Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.

Fröhliches Juniwetter lag über einem tiefgrünen englischen Park – über einem im Süden Englands, in der Nähe der See liegenden Park –, dort wo die Parke am grünsten und das Juniwetter, falls es nicht zufällig trüb und regnerisch ist, am hellsten und lustigsten lacht. Amseln ließen ihre glockenhellen Stimmen ertönen und im Blattwerk versteckt sangen die Drosseln ihr Lied. Hie und da weideten oder schliefen Schafe mit frischgeschorenem, rosigschimmerndem Vlies hinter ihren Hürden. Der Weißdorn, der späte Weißdorn und der Geißklee standen in Blüte. Die Sonne sandle glühende Strahlen hernieder und die Luft war erfüllt von heißem Erdgeruch. –

Kaum war sein schäbiger, mit Gepäck beladener Viktoriawagen in die Allee eingebogen, so ließ Anthony Craford halten und stieg aus.

»Ich will das letzte Stück zu Fuß gehen,« sagte er zu dem Kutscher, während er ihn entlohnte, »fahren Sie zum Hause – die Diener werden für das Gepäck sorgen.«

»Ja, gnädiger Herr,« erwiderte der Kutscher und trieb das Pferd leicht mit der Peitsche an, worauf der alte Gaul mit einem Feuer, das man nicht mehr bei ihm vermutet hätte, wie besessen davongaloppierte und das alte, schwankende Fuhrwerk hinter sich herriß.

»Sieh …« deklamierte nun plötzlich eine Stimme in einer Art sonderbarem Sprechgesang,

»… Sieh, wie zu des Tamburins Klingen
Die jungen Ziegen springen –«

Es war ein reicher, weicher Bariton, der mit einem kurzen Gelächter abbrach.

Anthony drehte sich um.

Wenig Schritte entfernt stand ein in weißen Flanell gekleideter dicker Mann auf dem Rasen; im ganzen genommen machte er mit seinem lächelnden, rosigen, runden, glattrasierten Gesicht und seinen großen, leuchtenden blauen Augen einen sehr angenehmen Eindruck.

»Hallo! Bist du's, alte Pfirsichblüte?« sagte Anthony mit etwas gekünstelter Gelassenheit.

»Was ist das für eine Frage!« protestierte der andre, während er sich mit wiegenden, abgemessenen Schritten näherte. »Alles, was ich dir sagen kann, ist, daß der ein sehr netter und mir merkwürdig ähnlicher Herr ist. Du bist doch eigentlich alt genug, daß du nachgerade wissen könntest, daß unter Gottes Sonne nichts schwerer ist, als festzustellen, wer wer ist; die Persönlichkeit eines Menschen ist das allergrößte Mysterium! Wie kannst du also von mir verlangen, daß ich für die meine Zeugnis ablege? Wie geht es dir?«

Mit zerstreuter Miene reichte er dem Ankömmling seine dicke, rosige linke Hand hin. Mit der rechten hielt er einen Strauß Mohnblumen von leuchtendem Rot und Grün – offenbar die Ursache seiner Zerstreutheit – zur Besichtigung in die Höhe. »Sind sie nicht berückend schön?« fragte er. »Ich habe sie auf einem Streifzug in Pächter Blogrims Kreidegrube erbeutet. Wenn du Augen hast zu sehen, so sieh und bewundere – bewundere und kleide deine Bewunderung in Worte.«

Damit schüttelte er die Blumen vor Anthonys Gesicht. Als dieser sie aber gelassen ansah und nur »Hm! Hm!« sagte, girrte der andre die Blumen an: »Ach, meine schönen Purpurblütchen, will denn dieser gleichgültige Mann euch wirklich durchaus nicht bewundern?«

Und wie eine dem Publikum für Beifall und Blumenspenden dankende Primadonna drückte er die Mohnköpfe an seine Brust.

Anthony seufzte. Er war ein stattlicher, etwa dreißigjähriger Mann mit braunen Augen, gesunder Farbe und einer ausgesprochen aristokratischen Nase, auf die er, seiner Herkunft nach, auch gerechten Anspruch hatte. Vielleicht glaubte er, daß diese Art Nase ihrem Träger auch gewisse Verpflichtungen auferlege – zum Beispiel hinsichtlich der Kleidung. Wenigstens trug er einen gesucht einfachen hellgrauen Sommeranzug, und der Knoten der selbstgeknüpften Krawatte verriet nicht nur die geübte Hand, sondern auch den gut geschulten Geschmack ihres Trägers. Gleichwohl ließ sich aus dem Gesamteindruck der Erscheinung, aus Bewegung und Haltung, aus Stimme und Gesichtsausdruck, auf ein melancholisch gestimmtes Gemüt, auf eine gelassene, nichtgrollende Ergebung ins Unvermeidliche schließen, als hätte er schon lange entdeckt, daß Kuchen meist glitschig sind, und als hätte er sich in diese Erkenntnis mit einem Bedauern ergeben, das nicht ohne Humor wäre.

