mit seinem Erfolg konnte er sehr zufrieden sein, nur mit der Zusammenstellung der Programme hatte er Schwierigkeiten: Beethoven oder Weber anzusetzen war unmöglich. Die Italiener waren mit einer ganz anderen musikalischen Nahrung aufgewachsen.

Am ersten Weihnachtstage wurde sein zweites Kind geboren. Wieder ein Mädchen. Es erblickte in Como das Licht der Welt, und man taufte es Cosima. Marie wurde im Kirchenbuch als Marie de Flavigny eingetragen, nicht ohne daß der Pfarrer auskundschaftete, wieso Marie de Flavigny dieselbe Person sein konnte, die im Gästebuch des Hotels »Angelo« als Gräfin D'Agoult eingeschrieben war. Nach unendlichen Beschwerlichkeiten vermerkte er aber schließlich doch die kleine Cosima unter den neuen Sterblichen der Welt. Marie hatte sich schon lange vorgenommen, nach der Geburt von Cosima ihre beiden Kinder selbst zu hegen und zu pflegen. Auf dem Wege nach Italien hatten sie in Genf haltgemacht und Blandine besucht. Das Baby begann schon zu stammeln und war so reizend, daß Marie es am liebsten sofort mitgenommen hätte. Aber die Kleine hatte den Schnupfen. Frau Churet bekam Aufschub, bis das Kind wieder gesund war. Und eben jetzt, als Cosima zur Welt kam, erhielten sie beunruhigende Nachrichten von Blandine, ihr Zustand habe sich verschlechtert. Marie war voller Sorge und schwor sich, das Kind nie wieder aus den Händen zu geben, wenn es erst einmal wieder bei ihr war.

Als sie von der Geburt des zweiten Kindes genesen war und sich in einem reisefähigen Zustand befand, beschlossen sie, nach Venedig zu ziehen. An Mailand und den Seen hatten sie sich nunmehr satt gesehen. Brescia, Vicenza, Padua und viele andere schöne Städte erschlossen sich ihnen wie ein wunderbares Bilderbuch. Franzis Augen öffneten sich so weit, wie seine Seele. Vor dem einen oder dem anderen Bilde jauchzte er in ungestümer kindlicher Freude und bemühte sich, Marie in diese Verzauberung des Entzückens mit hineinzuziehen. Aber Marie kam nicht mit. Sie blieb die kühle, verschlossene Dame. Hundert- und aberhundertmal war es schon vorgekommen, daß er vor Begeisterung nicht aus noch ein wußte, Marie dagegen in einer unerreichbaren fremden Ferne blieb. Er wünschte nichts lebhafter, als daß Marie einmal etwas entgegnen möge, sei es auch eine Dummheit, ganz gleichgültig, nur begeistert sollte sie sein, aus sich herausgehen, mit dem Lebensgefährten mitgehen, nicht zurückbleiben. Wo war der Schwung? Der frostige Gleichmut der Frau, ihre Unbeweglichkeit warfen auch ihn aus den Wolken auf die Erde zurück. So erstickt die Steppe, die kein Echo kennt, den Schrei des Wanderers.

In Venedig kam dem Meister sein Mailänder Ruf zuvor. Die Theaterdirektoren, die Notenhändler und die Agenten umschwirrten ihn bereits am zweiten Tage nach seiner Ankunft mit den verschiedensten geschäftlichen Angeboten. Er aber hörte nur mit halbem Ohre hin, er wollte um jeden Preis die Wunder dieser zauberhaften Stadt sehen. Über das Gondeln freute er sich so herzlich, als ob er zehn Jahre alt wäre. Dann der Dogen-Palast, die Mosaiken des San Marco, Veronese, Tintoretto, die vielen Wunder, Staunen, Verzückung … Und neben ihm Marie. Marie, die in der Gondel fror, oder ihre Handschuhe vergessen hatte, derentwegen man umkehren mußte. Oder die darüber klagte, daß ihr vom Geruch des Wassers übel würde. Hin und wieder blickte er verstohlen zur Seite und wunderte sich grenzenlos über die wildfremde Frau neben sich. Er musterte ihr viel zu früh welkendes Gesicht, dessen fünfunddreißig Jahre mindestens vierzig vermuten ließen, das von keinem Schimmer einer schwungvollen, jungen Seele verklärt wurde. Dann schämte er sich aber gleich wieder. In das Schicksal dieser Fran hatte er eingegriffen. Wenn er ihr die alte Liebe nicht mehr schenken konnte, so war er ihr zumindest den Schein der vergangenen Glut unter dem Mantel der Geduld, Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit schuldig …

Eines Tages entdeckte er verblüfft einen Namen auf dem Theaterzettel des Theaters Fenice: Carlotta Ungher. Als die Primadonna auf die Bühne trat, erkannte er sie sofort wieder. Sie war es, die einstige Karoline, das Mädchen aus Stuhlweißenburg, das in seinem ersten Wiener Konzert mitgewirkt hatte, das erste unklare Ideal seiner Jugendliebe. Er rechnete sich schnell aus, wie alt sie jetzt sein konnte. Damals war sie achtzehn, jetzt mußte sie also fünfunddreißig sein. So alt wie Marie. Den Namen Ungher hatte er in Mailand schon einmal nennen gehört, aber da ging er an seinem Ohr vorbei. Er hätte sich auch nie vorstellen können, daß die berühmte italienische Koloratursängerin mit der einstigen Karoline identisch wäre. Während Karoline sang, schloß er die Augen und versuchte, sich in sein frühes Knabenalter zurückzuträumen. O Wien, o Stefansturm, o Stunden bei Salieri, o alte Torbogen, o katzenköpfige Pflastersteine … er träumte und schrak erst bei dem Geräusch auf, als Marie ihren Fächer fallen ließ. Beflissen hob er ihn auf.

