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Zwanzigstes Kapitel.

Im Hotel de Rome zu Vallanza saßen Anthony und Adrian in ihrem Wohnzimmer und harrten ihres Frühstücks. Susannas Wille war also richtig durchgedrungen, doch Anthony hatte die Reise in einer Stimmung zurückgelegt, die sein Gefährte als das Gegenteil von rosig bezeichnete. Als einzigen Trost auf die Fahrt hatte er einige Worte mitbekommen, die ihm Miß Sandus zuflüsterte, als er sich an jenem letzten Abend von ihr verabschiedete. Diese Worte lauteten: »Vergessen Sie nicht das wahre alte Sprichwort: ›Am Ende der Reise kommen Liebende zusammen.‹« Das klang zwar orakelhaft, war aber offenbar als gutes Omen gemeint. Währenddes hatten in einer andern Ecke des Zimmers Susanna und Adrian die Köpfe zusammengesteckt und miteinander getuschelt. Da Adrian seitdem mit keinem Hauch mehr nach dem Zweck der Reise fragte und des öftern verständnisinnig vor sich hin lächelte, ist es nicht unwahrscheinlich, daß Susanna, wie ja vorher schon halb und halb ihre Absicht gewesen war, ihn ins Vertrauen gezogen hatte.

Wer neuerdings in Sampaolo gewesen ist, wird sich des Hotels de Rome erinnern, eines kleinen funkelnagelneuen Etablissements an der Ecke des San Guido-Platzes und der Riva Vittorio Emmanuele, das sich als keins von der Art präsentiert, deren Lokalton Schmutz und Grauen ist, und vor denen man gewarnt wird, wenn man sich von der gewöhnlichen Touristenstraße entfernen will, das vielmehr trotz der Weltferne Vallanzas ein schmuckes und behagliches Wirtshaus ist.

Das gemeinschaftliche Wohngemach der beiden Freunde war ein Eckzimmer im ersten Stock. Die Fenster der einen Seite gingen auf die Piazza mit ihrer grauen alten Kirche, der Kathedrale von San Paolo und San Guido, ihrem daneben stehenden Glockenturm, ihrer großen Fontäne in der Mitte und der die ganze östliche Seite einnehmenden, mit verwitterten Freskogemälden bedeckten Front des Palazzo Rosso. Die Fenster der andern Seite gewährten die Aussicht auf die Riva mit ihrer Palmenallee und auf die Bucht mit ihren vor Anker liegenden Schiffen, ihren Fischerbooten, den sie umgebenden olivenbestandenen Hügeln, die von unten bis oben mit Dörfern und Villen bedeckt waren, und den aus ihr emporsteigenden Inseln Isola Nobile, Isola Fratello und Isola Sorella. Das ganze weite Bild erglänzte im Sonnenschein.