Dagegen schien sein in weite weiße Flanellkleider gehüllter Freund, dessen strohgelbes, ungewöhnlich langgehaltenes Haar unter der weißen Cricketmütze hervorwallte, über jede Modetorheit erhaben zu sein. Er war in dem Alter, das er selbst als »eines gesunden Mannes Jugendblüte, das goldene, frohe, romantische Alter von vierzig Jahren« pries. Er sah frisch, froh und vergnügt in die Welt und paßte ausgezeichnet in die lachende Landschaft und den schönen Sommertag hinein. Im übrigen soll hiermit der Herr Adrian Willes vorgestellt sein: Sänger und Komponist nach Naturanlage, in Wirklichkeit aber Anthony Crafords Hausgenosse, Mentor, Freund und Geschäftsführer.

Also: Anthony seufzte.

»Ich will dir sagen, was ich bewundere,« antwortete er trocken. »Ich bewundere die Freude und das Entzücken, womit du mein unerwartetes Heimkommen begrüßt. Die letzte Nachricht von mir erhieltst du aus Kalifornien, und nun bin ich hier – du mußt doch denken, ich sei vom Himmel heruntergeschneit.«

Mit einem gewissen boshaften Augenzwinkern sah ihn Adrian an und sagte: »Die höchste Freude ist stumm! Übrigens brauchst du dir gar nicht einzubilden, du kommest so gänzlich unerwartet heim! Ich habe die ganze Zeit ein Jucken in meinem Daumen verspürt und erst gestern morgen, während ich mich rasierte, habe ich zu meinem Spiegelbild gesagt: ›Paß mal auf, ob nicht Thony morgen zurückkommt‹ – das habe ich gesagt!«

»Das war natürlich nur der Ausfluß deines schlechten Gewissens,« erklärte Thony, »denn wenn die Katze aus ist – und so weiter!«

»Oho, wenn du in Sprichwörtern machen willst, so kann ich dir auch mit einem dienen, wo von einem Penny die Rede ist.« Dabei hielt er seinen Mohnblumenstrauß etwas in die Höhe und betrachtete ihn mit kritischem Blick bald von rechts, bald von links. »Wollen wir jetzt den Heimweg antreten?« fragte er dann.

»Nein,« sagte Anthony energisch. »Ich werde das allerdings tun, du aber wirst, falls du nicht inzwischen deine Natur verändert hast, neben mir herhüpfen und um mich herumtänzeln. Komm!«

Damit nahm er Adrians Arm und führte ihn unter dem dichten Schatten der alten Bäume über den im Sonnenschein goldgrün erglänzenden, sammetweichen Rasen nach dem alten, seiner Geschichte wegen weit und breit berühmten Herrenhaus – einem in echt englischem, spätgotischem Stil errichteten rechtwinkeligen Backsteinbau mit gepflastertem Innenhof und zahllosen gleich Minaretts in die Lüfte ragenden Kaminen. Auch eine versteckte Kapelle und ein Schlupfwinkel für die Priester waren vorhanden, denn die Crafords gehörten zu den katholischen Adelsgeschlechtern, die sich damit brüsten konnten, nie den Glauben verloren zu haben. Das Schloß lag so, daß seine von Efeu bedeckte Südseite den Blick auf große Wiesen, farbenprächtige Blumenbeete und auf die in der Ferne blauende See gewährte; die Nordseite dagegen ging auf den mit kurzgehaltenen Buchseinfassungen und wundersam verschnittenen Taxusbäumen geschmückten, von festen Wällen umgebenen Burggarten, wo auch die alte Sonnenuhr nicht fehlte, und auf den großen alten Park.

Anthony und Adrian schlenderten Arm in Arm schweigend vorwärts, bis sie auf einer leichten Bodenanschwellung stehen blieben, von wo aus sie das Haus und die See erblickten.