Karoline traf er dann auch persönlich bei einem Hauskonzert. Die Sängerin war genau so befangen wie er. Keiner von ihnen fand den richtigen Ton. Sie beschworen die Erinnerung an die Wiener Begegnung herauf, konnten aber nicht lange miteinander sprechen, weil Franzi zu Marie zurück mußte. Als sie sich aber trennten, sahen sich beide nochmals um und beider Blicke sagten, daß sie doch vieles miteinander zu besprechen hätten …

Franzi richtete sich für einen längeren Aufenthalt ein. Er mietete auch eine Gondel, und um sich in der italienischen Sprache zu üben, unterhielt er sich ausgiebig mit Cornelio, dem Gondoliere, der in einem seiner Ohrläppchen einen goldenen Knopf und an seinen Fingern viele goldene Ringe mit Kameen trug. Vor allen Dingen mußte Franzi nach Büchern suchen, denn Marie beschwerte sich andauernd, daß sie nichts zu lesen habe und daß alles, was ihr die Buchläden anböten, Schund sei.

Beim Büchersuchen entdeckte er in einem Laden eine Wiener Zeitung. Das Erscheinen Karolines hatte die Erinnerung an Wien so lebendig gemacht, daß er die Zeitung kaufte. Und das erste, was ihm ins Auge sprang, war der Bericht über eine Überschwemmungskatastrophe in Ungarn. Die Donau war aus den Ufern getreten und hatte furchtbares Unheil angerichtet. Die Zahl der Toten war nicht annähernd zu bestimmen, und die Zahl der obdachlos gewordenen Familien betrug viele, viele Tausende. In Ofen und in Pest hatte die Überschwemmung eine entsetzliche Verwüstung verursacht. Ganze Straßenzüge mit mehrstöckigen Häusern waren eingestürzt, beide Städte standen unter Wasser, das Elend war unbeschreiblich. Die Wiener Zeitung berichtete auch, daß bereits im ganzen Kaiserreich eine umfassende Wohltätigkeitsaktion eingesetzt habe.

Er ging nicht nach Hause. Er schlenderte im Viereck der Piazza und in den Engen der Merceria umher. Seine Seele lebte schon tagelang in den Erinnerungen seiner Kindheit. Und in diese lieben Erinnerungen schlug jetzt die Nachricht der ungarischen Katastrophe wie eine Bombe ein. Jetzt fiel es ihm auch plötzlich auf, wie wenig er bisher an das Land seiner Kindheit zurückgedacht hatte. Er besann sich auf alles, was von der Erde seines Geburtslandes an ihm und in ihm haften geblieben war … die Raidinger Kinderjahre, das Preßburger Konzert, die glänzende Gesellschaft der ungarischen Magnaten, die Pester Reise, das unvergeßliche Bild der beiden Donauufer aus dem Fenster des Gasthofes, die geheimnisvolle, im feinsten Gewebe seiner Nerven für ewig lebende Zigeunermusik, das unerhört aufregende Konzert des Zigeuners Bihari und jenes ungarische Plakat, an dessen Inhalt er sich noch heute erinnerte … Er blieb auf der Straße stehen und sah die Vorübergehenden an, die Untertanen Kaiser Ferdinands. Was waren sie? Italiener. Was war ihr Vaterland? Für sie sowohl wie für ihn ein kleines Stückchen des großen Österreich. Aber sie waren Venezianer, und wo sie auch auf der Welt sein mochten, sie schwärmten von und für Venedig. Was war das, was mit einer so überirdischen Kraft sogar den Fernweilenden an den Boden band? Er fand keine Antwort. Er zerbrach sich auch nicht viel den Kopf. Er empfand nur ganz mächtig, daß sich seine Seele mit lieben, unvergeßlichen Erinnerungen an die Jugendjahre in der Heimat füllte.

Und während diese Erinnerungen in seiner Seele so erglühten und anschwollen, sponnen aus anderen Ecken seiner Seele andere Regungen wie lauernde Spinnen ihre feinen Fäden. Seine uneingestandenen Wünsche führten ihn in Versuchung, dem Käfig des Zusammenlebens mit der Geliebten für kurze Zeit zu entfliehen. Seine durch Karoline aufgewühlten Erinnerungen trieben ihn nach Wien. Die ihm angeborene Hilfsbereitschaft und eine unerschöpfliche Großmut drängten ihn, sofort in irgendeiner Form an der Hilfeleistung für die tausend und abertausend obdachlosen Ungarn teilzunehmen. Die Spinnen spannen hastig, und in ihrem Netz war mit einem Male die Seele gefangen.

Er eilte nach Hause. Marie saß am Fenster und blickte in gelangweilter Untätigkeit auf die Straße.

»Marie, lesen Sie dieses Blatt. Ich muß sofort reisen. Ich will in Wien ein Wohltätigkeitskonzert geben.«

Die Frau überflog den Bericht. Dann blickte sie mißmutig auf:

»Seien Sie vernünftig. Das kann ich nicht ernst nehmen. Deshalb wollen Sie mich hier allein lassen?«

»Ich muß, Marie. Ich nehme an, daß Sie es mir nicht schwer machen, sondern mir diese Reise erleichtern. Allein bleiben Sie keineswegs. Sie haben sich doch inzwischen mit der Gräfin Polcastro angefreundet, und außerdem werde ich den kleinen Grafen Malazormi, den Sie so liebenswürdig fanden, bitten, Ihnen zur Verfügung zu stehen. Er soll mit Ihnen gondeln und Sie ins Theater begleiten … Begreifen Sie doch, Marie, daß ich gehen muß. Mein Heimatland ist in Bedrängnis. Es kann von mir erwarten, daß ich helfe!«

»Was sind das für neue Ideen? Haben Sie plötzlich entdeckt, daß Sie Ihre Heimat lieben?«

»Genau so ist es. Ich habe plötzlich entdeckt, daß ich meine Heimat liebe.«

Sie stritten lange, aber Franzi gab nicht nach. Es war das erste Mal in ihrem Zusammenleben, daß er Marie eine große Bitte nicht erfüllte. Er reiste ab. Schon in der Postkutsche fühlte er sich frei und glücklich. Auf dem unbequemen Sitz schlief er so fest wie ein Bär im Winter. Beim Wörther See erst erwachte er.