Auf der sich nach Norden öffnenden kühlen, schattigen Piazza wurde eben ein großer Markt abgehalten: ein buntes Gewirr von Waren, Tieren und Menschen. Männer, Weiber und Kinder, Hunde, Esel, Ziegen, Kälber, Schweine und Federvieh; Gemüse und Obst, gevierteilte Melonen mit grüner Schale, schwarzen Kernen und rosigem Fleisch, große, goldgelbe Kürbisse, Gewinde von Zwiebeln, zu wahren Bergen aufgehäufte Feigen; Stiefel, Kopfbedeckungen, fertige Kleidungsstücke für Leute beiderlei Geschlechts, billige Schmuckgegenstände waren hier zu haben, und Hausgeräte aller Art von Töpfen und Pfannen aus getriebenem Kupfer, Messinglampen, eisernen Bettstellen mit Strohmatratzen bis zu Öldruckbildern in schreienden Farben, König und Königin darstellend und den unvermeidlichen Garibaldi. Das Getöse war wahrhaft ohrenzerreißend: die Menschen riefen ihre Waren aus, schacherten und feilschten, lachten und schimpften; Esel schrieen, Kälber blökten, Hunde bellten, Enten schnatterten und Schweine grunzten. Ein Zahnarzt hatte seiner Kunst neben dem Marktbrunnen eine Stätte bereitet und schrie den Zahnleidenden seine Hilfsbereitschaft aus, fand auch wirklich ab und zu einen armen Dulder bereit, seine Hilfe über sich ergehen zu lassen, dann aber ertönte alsbald über all das lärmende Getöse laut und durchdringend das Schmerzgeheul des unglücklichen Opfers. All das Geräusch suchte der Stadtausrufer zu übertönen, der verzweiflungsvoll seine Trommel schlug und etwas verkündigen wollte, dem allem Anschein nach niemand Beachtung schenkte. Die Weiber trugen schreiend farbige Röcke – grün und rot oder blau und gelb gestreift – und lange schwarze Schleier, die den Kopf bedeckten und bis auf den Gürtel niederfielen; die Männer dunkle, gewebte Wolljacken, Barchenthosen, rote Gürtel an Stelle der Hosenträger und rote Fischermützen mit einer übers Ohr baumelnden Troddel.

Zwei solche Männer kamen gerade Arm in Arm über den Platz geschlendert und sangen mit schöner Stimme; der eine hielt die Melodie, der andre sang die zweite Stimme dazu.

Anthony und Adrian sahen einige Zeit lang schweigend auf das Getümmel hinab, Anthony finster und teilnahmlos, Adrian ganz außer sich vor Entzücken. Es war der erste Anblick Sampaolos im Tagesglanz; sie waren gestern Abend von Venedig angekommen, als es schon dunkel war.

Jetzt aber, als die singenden Männer vorüberzogen, konnte Adrian sich nicht mehr halten.

»Italia, o Italia!« rief er. »Ich habe geglaubt, dich durch und durch zu kennen, aber ich kannte dich nicht bis heute. Doch was wir hier sehen, ist zu italienisch, als daß es echt sein könnte. Das ist nicht Italien – das ist schon mehr italienische Oper!«

Anthony blieb finster und verdrießlich wie zuvor und grollte: »Mag es sein, was es will – jedenfalls ist es unerträglich!«

»Na, na, laß mich so was nicht zum zweiten Male hören! Sieh nur, wie pittoresk sich dieser Zahnreißer ausnimmt! Wie er die Szene veredelt! Ein famoser arracheur de dents, nicht? Hast du keinen Zahn, der einer sachgemäßen Behandlung bedarf? Ich möchte dich für mein Leben gern da unten in der frischen, freien Luft, unter dem azurblauen Himmelsbaldachin im Angesicht der Menschheit zwischen seinen Händen sehen, furchtlos und ohne Scheu!«

»Dort drüben, das lange, etwas massig aussehende Gebäude mit den abbröckelnden Bildern an den Mauern, ist der Palazzo Rosso, die Wiege deines Geschlechtes. Zwischen zehn und vier Uhr ist der Eintritt gestattet. Ich habe mit der Tochter des Wirtes – Pia heißt sie, und sie hat schönes schwarzes Haar und ditto Augen – eine Unterhaltung gepflogen und eine Unmenge Erkundigungen eingezogen. Ach, endlich!« seufzte er, als jetzt der Kellner mit einem großen Brett erschien.

Als dieser dann die verschiedenen Schüsseln auf den Tisch stellte, betrachtete Adrian deren Inhalt mit der Hingebung und dem Interesse des verständnisvollen Kenners.

»Gebratener Schinken, Hühnergalantine mit Trüffeln, eine Omelette aux fines herbes, Kaffee, heiße Milch, Schlagsahne, Brot, Feigen, Aprikosen,« zählte er auf. »Und weißt du, was wir bekommen hätten ohne meine Unterredung mit der Wirtstochter? Kaffee mit Brot und praeterea nihil – das hätten wir bekommen!« Dies wurde mit tragischer Stimme und Gebärde vorgebracht.