Adrian machte seinen Arm frei und deutete auf das Meer hinaus. »Du siehst,« sagte er, »die See hat ihr blauestes Gewand angelegt, um dich willkommen zu heißen. Und sieh, auch die in den Farben der Iris erglänzenden Klippen recken dir zum Gruß, gleich Bannern, ihre Riffe empor! O, du kommst ganz gewiß nicht unerwartet! Wenn auch da drüben die Schornsteine nicht rauchen, wenn du auch deinen Herd kalt findest, so trittst du doch in ein behagliches Haus! Der Jahreszeit zum Trotz haben wir wonnig warmes Wetter und haben deshalb die Öfen ausgehen lassen. Es ist Juni, folglich ist die Stadt überfüllt und das Land entvölkert. Übrigens habe ich dir eine große Neuigkeit zu verkünden. Rate einmal, was es ist.«

»Ach du lieber Gott, ich kann schlecht Rätsel raten,« entgegnete Anthony in müdem Ton, während sie ihren Weg fortsetzten.

»Nun, was schenkst du mir dann, wenn ich einfach damit herausplatze?« fragte Adrian und watschelte seitwärts voran, um seinem Freund ins Gesicht sehen zu können.

»Meine ungeteilte Aufmerksamkeit – vorausgesetzt, daß du dich kurz faßt,« versprach Anthony.

»Aber du,« drängte Adrian, »zeige doch wenigstens ein ganz klein bißchen Neugierde!«

»Neugierde ist ein Laster, das man mich in meiner Jugend zu unterdrücken gelehrt hat,« lautete die Antwort.

»Der Kuckuck hole deine Jugend,« rief Adrian verdrießlich. »Da ich dich ja aber offenbar nicht anders beschwichtigen kann, wird es um des lieben Friedens willen wohl am besten sein, ich sage es dir geradezu und schaffe damit die Sache aus der Welt. Also,« damit blieb er stehen und sah seinem Freund ins Gesicht, um den Eindruck zu beobachten, den seine Worte hervorbringen würden, »das Crafordsche Lusthaus ist vermietet!«

»So!« sagte Anthony ohne irgend ein Zeichen der Erregung.

Adrians Züge verfinsterten sich.

»Hat man je etwas Unmenschlicheres erlebt?« fragte er traurig. »Ich teile ihm mit, daß, dank meinem ganz übernatürlichen, unerhörten Verstande, ihm sein allereigenster Mühlstein vom Hals genommen worden ist! Ich sage ihm, daß ein riesiger weißer Elefant von einem Hause, der ihn seit Jahren fast selbst aus dem Hause hinausgefressen und ihn arm gemacht hat, sich – alles immer dank meinem übernatürlichen Verstande – in eine Einnahmequelle verwandelt hat! Und was sagt er dazu? ›So!‹ ist alles, was er sagt, als ob ihn die ganze Sache keinen Pfifferling anginge. Stürme, stürme! Winterwind! – Dein Zahn beißt nicht so scharf als Menschenundank tut!«

»Schweigen,« erinnerte ihn Anthony, »ist der beredteste Ausdruck der höchsten Freude!«

»Pah, pah!« erwiderte Adrian. »Ich pfeife auf deine Redensarten! Übrigens möchte ich trotz alledem einen ganzen Schilling darauf wetten, daß du Geld brauchst.«

»Ich halte es für ziemlich gemein, auf etwas zu wetten, was man allen Anlaß hat, für eine ganz sichere Tatsache zu halten.«

»Eine sichere Tatsache?« stöhnte Adrian und erhob seine dicken Arme hilfeflehend zum Himmel. »Da haben wir's! Er braucht Geld!«

Und seine Stimme brach und erstarb in Schluchzen.

»Weißt du denn eigentlich,« fragte er dann, »wie viele Pfund Sterling du in den letzten zwölf Monaten ausgegeben hast? Weißt du denn eigentlich, wie oft deine schwerduldenden, übergeduldigen Bankiers mir geschrieben haben, dein Guthaben sei überschritten und ob ich nicht so lieb und gut sein wolle, es wieder ins Gleichgewicht zu bringen? Nein? Du weißt es nicht? Darauf hätte ich ja schwören können! Nun, ich aber weiß es – leider Gottes! Und es ist meine schwere und traurige Pflicht, dich darauf aufmerksam zu machen, daß das Gut dies nicht aushalten kann – – wenn man das überhaupt ein Gut nennen kann, was durch die Verschwendung deiner Vorfahren auf etliche drei Morgen und eine Kuh zusammengeschrumpft ist! – Also du brauchst Geld! Was tust du denn nur mit all dem Geld? Welcher Verworfenheit macht sich nicht ein Mann schuldig, der solche Unsummen Geldes vergeudet! Da soll mich doch gleich die Schwerenot, wenn ich nicht noch lieber Wasser mit einem Sieb schöpfe! Na, aber immerhin – dem Himmel sei Dank und meinem eigenen übernatürlichen Verstand –: ich verfüge über ganz unverhoffte Hilfsmittel, denn Schloß Craford ist vermietet.«

»Das hast du schon einmal gesagt,« bemerkte Anthony, mit unterdrücktem Gähnen.