In Wien stieg er im Hotel »Stadt Frankfurt« ab. Sein erster Weg führte ihn zum Grafen Amadé. Der Graf drückte ihn an die Brust wie einen heimkehrenden Sohn. Und als Franzi ihm mitteilte, daß er gekommen sei, um den Opfern der ungarischen Überschwemmungskatastrophe zu helfen, umarmte er ihn nochmals:

»Damit machen Sie mich noch glücklicher, als durch das bloße Wiedersehen. Blut verwandelt sich eben nicht in Wasser.«

Sein zweiter Besuch galt Czerny, der dritte dem Notenverlag Haslinger. Die Nachricht, daß er in Wien sei, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Als die Mitteilung in den Zeitungen erschien, daß der weltberühmte Franz Liszt zugunsten seiner Landsleute ein Konzert gebe, wurde die Sensation noch größer. Zeitungsschreiber, Verleger, junge Komponisten und sich nach dem Auslande sehnende junge Künstler gaben von früh bis abends einander die Klinke seines Zimmers in die Hand. Man porträtierte seinen Kopf, vervielfältigte das Bild und stellte es in die Schaufenster. An den ersten beiden Tagen wurden fünfzig Stück davon verkauft. Die gerade in Wien weilenden ungarischen Notabilitäten suchten ihn der Reihe nach auf. Unter anderem erschien bei ihm ein Magnat aus Siebenbürgen, Hofkanzler Baron Josika, der ihn überreden wollte, die von der Überschwemmung betroffenen Orte persönlich zu besuchen und auch in Siebenbürgen ein Wohltätigkeitskonzert zu geben. Die praktische Ausnutzung des finanziellen und moralischen Erfolges könne er getrost dem Siebenbürgischen Adel überlasten. Er versprach, es sich zu überlegen.

Kaum angekommen, wurde er mit Einladungen überschüttet. Er hielt es für geraten, auch im Hause des Fürsten Metternich seine Aufwartung zu machen, um sich für die einst erhaltenen Empfehlungsbriefe zu bedanken. Den Regeln der modischen Etikette gemäß empfing man ihn bei der ersten Abgabe seiner Visitenkarte noch nicht, beim zweiten Male folgte jedoch bereits eine Einladung zum Diner. Die Fürstin fragte ihn etwas hochmütig:

»Haben Sie gute Geschäfte gemacht da unten in Italien?«

Und mit der funkelnden Schlagfertigkeit, die sich ihm bei der Unterhaltung mit sehr Vornehmen stets auf die Lippen drängte, erwiderte er:

»Ich bin kein Kaufmann, gnädigste Fürstin, sondern ein Künstler.«

Die Fürstin, die für ihre Zungenfertigkeit berühmt war, wußte plötzlich nichts zu antworten. Aber alles ließ ahnen, daß der Künstler zum letzten Male Gast bei der fürstlichen Tafel war. Im allgemeinen hielten ihn alle, die ihm begegneten, für ein wenig theatralisch und prahlerisch. Sobald sie ihn aber Klavier spielen hörten, wandte sich ihm jedes Herz bezwungen zu. Seine vermeintliche Prahlerei war nur die selbstverständliche Gegenwirkung auf die überschwengliche Verwöhnung des allgemeinen Lieblings und der Ausdruck berechtigter und kraftvoller Selbstschätzung. Hinsichtlich seiner sogenannten Schauspielerei stellte es sich allmählich heraus, daß er sich nicht ein bißchen gekünstelt benahm, sondern daß sie der natürliche Ausdruck eines in ständigem musikalischen Zauber befangenen, heißen, unverbildeten und rebellierenden Temperamentes war.

Besonders lieb gewann ihn der alte Fürst Dietrichstein, der natürliche Vater Thalbergs. Der weißhaarige, feine, alte Herr lud ihn zu sich ein und teilte ihm etwas Überraschendes mit:

»Mein lieber junger Freund, Ihr Kollege Thalberg, von dem Sie vielleicht wissen, daß er mir nahesteht, schrieb mir vom Auslande, ich möge Ihnen sein Klavier zur Verfügung stellen, wenn Sie es bei Ihrem Konzert gebrauchen könnten.«

Das Klavier nahm er nicht an, aber die vornehme Geste des Gegners machte auf ihn einen großen Eindruck. Was würde er jetzt empfinden, dachte er beschämt, wenn Thalberg in einer Wiener Zeitung seine Tondichtungen herabwürdigte? Statt dessen ward ihm von seinem Gegner eine höfliche und liebevolle Aufmerksamkeit zuteil. Bis heute, wenn er es auch leugnete, hatte er Thalberg gehaßt, jetzt, wenn er es auch leugnete, gewann er ihn ungewollt lieb.

Der Erfolg seines Konzertes übertraf alles bisher Dagewesene. Sechzehnmal rief man ihn unter tosendem Beifallssturm auf das Podium, und nachdem er seinen letzten Vortrag beendet hatte, flogen unzählige Blumensträuße zu ihm herauf. Als er das Gebäude verließ, erwartete ihn draußen eine Schar begeisterter Menschen. Sie ließen ihn nicht in der Kutsche Platz nehmen, sondern hoben ihn auf ihre Schultern und trugen ihn ein ganzes Stück des Wegs und feierten ihn mit schmetterndem Jubel. Und sie schrien nicht »Hoch Franz Liszt!«, sondern:

» Eljen Liszt Ferenc!«

Es waren Ungarn. Feurige, schwungvolle, sehr begeisterungsfähige Ungarn. Mit bebendem Herzen nahm er die Huldigung entgegen.

Nach dem Konzert lud ihn die Familie Metternich abermals ein. Welch ein Unterschied zwischen dem einstigen und dem jetzigen Empfang! An der Tafel überließ man ihm den Ehrenplatz, die Fürstin behandelte ihn mit vertraulicher Liebenswürdigkeit, der Fürst erwies ihm unverkennbare Achtung. Und auf einmal besprachen sie auch die Möglichkeit einer Einladung vom Hofe der Kaiserin Anna Karolina.