»O, diese hungerleiderischen Festlandsfrühstücke! Aber ich vertraute auf Pias Barmherzigkeit. Ich machte ihr Komplimente über ihr Haar und ihre Toilette. Ich nannte sie ›Pia mia‹ und sagte, ich wäre ein andrer Mensch geworden, wenn sie früher meinen Lebenspfad gekreuzt hätte. Ich wandte mich an das Weib in ihr. Ich erklärte ihr, mein hohlwangiger Gefährte mit dem düster leuchtenden Auge sei ein unglücklich liebender Mann, der ganz besonders sanft und zärtlich behandelt werden müsse und der besonders abwechslungsreicher Nahrung bedürfe, wenn er nicht elend zu Grunde gehen solle. Dann erzählte ich ihr noch einen Traum, den ich letzte Nacht gehabt hätte – oh, einen sehr lieblichen Traum! Dann war sie erweicht. Was glaubst du, daß es mir geträumt hat? Ich sage dir, mir träumte von dicken, runden, saftigen englischen Bratwürsten!« Sein Gesicht wurde traurig, seine Stimme brach, während er seinen Teller mit Schinken und Omelette füllte.

»Du solltest ein Gedicht darauf machen und es ›Des heimwehkranken Vielfraßes Traum‹ betiteln,« höhnte Anthony. »Warum hast du denn nicht Tee statt Kaffee bestellt?«

»Komm, sei nicht krittlich!« bat Adrian. »Setz dich, binde deine Serviette vor und versuche, höflich und aufmerksam zu sein, wenn der gütige, liebe Herr mit dir spricht. Natürlich habe ich Tee bestellt, aber in San Paolo kennt man Tee nur vom pharmazeutischen Gesichtspunkt aus. Pia mia glaubte, ich würde vielleicht in der farmacia welchen bekommen können. Diese Omelette ist wirklich nicht schlecht! Versieh dich, ehe sie für immer im Dunkel verschwindet.«

Doch Anthony lehnte ab und die Omelette verschwand im Dunkel.

»Komm, sei lustig, lieber Trübgesell,« ermunterte ihn Adrian, während er sich das bestgetrüffelte Stück der Hühnergalantine auswählte. »Männer sind gestorben und Würmer haben sie aufgefressen, aber nicht aus Liebe. Ingwer brennt noch immer im Mund und in der See schwimmen mehr Fische, als je an deiner Angel angebissen haben! Weißt du, warum es in Sampaolo keine Moskitos und keine Banditen gibt? Es gibt wirklich keine; Pia hat mir ihr Wort darauf gegeben und mir auch gesagt warum. ›Der Wind ist's, Signore, der Wind. Wir haben alle Nachmittage Wind, manchmal ist es ein venticello, manchmal ein temporale, manchmal gar ein oragano terribile, aber er genügt immer, Moskitos und Banditen wegzublasen über die See.‹ Pia hat es mir gesagt, Pia, die süße Pia. – Ich weiß nicht, ich habe so ein komisches Gefühl im Magen – es ist kein eigentlicher Schmerz, aber eine Art unbefriedigten Sehnens und Verlangens. Vielleicht wird's besser, wenn ich diese Mortadella koste – sei so gut und reiche sie mir herüber. So, danke schön. Und nun noch eine Tasse Kaffee mit recht viel Schlagsahne, bitte. Wenn du das Rauchen und Trinken lassen wolltest, hättest du auch bessern Appetit. – Komm, sei munter! Wirf diese gelb und grüne Melancholie von dir! Auch ich betrat das Haus meiner Ahnen zum ersten Male mit Angst und Zittern, mit Strampeln und Schreien und soll mich mit der ganzen Leidenschaft des noch schlummernden Genies, mit der ganzen Kraft zweier gesunder Lungen dagegen aufgelehnt haben, aber nachher hat es mir doch recht gut gefallen. Ja, ja, es ist etwas Sonderbares um des Menschen Leben! Empfangen in Sünden, mit Schmerzen geboren, zu leben und sich zu amüsieren in einem undurchdringlichen geheimnisvollen Nebel. Und nie sein eigenes Gesicht zu sehen, immer nur die Gesichter andrer zu sehen, durch das Fernrohr die Sterne, durch das Mikroskop die Mikroben, aber nie sein eignes Gesicht! Und den schwachen Reflex, den er durch den Spiegel davon haben kann, auch den bekommt er nur verkehrt herum. Du kannst nicht leugnen, daß das kurios ist. Wenn ich aber ein so langes Gesicht wie du hätte, so würde ich es auch als eine Schickung betrachten.«