»Und werde es noch öfter sagen, wenn ich den Drang dazu fühle,« gab Adrian gelassen zurück, »denn dieser glückliche Umstand ist für den Menschen, der deinem Herzen am nächsten steht, von höchster Wichtigkeit, weil er eben Geld braucht. Wäre nicht das neue Haus vermietet, so fändest du mich völlig abgebrannt. Aber die Heiligen haben ein Einsehen gehabt, auch bin ich ein unerhört tatkräftiger Verwalter, und deshalb ist das größte, häßlichste und kostspieligste Haus der ganzen Gegend vermietet.«

»So sei es denn, geliebtes Goldhaar,« sagte Anthony gottergeben. »Ich sage ja nichts dagegen.«

»Ich würde es auch nicht für unbescheiden halten,« fuhr Adrian fort, »wenn du fragtest, an wen es vermietet sei.«

»Die Frage ist überflüssig,« gab Anthony zurück, »denn es ist natürlich an einen Dummkopf vermietet! Niemand außer einem Dummkopf wäre dumm genug, es zu mieten.«

»Diesesmal bist du aber schön auf dem Holzweg! Es ist nämlich an eine Dame vermietet,« erklärte Adrian.

»Als ob es nicht auch weibliche Dummköpfe gäbe!« belehrte ihn Anthony.

»Eine sehr unhöfliche Behauptung von dir,« antwortete Adrian mißbilligend. »Diese Dame ist – falls du die ganze Wahrheit auf einmal zu tragen vermagst – eine Italienerin.«

»Eine Italienerin? Oh!« Anthonys Interesse schien doch ein wenig zu erwachen.

Adrian lachte.

»Ich habe mir gedacht, daß dich dies aufwecken würde! Ja, es ist eine Signora Torrebianca.«

»So?« sagte Anthony, dessen Interesse wieder zu erlahmen schien.

»Ja, la Nobil Donna Susanna Torrebianca. Ist das nicht ein romantischer Name? Die Dame erinnert an die Heldin irgend eines schönen italienischen Romans: jung und schwarz und schön und in jeder Beziehung entzückend.«

»Hm! Und kein Dummkopf? Dann natürlich eine Abenteuerin! Das liegt ja auf der Hand! Und du wirst nie einem Pfennig Miete ins Gesicht sehen,« sagte Anthony.

»Völlig fehlgeschossen,« beteuerte Adrian feierlich. »Es ist eine höchst achtbare Dame – verlaß dich auf meinen Scharfblick –, außerdem gewissenhafte, eifrige Katholikin! Ich glaube, sie hat das Haus hauptsächlich deshalb genommen, weil wir hier eine Kapelle haben. Vater David ist ein Herz und eine Seele mit ihr. Und reich ist sie! Sie hat Empfehlungen an die allerbesten Bankhäuser! Keine Miete!« sagte er: »Als ob ich nicht ein Vierteljahr im voraus bezahlt bekommen hätte! Ich vermiete doch möbliert, nicht wahr? Also! Und da ist es allgemein üblich, daß ein Vierteljahr im voraus bezahlt wird! Und gebildet! Sie hat alles gelesen und spricht Englisch so gut wie du oder ich, denn sie hat schon als kleines Kind englische Erzieherinnen gehabt. Und Menschenkennerin! Sie ist der Ansicht, daß ich der netteste Mann sei, den sie je kennen gelernt hat. Sie bewundert meinen Gesang und ist entzückt von all den geistreichen Bemerkungen, die ich mache. Übrigens hat sie auch selbst Einfälle, die gar nicht übel sind, und begleitet mich mit viel Verständnis und Gefühl. Und, lieber Thony,« dabei legte er seine Hand eindringlich auf Thonys Arm und flüsterte mit vor Rührung erstickter Stimme, »und sie hat einen Koch – einen Koch – ah!«

Dabei schmatzte er mit den Lippen, als schwelge er in einer unvergeßlichen Erinnerung.

»Sie hat ihn aus Italien mitgebracht, und er hat eine Art, Kalbsröschen zuzubereiten … na, du wirst's ja selber schmecken. Er heißt Serafino – kein Wunder! Und das allerentzückendste Menschenkind, das je geboren worden ist, lebt bei ihr: eine Miß Sandus, Tochter des verstorbenen Admirals Sir Geoffrey Sandus. Sie ist eine Taube, ein Engel, ein Goldkäfer und hat mein ganzes Herz erobert. Und ich –« damit tänzelte er einige Schritte voraus und brach plötzlich in den Gesang aus:

»Und ich, ich habe das ihre!