»Das hängt nur von Formalitäten ab«, bemerkte der Fürst, »die Oberhofmeisterei schreibt unter der Bezeichnung ›eilig‹ an das Polizeipräsidium und verlangt Ihre Personalien, die Polizei erstattet ihre Meldung, die Oberhofmeisterei schickt Ihnen die Einladung, fertig!«

Franzi war glücklich und erwartete die Einladung. Inzwischen verbrachte er sehr viel Zeit mit einem hochbegabten jungen Mädchen: es war niemand anderes als Clara Wieck, die Braut Robert Schumanns. Clara gab um dieselbe Zeit ein Konzert in Wien und blieb Franzi zuliebe noch ein paar Tage. Sie wollte mit ihm über die Werke ihres Verlobten sprechen. Sie machte ihn mit den neuen Kompositionen Schumanns bekannt, damit sie in das Konzert-Programm des berühmten Künstlers aufgenommen werden könnten. Das neunzehnjährige Mädchen mit den auffallend schönen Augen sprach mit solcher Begeisterung von ihrem Bräutigam, mit soviel Innigkeit, Sorgfalt und Klugheit bemühte sie sich, dem fern Weilenden nützlich zu sein, und würdigte vor allem mit einem so tiefen, musikalischen Verständnis die außerordentliche Begabung ihres Auserwählten, daß in Franzis Herz der Neid um so eine Frau keimte. Er schrieb aber einen sehr herzlichen Brief an Schumann und vergaß auch die für Clara bestimmten Artigkeiten nicht.

Seinem ersten Konzert folgte das zweite, und auch dessen Ertrag bestimmte er für wohltätige Zwecke. Dann aber stürmten ihn die Unternehmer förmlich. Seinen wohltätigen Absichten hätte er nun vollauf Genüge getan, diesmal solle er zu seinem eigenen Nutzen spielen. Das Geld liege auf der Straße, man müsse sich nur nach ihm bücken. Einen solchen Erfolg habe hier noch niemand gehabt, nicht einmal Paganini. Franzi sagte zu. Er gab ein Konzert nach dem anderen; die Preise der Eintrittskarten konnten nicht hoch genug sein, und trotzdem waren sie im Handumdrehen verkauft. Das Geld strömte ihm nur so zu.

Inmitten seiner himmelstürmenden Erfolge kam Thalberg nach Wien. Der alte Herzog Dietrichstein lud sie gemeinsam zum Mittagessen ein. Und in der angenehmen Stimmung des Mittagsmahles zu dritt lösten sich die bitteren Erinnerungen an den Pariser Zweikampf in nichts auf. Das Wunder geschah: Liszt und Thalberg begannen Freunde zu werden. Daß ihr Verhältnis noch inniger werde, dazu fehlte es nur an Zeit. Franzi hatte eben zu nichts Zeit. In seinem Kalender drängten sich, bereits in halbe Stunden aufgeteilt, die Notizen über Einladungen und immer neue geldeinbringende geschäftliche Zusammenkünfte. Und von Tag zu Tag belagerte ihn die Gunst der Frauen immer dringlicher, so daß er nur die Hand auszustrecken brauchte. Und er streckte sie aus. Er wurde trunken von den ihm auf allen Lebensgebieten zuströmenden Erfolgen, er schlürfte sie und freute sich tobend seiner köstlichen Freiheit. Wenn der Kellner in seinem Zimmer ein dort vergessenes Spitzentaschentuch fand, so war es mit einer Krone bestickt, neunzackig.

Nur die Einladung an den Hof wollte nicht kommen. Eines Tages zog ihn Baron Josika in einer Gesellschaft vertraulich beiseite. Er berichtete, daß er mit einem Herrn vom Hofmarschallamt gesprochen und jener erzählt habe, daß der nur der Form halber eingeholte polizeiliche Bericht einige Schönheitsfehler aufweise. Der Bericht erwähne, daß Franz Liszt mit einer Dame der französischen Aristokratie in wilder Ehe lebe. Außerdem sei er eng befreundet mit einer sozialistische Lehren verkündenden Schriftstellerin namens George Sand. Man müsse einen oder zwei Hofkavaliere in Bewegung setzen, denn die Kaiserin sei in Angelegenheiten der Moral sehr empfindlich. Dies dürfe sich jedoch lohnen, denn mit dem Auftreten bei Hofe wäre unter Umständen der Titel eines kaiserlichen Hofpianisten verbunden und damit wiederum eine nette Jahresrente.

»Ich habe auch noch einen anderen Plan«, Baron Josika schüttelte den Kopf, »ich habe darüber auch schon mit dem Grafen Amadé und anderen ungarischen Herren gesprochen. Wir möchten bei Hofe durchsetzen, daß der Kaiser Sie in den Adelsstand erhebt.«

Franzi, dem Republikaner, dem Saint-Simonisten, dem Schüler Lamennais', begann das Herz zu hämmern. Adel! Wenn er einen Brief mit F. von Liszt unterzeichnen könnte … Wie könnte er da vor Marie hintreten und wie würde sich seine Mutter in Paris freuen … Er bezähmte seine stürmische Freude, verbeugte sich und erwiderte mit erzwungener Ruhe:

»Die Auszeichnung würde mich unsagbar glücklich machen, ich vermag aber hierzu meinerseits keinen Schritt zu tun.«

»Das ist auch gar nicht Ihre Sache. Wir werden schon sehen, was man tun kann.«

Und die Einladung an den Hof traf doch ein. Die Neugierde der Kaiserin war anscheinend doch stärker als ihre moralische Strenge. Der Geliebte der Gräfin D'Agoult und der Freund George Sands durfte vor Ihren Kaiserlich-Königlichen und Apostolischen Majestäten erscheinen. Das mächtige Gebäude der Burg, das er in seiner Kindheit mit einer so ehrfürchtigen Andacht betrachtet hatte, öffnete sich vor ihm. Als die Beamten des Hofes seine Strümpfe beaugenscheinigt und geprüft hatten, ob er in seiner Kleidung nicht gegen die pflichtgemäßen Vorschriften verstieße, als ihm ein flüsternder Oberkammerdiener den Weg von einem Saal in den anderen erklärte, als er zwischen den lautlos umhergehenden Lakaien und den wie Statuen unbeweglich stehenden Gardisten auf die festgesetzte Minute wartete, da erfüllte die große Macht der Habsburger sein freiheitliebendes Herz mit einer beklemmenden Achtung. Er versuchte, sich zu sammeln und seine ärgerliche Befangenheit abzutun. Während der Hof einzog, nahm er sich vor, alles ganz genau zu beobachten, um es Marie erzählen zu können, die über alle Einzelheiten dieser höfischen Geschehnisse entzückt sein würde. Aber seine Sinne waren stumpf geworden. Der unter Sporenklirren und Kleiderrauschen einherschreitende Kaiser Ferdinand, die Kaiserin, Erzherzog Ludwig und die in Uniform prunkenden Adjutanten verschwammen vor seinen Augen. Er fand sich erst wieder, als er spielte. Er brachte das Ständchen von Schubert in seiner eigenen Überarbeitung und den in Genf geschaffenen Valse di Bravura zu Gehör. Nach dem letzten Akkord erhob sich der ganze Hof und begab sich sporenklirrend und kleiderrauschend wieder hinaus, wie er hereingekommen war; weder eine Vorstellung noch eine gnädige Anrede, – nichts. Aber gleichviel, er hatte bei Hofe gespielt.