Anthony brütete dumpf vor sich hin: »Zu denken, zu denken, daß sie mich aus Laune zu einer ganzen Woche solchen Lebens verdammt hat!«

»Wir nehmen das zweite Frühstück um ein Uhr, obgleich Pia für zwölf Uhr war, das Diner um sieben Uhr, obgleich Pia sechs Uhr vorschlug. Dazwischen gibt es um vier Uhr statt des Tees ein kleines goûté-caffè con pasticceria. – Und nun wollen wir, falls du dich von den Freuden des Mahles endlich losreißen kannst, es genug sein lassen und an unser Tagwerk gehen. Wir beginnen mit der Kathedrale. Wenn wir uns ein wenig beeilen, können wir noch eine Messe hören – bis zehn Uhr wird jede halbe Stunde eine gelesen. Dann kommt der Palazzo Rosso an die Reihe. Nach dem Gabelfrühstück und einer kleinen Siesta folgt die Isola Nobile und nach dem caffé con pasticceria ein Eselritt aufs Land.«


Als sie ihre Messe gehört hatten, trat der Sakristan, ein kleiner alter Mann, zu ihnen und bot sich an, ihnen die Kirche zu zeigen. In dieser war es sehr düster und sehr still. Ab und zu sah man eine Frau knieen und beten, ab und zu brannte eine Kerze. Der Sakristan entfernte die Bekleidung des Hochaltars und enthüllte drei schöne Altarbilder von Giacomo Fiorentino, »San Guidos Schiffbruch«, »San Guidos Heimkehr« und »San Guidos seliges Ende«. Dann zeigte er ihnen den goldenen Reliquienschrein mit San Guidos Asche und den Glaskasten, worin das Schwert mit dem goldenen Dorn zur Erbauung der Gläubigen ausgestellt war. Zum Schluß geleitete er sie in die Krypta, wo unter wappengeschmückten ner' antico-Platten fünfundzwanzig Generationen der Valdeschi begraben lagen. Was mochte Anthony wohl empfinden?

Im Palazzo Rosso wurden sie zuerst aufgefordert, ihre Namen ins Fremdenbuch einzutragen, und dann führte sie ein silberhaariger Livreebedienter über die große Marmortreppe und durch eine unendlich lange Flucht luftiger, hoher Prunkgemächer, ausgestattet mit wenigen aber altertümlichen und kostbaren Möbeln, mit venezianischen Kronleuchtern und venezianischen Spiegeln und einer unzähligen Menge Gemälde, meistens Porträts. Die Terrazzoböden waren mit sehr schönen Mustern ausgelegt, die Wände mit alten Gobelins und Wandbehängen und die Decken mit Freskomalerei geschmückt.

»Es ist merkwürdig,« sagte Adrian, »wie sich in einzelnen Familien, trotz der fortgesetzten Beimischung neuen Blutes, manche Gesichtszüge durch viele Generationen erhalten. Wie zum Beispiel die Habsburger ihre Unterlippe haben, so haben die Valdeschi ihre Nase. Von Generation zu Generation, von Jahrhundert zu Jahrhundert kannst du hier in den Gesichtern deiner toten Ahnen die Nase wiederfinden, die du heute spazierenträgst.«

Es war ganz richtig. Wieder und wieder sah man dieselbe feingesattelte, leicht gebogene Adlernase.

» Sala del trono,« verkündete der Cicerone ( Sa' do truno sprach er es aber aus).

Und richtig stand da am Ende eines großen Gemaches der große Scharlachthron, dessen Baldachin von einer goldenen Krone zusammengehalten wurde, genau so, wie Susanna ihn beschrieben hatte. Was mochte Anthony wohl dabei empfinden?

Adrian hatte längst bemerkt, daß der alte Diener seine Blicke oft verstohlen und nachdenklich auf Anthonys Zügen weilen ließ. Nun blieb der Greis vor einer großen, in Weiß und Gold gehaltenen Flügeltür stehen und sagte: »Dies ist der Eingang zu den Privatgemächern.« Dabei legte er seine Hand auf die kunstvoll gearbeitete Türklinke.

»Ist dem Publikum der Eintritt erlaubt?« fragte Anthony zurücktretend.

»Nein, Signore,« erwiderte der alte Mann. »Aber wenn der Signore mir verzeihen wollen, ich glaube, daß des Signore Exzellenz mit der Familie verwandt sind.«

Anthony staunte.

»Wie in aller Welt kommen Sie auf diesen Gedanken?« fragte er verwundert.

»Das ist die verhängnisvolle Nase,« sagte Adrian leise lachend auf Englisch. »Der Signore Exzellenz sind durch des Signore Exzellenz' Schnabel verraten worden.«

»Wenn der Signore mir gütigst vergeben wollen, aber ich habe des Signore Namen im Fremdenbuch gelesen: ›Crahforrdi aus England,‹« erklärte der alte Mann. »Aber die Crahforrdi aus England sind eine Nebenlinie unsres Hauses. Die Gemahlin des Conte, der Conte war, als ich vor sechzig Jahren die Ehre hatte, in die Familie einzutreten, war eine Crahforrdi aus England, eine Lordessa. Aber es liegt auch in des Signore Gesicht. Wenn die Signori mir die Gnade erweisen wollen, so wird es mir große Freude machen, Ihnen ein Bild zu zeigen, das Sie für des Signore eigenes halten könnten.«

In Größe und Form waren die Privatzimmer nur eine Fortsetzung der Staatsgemächer, aber sie waren modern, mit großem Luxus und soweit man es trotz den verhüllenden Überzügen beurteilen konnte, auch mit feinem Geschmack möbliert. »Die Familie bewohnt diesen Palast nur während der kalten Jahreszeit. Im Sommer weilen die Herrschaften auf der Isola Nobile, deshalb finden die Signori hier nicht alles, wie es sein sollte,« entschuldigte der alte Mann. In einem Raum, den er als gabine'o segre'o der Gräfin bezeichnete, hing über dem Kamin das lebensgroße Bildnis eines Mannes in der Tracht der Dreißiger- oder der Vierzigerjahre.

»Graf Antonio der Siebzehnte, der Letzte unsrer Tyrannen. Die Signori werden wissen, daß wir viele hundert Jahre die Tyrannen von Sampaolo waren,« erklärte der alte Mann mit Stolz. Dann verbeugte er sich tief vor Anthony und fügte hinzu: »Man sollte meinen, es sei das Porträt Eurer Exzellenz.«

In der Tat war die Ähnlichkeit zwischen dem letzten Tyrannen und seinem Enkel überraschend groß.