Der Betrag, den er als Ergebnis seiner Konzerte nach Pest schicken konnte, belief sich auf fünfundzwanzigtausend Gulden. Dieser riesenhafte Betrag gab den Sammlungen in Wien einen tüchtigen Auftrieb. Die Stiftungen erhöhten sich zusehends. Seine Volkstümlichkeit grenzte ans Unwahrscheinliche. Er durfte getrost behaupten, daß er in Wien der volkstümlichste Mann war. Thalberg hatte er in dessen Vaterstadt restlos und endgültig besiegt. Der Wiener Humor sagte von ihnen: »Liszt ist das Manderl, Thalberg ist das Weiberl.« Er hätte zu gerne George Sand einen Brief geschrieben, um ihr mitzuteilen, daß man ihn hier in Wien wahrlich für einen Mann halte.

Eine große Freude fand er auch in der zügellosen Begeisterung, die ihm von seinen Landsleuten entgegengebracht wurde. Er erhielt sehr viele ungarische Briefe, die er aber nicht lesen konnte. Seine ungarischen Freunde in Wien, vor allem Graf Leo Festetics, mußten ihm die unbefangenen, liebevollen Dokumente der Schwärmerei, ja der Vergötterung, übersetzen. Er wäre gerne sofort nach Preßburg und Pest gefahren. Aber im Hintergrunde jedes Erfolges, jeder Freude, jedes Planes stand die in Venedig zurückgelassene mahnende Gestalt Maries. Vielleicht konnte man Marie bewegen, nach Wien zu kommen? So könnte man ihre Vorwürfe entwaffnen und gemeinsam nach Ungarn fahren. Er schrieb ihr, sie solle kommen. Dann überlegte er es sich aber anders und schrieb ihr, sie solle doch lieber nicht kommen. Am nächsten Tage bestürmte er sie wieder in einem langen Briefe, sie solle doch noch kommen … Tagelang antwortete Marie überhaupt nicht, bis endlich aus Venedig eine kurze Nachricht kam: Marie war sehr krank.

Schweren Herzens verzichtete er auf die ungarische Reise. Er verließ Wien, als würde er mit einem glühenden Schwert aus dem Paradies gejagt. Auf der Rückreise schwelgte er mit geschlossenen Augen in den Erinnerungen dieser herrlichen Tage. Er erlebte von neuem den siedenden, dröhnenden Lärm der Erfolge, den berauschenden Geschmack heimlicher Zärtlichkeiten. Wenn ihm Maries Krankheit, deren Ursache ihm nicht bekannt war, einfiel, schüttelte er diesen Gedanken ärgerlich ab. Bis zur letzten Minute wollte er frei sein, bis das Tor des Zusammenlebens, das er jetzt schon als Gefangenschaft empfand, sich abermals hinter ihm geschlossen hatte.

Marie war aber gar nicht krank, nicht das Geringste fehlte ihr. Es war nicht schwer zu erraten, daß das fürchterliche Fieber, die in bewußtlosem Zustande verbrachten Nächte, die unerträglichen Schmerzen, von denen Marie mit vorwurfsvollen Klagen berichtet hatte, lediglich weibliche Märchen waren. Soviel schien indessen wahr zu sein, daß sie sich erkältet hatte und ein oder zwei Tage lang das Bett hatte hüten müssen. Sie entlud einen ganzen Sturm der bittersten Vorwürfe auf den Heimkehrenden und wühlte sich förmlich in die Übertriebenheiten erdachter Schmerzen ein. Sie überwarfen sich. Zum ersten Male seit ihrem Zusammenleben, aber um so gründlicher. Sie ließen sich beide zu nie wieder gutzumachenden Äußerungen hinreißen. Franzi gestand, daß seine alte Liebe nicht mehr vorhanden sei, daß Marie ihm nicht mehr die Einzige bedeute, und daß er sie in Wien betrogen habe.

»Feine kleine Dämchen werden das gewesen sein, mit denen Sie es dort zu tun gehabt haben!«

»Da irren Sie sich aber sehr«, flammte seine beleidigte Eitelkeit auf, »die waren genau so vornehm wie Sie.«

Die Gräfin maß ihren Geliebten mit verächtlichem Blick und entgegnete hochmütig:

»Parvenü!«

Dieser Sturm dauerte tagelang an. Sie schleuderten sich beide ihren ganzen bisher verschwiegenen Groll ins Gesicht. Die Anklagen strömten förmlich aus ihnen. Alle unterdrückte Empfindlichkeit, alle niedergeschluckten Beleidigungen, alle unausgesprochenen Beschuldigungen der letzten Jahre kamen ans Licht. Erschrocken sahen beide, in welchem Lug und Trug sie schon seit langem lebten. Nach diesem verzweifelten, haßerfüllten Aufreißen der Schleusen beruhigten sie sich wieder für eine Zeitlang. Eine enttäuschte, müde Ergebenheit folgte den langen erbitterten, leidenschaftlichen Auseinandersetzungen. Der herrliche Edelstein ihrer Liebe war gespalten, aber den gespaltenen Stein, der gerne auseinandergefallen wäre, umklammerte fest der eiserne Ring ihrer unlösbaren gesellschaftlichen Lage. Sie vermochten nichts zu beschließen, unschlüssig überließen sie der Zukunft, was mit ihnen geschehen sollte.