»Conte Antonio Decimose'mo war Graf, als ich, noch ein Knabe, die Ehre hatte, in die Familie zu kommen,« fuhr der alte Diener fort. »Er war es, der die Lordessa Crahforrdi zur Gemahlin hatte. Aber nach seinem Tod brach eine Revolution aus, und wir annektierten noch eine andre Insel, die Insel Sardinia. Die Lordessa wurde hier in diesen Räumen mit dem Conte-Figlio gefangen genommen und dann aus dem Land verbannt. Der König von Sardinien wurde zum Tyrannen beider Inseln erwählt und die Regierung von Vallanza nach Turin verlegt. Dies geschah vor langer Zeit, vor etwa fünfzig Jahren. Als dann der Papst starb, wurde die Regierung nochmals verlegt, und jetzt befindet sie sich in Rom.«

»Ist denn der Papst gestorben?« fragte Adrian.

» Che sì, Signore – dupo lung' anni,« versicherte der Alte.


Sie schlenderten ein wenig durch die Stadt, ehe sie ins Hotel zurückkehrten, durch die engen, schlecht gepflasterten Straßen, mit ihrem Wechsel von Glanz und Schmutz, ihren Palästen, Kirchen, Hütten, ihren dunkeln kleinen Läden, ihren vernachlässigten Altären, ihrem schreienden Volk, ihren fremdartigen Gerüchen – und längs der Riva mit ihrem Lärm, ihren aus- und einladenden Schiffen und ihrer unvergleichlichen Aussicht auf die Bucht und die Berge.

»Siehst du diesen Stock?« fragte Adrian, indem er seinen Spazierstock in die Höhe hob.

»Was ist damit?« fragte Anthony.

»Ich komme gleich darauf,« sagte Adrian. »Aber zuerst mußt du mir wahrheitsgemäß eine Frage beantworten. Welches Ende des Stocks würdest du zu sein vorziehen – der glänzende silberne Handgriff, oder die schmutzige Zwinge?«

»Weiß nicht,« sagte Anthony mit müdem Ausdruck.

»Weißt es nicht?« fragte Adrian verwundert. »Wie komisch! Gut, du mußt dir vorstellen, daß dieser Stock nur ein Symbol sein soll – ein Zeichen für etwas. Nun will ich dir sagen, was es heißen soll. Hast du jemals über die Ironie nachgedacht, die das Schicksal von Familien bestimmt? Nimm zum Beispiel eine Familie, die mit einem großen Mann anfängt – einem großen Helden, einem großen Heiligen – und dann folgen immer nur mittelmäßige Menschen. Ich hoffe du begreifst die Ironie davon. Auf der andern Seite, nimm eine Familie, die während vier Jahrhunderten nur mittelmäßige Leute hervorbringt und dann plötzlich mit der Erzeugung eines Gauners endet. Nimm meine Familie als ein Beispiel für diesen Fall. Ich stamme von einer Kette von Vorfahren ab, die direkt auf Adam zurückführt, und von keinem einzigen hat je die Welt gehört, außer von Adam und von mir. Und selbst Adam verdankt seine Berühmtheit keineswegs seiner persönlichen Begabung, sondern allein seiner Stellung, die einzig in ihrer Art ist. Der erste Mensch mußte nolens volens eine gewisse Berühmtheit erlangen. Aber von Adam bis Adrian – Totenstille! Dann plötzlich silberklingende Musik. Und Adrian – merke die Vorherbestimmung – Adrian ist kinderlos. Er ist das letzte Glied. Mit ihm schließt die fünftausend Jahre lange Kette. Es ist das plötzliche glänzende Aufflammen des Feuers, ehe es erlischt. Gut also, jetzt sage mir, welches Ende des Stocks möchtest du sein? Der glänzende silberne Handgriff, oder die simple eiserne Zwinge?«