Sie irrten umher. Marie hatte genug von Venedig, sie fuhren nach Lugano. Auch dort wurde es ihr bald langweilig, da reisten sie nach Como, dann nach Mailand. Als Marie ernstlich kränkelte, schickte sie der Arzt nach Lucca. Sie lebten miteinander wie zwei eingeschlossene Blinde, die einander gern ausweichen möchten, aber überall auf Gitter stoßen. Franzi gab Konzerte, komponierte und schrieb Artikel. In Mailand verwickelte er sich in eine lästige Angelegenheit. Er verfaßte für die » Gazette Musicale« einen Bericht über das musikalische Niveau der Scala und über die einseitige Richtung des italienischen Musiklebens. Daraufhin griffen ihn die Mailänder Zeitungen heftig an und bezichtigten ihn der Undankbarkeit. Auch anonyme Drohbriefe gelangten an seine Adresse. Er erwiderte in den Zeitungen, seine Bestrebungen seien von reinen und sachlichen Absichten getragen gewesen und vor den Bedrohungen fürchte er sich nicht: dann und wann würde er in einem offenen Wagen allein durch die Mailänder Straßen fahren und jeder, der es wolle, könne ihn angreifen. Er fuhr auch los, aber niemand griff ihn an. Das Mailänder Publikum jedoch, das die Scala als eine nationale Herzensangelegenheit ansah, wandte sich von ihm ab.

Er war unlustig und zerrissen. Zusammengesperrt mit dem Wesen, von dem sich sein nach Freiheit und Unabhängigkeit dürstender Trieb trennen wollte, flüchtete er in seinem qualvollen Suchen nach Beruhigung sinnlos zu der, vor der er flüchten wollte. Und genau so erging es Marie. Verzweifelt versuchten sie immer wieder, die alte Glut ihrer Küsse noch einmal zu neuem Feuer anzufachen. Aber nach der alltäglichen Wärme einer jeden Umarmung empfanden sie nur trostlose Einsamkeit und erschreckende Entfremdung.

Nach einem fast einjährigen Briefwechsel erhielt Marie endlich die kleine Blandine aus Genf zurück. Die Kleine war längst wieder genesen, und es stellte sich heraus, daß das Hindernis der Reise zu ihrer Mutter nicht etwa die Krankheit, sondern der Pfarrer Demelleyer war. Ihm war das Kind so sehr ans Herz gewachsen, daß er sich nur schwer von ihm trennen konnte. Zum Teil hielt er es also aus egoistischer Liebe zurück, zum Teil aus der Erwägung eines pflichtbewußten und besorgten Pfarrers heraus, daß es für die Erziehung des kleinen Mädchens nicht günstig sein könne, wenn es unter den elterlichen Einfluß dieses planlos herumirrenden und nicht ganz makellos sittsamen Paares geriete. Auf alle erdenkliche Art und Weise schob er die Herausgabe des Kindes auf, dachte eine Ausrede nach der anderen aus, zum Schluß mußte er sich aber doch von der Kleinen trennen. Adolphe Pictet trat auf Maries Bitten dazwischen, Frau Churdet packte das Kind zusammen und brachte es nach Florenz, wo sie es der Mutter übergab. Nun waren die beiden kleinen Töchter bei der Mutter. Fast gleichzeitig wurde es zur Gewißheit, daß bald ein drittes Kind zur Welt kommen würde. Franzi nahm stumm mit unbeweglicher Miene diese Mitteilung seiner Geliebten entgegen. An sein Gefängnis hatte sein unerbittlicher Kerkermeister, das Schicksal, zum dritten Male das Schloß angelegt.

Der Dämon der rastlosen Wanderschaft trug sie nach Rom. Franzi hatte das Gefühl, als sollte ihm das Herz aus dem Leibe springen. Rom! Seit seiner Kindheit war er gewöhnt, an Rom nicht wie an eine Weltstadt unter anderen Weltstädten zu denken, sondern wie an die heilige Krone der Welt, den erlauchten Stammsitz des von Christus hierher entsandten Statthalters, wo der Wanderer im ewigen Orgelbrausen der Kirchen, inmitten der Vielfalt wundersamer Meisterwerke der Malerei und Bildhauerei lustwandeln und schwelgen kann … Er vermochte seine Ungeduld kaum zu bezähmen. Es drängte ihn, sich sofort auf den Weg zu machen, zu rennen, zu sehen, sich zu erfreuen, zu begeistern.

Sie nahmen in einem alten Hause der Via Purificazione Wohnung. Mit zwei Kindern, mit dem kommenden dritten und der Amme konnten sie nicht mehr in einem Hotel oder Gasthaus leben. Sie richteten sich häuslich ein, Geld war ja genug vorhanden. Marie beschäftigte sich in der Wohnung, Franzi rannte schon frühzeitig fort, hungrig nach den wunderbaren Sehenswürdigkeiten. Ein glücklicher Zufall beschenkte ihn bereits in den ersten Tagen mit einem unschätzbaren Führer der bildenden Künste. Er lernte Ingres, den berühmten französischen Maler, kennen, der den Pariser Kunstbetrieb satt hatte und nach Rom gekommen war, um hier Direktor der französischen Akademie zu werden. Er war ein feiner, liebenswürdiger alter Herr nahe den Sechzigern und, wie Franzi bereits zu Beginn der Bekanntschaft festzustellen Gelegenheit hatte, ein ausgezeichneter Violinspieler. Schon in seiner Jugend war er Mitglied, des Theater-Orchesters seiner Geburtsstadt Montauban gewesen und wenn er auch die Malerei zu seinem Hauptberuf erwählt hatte, hörte er doch nie auf, Musiker zu sein. Die beiden neuen Bekannten ergänzten sich gegenseitig ganz prächtig. Abends spielten sie auf der Violine und dem Klavier Duette oder versanken in tiefgründige, musikalische Auseinandersetzungen, tagsüber führte Ingres seinen jungen Freund zwischen Bildern und Denkmälern herum und erörterte eingehend und gewissenhaft mit ihm die ästhetischen Probleme der klassischen Kunst.

Franz lief umher wie ein Traumwandler. Bei seiner eingehenden Beschäftigung mit Musik, Bildern und Statuen überkam ihn plötzlich eine große Erleuchtung, die seine Gedanken über das Wesen der Kunst mit strahlender Helligkeit erfüllte. Er entdeckte, daß jede Kunst ein und dasselbe sagt, nur ihre Sprache ist verschieden. Dieser Gedanke hatte zwar schon immer in ihm gelebt, schon in seinen Auseinandersetzungen mit den Saint-Simonisten, erst recht in seinen Erörterungen mit dem Abbé Lamennais, aber jetzt nahm er durch Ingres eine endgültige klare Form an. Aus den Bildern von Raffael sprach die Musik Mozarts zu ihm, die Bilder Michelangelos ließen ihm Beethoven erklingen. Ingres wohnte in der Villa Medici. Hier verbrachten sie unvergeßliche Stunden miteinander. Wenn sie zu musizieren oder zu plaudern begannen, schwebten sie schon nach den ersten Sätzen hoch oben im überirdischen Blau der Inspiration. Die Alltäglichkeit glitt von ihnen ab, verklärt hielten sie sich auf in den Sphären, die das Schönste, das Größte, – das Ewige bedeuten.

Er fand noch einen anderen guten Freund, einen jungen Mönch namens Theiner. Dank seiner umfassenden Sprachkenntnisse und seines außerordentlichen geschichtlichen Wissens war er von seinem Orden nach Rom geschickt worden, um sich der Bibliothek des Vatikans zur Verfügung zu stellen. Der Pater Theiner gab dem Gottsucher neue Nahrung, wie Ingres dem Kunstschwärmer die Geheimnisse aller Künste offenbarte. Franzi bekam Zutritt zum Vatikan, er lernte die unermeßlichen Schätze der päpstlichen Residenz kennen, er erforschte das erst vor kurzem errichtete Etruskische Museum, er blätterte in den uralten Büchern und Handschriften der Bibliothek und lauschte gläubig und verzückt, wie ein Kind einem Märchen lauscht, den Vorträgen Theiners über einen Gobelin, einen Marmor-Torso, über ein Fresko oder eine Kapelle, an die sich uralte Überlieferungen knüpften. Er begegnete Kardinalen, unter deren Soutane rote Strümpfe hervorlugten, er sah Geistliche aus Asien in sonderbarer Kleidung und von dunkler Hautfarbe. In der St. Peterskirche wohnte er einem Festgottesdienst bei, in der Sixtinischen Kapelle versank er in andächtige Betrachtungen … In seiner Seele strömten zwei Schwärmereien ineinander: die der Religion und die der Kunst. Gemälde, Statuen, Religion und Musik, alles verschmolz zu einem Ganzen und hob seine Seele über alles Irdische empor.

Die Nachricht von seinem Aufenthalt in Rom verbreitete sich rasch, die Einladungen kamen schnell und in großer Anzahl. Abermals kreuzte Pixis seinen Weg. Der bucklige Klavierkünstler begleitete seine Adoptivtochter, jene kleine, zarte, stupsnäsige Francilla, die einst Chopin so gut gefiel, nach Rom. In ihrem ersten Konzert trat Franzi gern auf. Dadurch hatte der übereifrige Pflegevater zwar erreicht, daß der Konzertsaal überfüllt war, daß aber niemand von Francilla, alle dagegen von dem zauberhaften Liszt sprachen.

»Was ist mit Chopin?« fragte Franzi, »wir haben schon seit langem keine Briefe mehr gewechselt.«

»Ich weiß es auch nicht. Er ist im Augenblick nicht in Paris. Sie wissen doch, nicht wahr, daß George Sand und Chopin jetzt zusammenleben?«

»Ja, das weiß ich. Ist die Liebe denn so groß?«

»Oh, ganz groß. Das letzte, was ich von ihnen gehört habe, war, daß Georges Sohn krank geworden ist und daß sie gemeinsam nach der Insel Mallorca gefahren sind.«

Chopin, George, Paris, die alte Zeit … als ob es nicht wahr gewesen wäre, so hörte er es sich an.

Dann gab er bei der Fürstin Galizyn ein Konzert, und darauf bat ihn ein anderer russischer Magnat ebenfalls um ein Konzert, der Graf Wielhorsky. Als Franzi die Vortragsfolge zu diesem Konzert festlegen wollte, hatte er mit den einzelnen aufzufordernden Künstlern und mit der Einheitlichkeit der Programmgestaltung soviel Schwierigkeiten, daß er es endlich satt bekam. Er faßte einen kühnen Entschluß. Er stattete dem Grafen einen Besuch ab und teilte ihm mit, daß er das Konzert von Anfang bis zu Ende ganz allein bestreiten wolle.

»Sie ganz allein? Das war noch nicht da. Ich fürchte, wir werden keine Zuhörerschaft bekommen.«

»Es wird zum Brechen voll, dafür stehe ich ein.«

»Aber was wird das Publikum dazu sagen? Ist das nicht eine etwas kühne Neuerung? Ein Einzelner und ein ganzes großes Programm … Trauen Sie sich das tatsächlich zu?«

»Überlassen Sie das ruhig mir, lieber Graf«, erwiderte er gut gelaunt, » le concert, c'est moi. Die Neuerung ist kühn, das gebe ich zu. Jede Neuerung ist kühn. Aber einer muß schließlich anfangen …«

Die sonderbare Neuheit gefiel ungemein. Er konnte das ganze Programm nach seinen Wünschen zusammenstellen, zwischen den einzelnen Stücken bestanden keine Stilgegensätze, die Stimmung des Konzertes blieb einheitlich und vertiefte sich bis zum Schluß. Die Zuhörer wußten nicht, warum sie die Musik diesmal mehr entzückte, als je zuvor. Franzi wußte es. Er war überglücklich, daß sein Versuch gelungen war, und beschloß, von nun an in jedem seiner Konzerte ganz allein aufzutreten mit Ausnahme der Veranstaltungen, bei denen er einem anderen zuliebe mitwirkte. Seine Anziehungskraft, sein bezwingendes Wesen, seine nie mit Eintönigkeit drohenden, reichen Programme erlaubten ihm alles das, woran ein anderer nicht einmal denken durfte. Der erste Vorstoß zur Läuterung der Konzertprogramme war gewagt.

Aber schon tauchte ein neues Ereignis auf: seit einiger Zeit beschäftigte er sich damit, Beethovens Symphonien in sein Programm aufzunehmen. Seine Kunst kannte keine Unmöglichkeiten mehr. Selbstbewußt wagte er, jede Klangfarbe des Orchesters der Symphonien auf dem Klavier wiederzugeben. Er begann mit der »Fünften« und der »Sechsten«. Ingres war erschüttert, als er ihm die »Fünfte« zum ersten Male vorspielte.