Sie fuhren nach der Isola Nobile auf einem der kleinen, langen und schlanken Sampaoler vipere-Boote, die viel Ähnlichkeit mit einer venezianischen Gondel aufweisen, nur daß sie keine Dächer haben, dafür aber einen kurzen Mast im Bug, mit einem Segel, das nur aufgezogen wird, wenn der Wind direkt dahinter steht. Der Palast auf der Isola Nobile ist einer der allerschönsten in der Welt, mit feinen vier, dem Anschein nach aus dem Wasser emporsteigenden, sanft abgetönten Marmorfassaden, mit seinen langen Säulengängen, mit seinen anmutigen maurischen Fenstern und mit der Fülle seiner abwechslungsreichen, spitzenartigen Bildhauerarbeiten. Auch hier mußten sie ihre Namen ins Fremdenbuch eintragen und wieder wurden sie von einem Diener geführt, doch war es dieses Mal ein junger, schweigsamer Mensch. Er führte sie durch endlose prächtige Räume, noch viel prächtiger als die im Palazzo Rosso. Sie waren mit Porphyr, Alabaster, Mosaiken, vergoldeten Schnitzereien und Stuckarbeiten geschmückt und enthielten große Schätze an Gemälden und Bildhauerarbeiten. Weit entfernt, ihnen die Privatgemächer zu zeigen, sprang der Diener an einer Stelle voraus und schloß hastig eine Tür, die offengestanden hatte, und durch die sie einen Blick in ein fein ausgestattetes Wohnzimmer erhascht hatten. Zum Schluß übergab er sie einem Gärtner, der ihnen die Gärten auf der Isola Fratello und der Isola Sorella zeigte mit ihren Kampferbäumen und Zedern, ihren Orangen und Oleandern, Magnolien und Lorbeeren und ihren Terrassen, auf denen sich Tausende von Eidechsen sonnten, die bei der Annäherung der Menschen blitzschnell verschwanden. Es waren herrliche Gärten mit Springbrunnen, Grotten und Tempeln, von Pfauen, Flamingos und zahmen Ringeltauben bevölkert, und überall, allüberall genoß man die herrliche Aussicht auf die Bucht mit ihrem Gürtel von sonnumfluteten Bergen. Der Gärtner pflückte ihnen eine Unmenge Blumen, und sie kehrten mit Armen voll Rosen, Lilien, Oleander und Jasmin nach der Stadt zurück.


Später am Nachmittag saß Anthony, der seinen Freund den geplanten Eselritt über Land hatte allein antreten lassen, in tiefer Niedergeschlagenheit am offenen Fenster seines Schlafzimmers. Da erschien plötzlich, in der Richtung nach Vallanza steuernd, am Eingang der Bucht, zwischen den Vorgebirgen Capo del Papa und Capo del Turco eine weiße Dampfjacht – sie gewährte einen hübschen, fröhlichen Anblick, wie sie so im Sonnenschein auf dem blauen, leicht gekräuselten Wasser dahinglitt. Und plötzlich, während sein Auge dem Fahrzeug folgte, fühlte Anthony sein schweres Herz leichter werden; der Druck wich von seiner Seele – es war ihm, als müsse ihm die weiße Jacht etwas Gutes bringen. Es war abgeschmackt, aber es war so – er konnte nicht dagegen an. Ein beinahe frohes Gefühl kam über ihn.

»Sie sagte, daß sie mich liebe, – sie sagte, daß sie mich liebe,« wiederholte er sich immer wieder, »und in spätestens neun Tagen, in neun kurzen Tagen werde ich wieder bei ihr sein.«

Er holte den entwendeten Fächer hervor und preßte ihn an sein Gesicht. Dann suchte er seine Schreibmaterialien zusammen und schrieb einen langen Brief an sie – einen Brief voll Frohsinn und Leidenschaft.

Seine plötzliche Stimmungsänderung wird vielleicht durch den Umstand beachtenswert, daß die Jacht zufällig der »Fiorimondo« war, der die Gräfin von Sampaolo und ihr Gefolge von Venedig, wohin er vor zwei Tagen durch ein in Paris aufgegebenes Telegramm beordert worden war, in die Heimat zurückführte.


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