»Ich hätte nie geglaubt, daß das möglich sein könnte. Sie dürfen nicht nur behaupten: › le concert, c'est moi‹, sondern auch: › l'orchestre, c'est moi‹. Ich bewundere Sie und Ihre Arbeit. Noch nie hat mir die Musik soviel gesagt.«

»Mehr als Sie denken. Die Überarbeitung der ›Fünften‹ will ich Ihnen widmen.«

Statt jeder Antwort umarmte Ingres den jungen Freund. Die Morgenröte überraschte sie noch beim Musizieren. Beide waren zu Tode erschöpft, aber in ihrer unstillbaren Begeisterung konnten sie fast nie ein Ende finden. Aber sie musizierten nicht nur in der Villa Medici, ein neues Instrument begann sie besonders zu fesseln, die Orgel. Franzi hatte zwar auch schon auf dem Harmonium geübt, durch die Vermittlung von Theiner konnte er jetzt aber auch auf einer Orgel in der Kirche spielen. Als die französische Gesandtschaft aus irgendeinem offiziellen Anlaß in der römischen Kirche der Franzosen, in der Chiesa San Luigi, eine Festmesse veranstaltete, trug er während des Gottesdienstes einige Bach-Fugen vor, zwar ohne Beifall, aber in nicht geringerer Vollendung.

An all diesen Dingen nahm Marie nicht teil. Erstens stand die Ankunft des neuen Erdenbürgers nahe bevor, und dann war auch das bis vor kurzem noch so eifrig gepflegte Band ihrer geistigen Gemeinschaft gelockert. Die musikalische Bildung Maries war sehr gering. Franzis Vorwärtsdrängen, seine innerlichen Kämpfe und seine Siege über sich selber verstand sie nicht und konnte ihnen auch nicht folgen. Um so mehr schrieb sie. Wenn nichts anderes, so wenigstens ein Tagebuch. Eine oder zwei kleinere Sachen von ihr waren auch schon in Pariser Zeitungen erschienen. Einen schriftstellerischen Decknamen hatte sie sich bereits zugelegt, und zwar nach Georges Beispiel einen männlichen: Daniel Stern. Ja, das wollte sie werden, ein hoch oben schimmernder, vornehmer, kalter Stern.

Miteinander allein waren sie selten. Die Wohnung war von Kinderlärm erfüllt. Es gab keine vertrauten Plaudereien mehr, und wenn sie sich doch einmal zu einer Unterhaltung hinreißen ließen, wurden Vorwürfe und Klagen daraus. Franzi spielte lieber mit den Kindern, wenn er zu Hause war. Die Größere, Blandine, war sein Liebling. Er komponierte ihr auch ein Lied, ein kurzes italienisches Gedicht, das so begann: » Angiolin' del biondo crin … goldlockiges Engelchen …« Die Kleine bekundete ein überraschendes musikalisches Gehör, eine ihr vorgespielte Melodie konnte sie nach kurzem Zuhören genau und rein mit ihrer kleinen dünnen Stimme nachsingen.

Am 5. Mai kam das dritte Kind zur Welt. Es war ein Junge. Die Mutter bestand darauf, ihn auf den Namen »Daniel« zu taufen. Der Vater hätte zwar auch andere Vorschläge gehabt, aber er widersprach nicht. Nachdenklich betrachtete er den kleinen Knaben in der Wiege, dessen Vorname zwar feststand, nicht aber sein Familienname …

Die Mutter genas bald, sie war aber sehr nervös geworden. Aufgeregte Auseinandersetzungen gehörten bei ihnen zur Tagesordnung, obwohl Franzi sich zu außerordentlicher Geduld und Nachsicht zwang. Manchesmal riß ihm aber doch die Geduld. Wenn er sich dann endlich ruhig mit seinen Gedanken beschäftigen konnte, formten sich immer größere und höhere Pläne in ihm, die für Jahre ausreichen mußten. Die Umrisse einer Dante-Symphonie schwebten ihm vor; drei Jahre bestimmte er für das Ausreifen dieses Planes. Und dann wollte er eine Faust-Symphonie komponieren. Auch ein Gemälde Orcagnas hatte einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, daß er nach ihm ein Orchesterwerk schreiben wollte mit dem Titel »Sieg des Todes«. Dazu plante er ein durch Holbeins Zeichnungen angeregtes Gegenstück, dem er den Titel »Komödie des Todes« geben wollte. Außerdem schwirrten ihm noch eine ganze Reihe anderer, kleinerer musikalischer Einfälle durch den Sinn. Wenn er aber arbeiten wollte, hallte das ganze Haus von Kindergeheul, Türenknallen und aufgeregtem Hin- und Herlaufen wider. Marie ging die Fähigkeit vollkommen ab, eines Künstlers Muse zu sein. Doch als Muse zu gelten, darauf legte sie den größten Wert.

Eines Tages besuchte sie ein junger Dichter namens Ronchaud, der offensichtlich in Marie verliebt war. Er kam zu ungelegener Zeit. Zwischen dem Musiker und der Gräfin tobte ein schweres Gewitter. Als der Gast gemeldet wurde, brachen sie den Streit ab und gaben sich Mühe, ruhig zu scheinen. Marie konnte es sich aber nicht versagen, in der Unterhaltung zu dritt durch einige Anspielungen die Familienszene fortzusetzen. Franzi bebte vor verhaltenem Zorn.

»Die Gräfin hat recht«, erwiderte Ronchaud auf eine Bemerkung Maries, »den Mann inspiriert immer die Frau zu großen Schöpfungen. Was wäre aus Dante geworden, wenn es keine Beatrice gegeben hätte.«

Marie blickte Franzi sieghaft an. Er entgegnete aufgebracht:

»Und was wäre aus allen Beatrices der Welt geworden, wenn es keinen Dante gegeben hätte? Die Beatrices werden erst durch die Dantes, und die richtigen Beatrices sterben überhaupt mit achtzehn Jahren.«

Dann schnellte er empor und stürmte fort. Erst auf der Straße kam er wieder zu sich. Erschrocken wunderte er sich über sich selber. Daß er solcher rohen Bemerkungen fähig war, hatte er von sich bisher noch nicht gewußt.


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