Kurzum, wir sind ganz vernarrt ineinander. Sie heißt mich nur ihren ›Minnesänger‹. Sie hat die schönsten Hände von allen irdischen Frauen. Sie ist so lieblich und süß wie ein Kuß, dessen man sich nach dem Tode noch erinnert. Sie ist spitz wie eine Nadel. Sie ist licht und klar wie ein im Tau erglänzender Sommermorgen. Sie hat ihr eigenes Haus in Kensington, und sie ist vierundsiebzig Jahre alt.«

Anthonys Teilnahme schien wieder etwas zu erwachen.

»Vierundsiebzig? Und das nennst du jung?« fragte er mit einem Ton, der seine Bereitwilligkeit, sich davon überzeugen zu lassen, unverkennbar verriet.

Adrian warf sich in die Brust.

»Du unterschiebst meinen Worten beharrlich eine falsche Bedeutung! Wie dir ganz wohl bewußt ist, sprach ich von Miß Sandus. Donna Torrebianca ist weder vierundsiebzig, noch nahe daran. Sie ist noch nicht vierundzwanzig – oder sagen wir, so um fünfundzwanzig herum. Dazu solche Haare – solche Kleider – und solche Augen! O, mein Lieber!« Dabei warf er eine Kußhand in die Lüfte.

»Augen! Denke dir zwei Monde, die über einer tropischen –«

» Allons donc,« unterbrach ihn Anthony. »Bezwinge dich! Wo ist Donna Torrebiancas Gatte?«

»Ach,« sagte Adrian, indem seine Stimme plötzlich sank, »wo ist Donna Torrebiancas Gatte? Das ist die Frage! Ja! Wo ist er?« Dabei zwinkerte er bedeutungsvoll mit den Augen. »Wie soll ich dir sagen können, wo er weilt? Meinst du denn, daß ich, falls ich das vermöchte, mich hier im Hinterland mit wenig angenehmer, schlecht gelohnter Arbeit zuschanden quälen würde, statt mir ein grenzenlos großes Vermögen als Orakel zu erwerben? Ja, wenn ich das wüßte, da wäre ich ein Millionär, eine Berühmtheit, ein Orakel! Wo ist Donna Torrebiancas Gatte? Schöner Schäfer, sag mir's doch!«

»Ach so. Ein geheimnisvolles Verschwinden?«

»Bravo!« krähte Adrian vergnügt. »Nicht nur, daß ich selbst voll Witz bin – ich rufe auch bei andern Witz hervor!« Dabei klopfte er seinen Freund auf die Schulter. »Ein geheimnisvolles Verschwinden! Das ist's! Das ist's haarscharf! Oft gedacht, doch nie so gut gesagt – bis zu diesem Augenblick! Der Herr ist nämlich – wie die ungebildete Menge sich roherweise auszudrücken pflegt – gestorben.«

»Im ganzen,« äußerte Anthony nachdenklich, indem er seinen Freund von Kopf zu Fuß betrachtete, »bist du ein eingefleischter Egoist, aber du verstehst es ausgezeichnet, viel Geschrei zu machen um wenig Wolle.«

»Ja, gestorben,« wiederholte Adrian, der seinen eigenen Gedankengang weiter verfolgte. »Donna Susanna ist Witwe, eine arme, einsame Witwe, eine reiche, begehrenswerte Witwe. Du mußt sehr lieb gegen sie sein.«

»Warum heiratest du sie denn nicht?« fragte Anthony.

»Puh!« machte Adrian.

»Warum nicht?« beharrte Anthony. »Wenn sie doch wirklich reich ist? Sie mißfällt dir nicht – du achtest sie –, vielleicht könntest du dich mit ernstlichem, gutem Willen sogar dahin bringen, sie zu lieben. Sie würde dir ein Heim und eine Stellung in der Gesellschaft begründen; sie würde einen ehrbaren Spießbürger aus dir machen und mich von dir befreien. Du weißt selbst, was für eine Verantwortung und was für Unkosten ich mir mit dir auf den Hals geladen habe! Warum willst du sie nicht heiraten? Du bist es mir einfach schuldig, dir die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen.«

»Puh!« wiederholte Adrian, aber er sah sehr selbstbewußt aus und schmunzelte etwas eingebildet vor sich hin. »Was du für Unsinn schwätzt. Ich bin zu jung, viel zu jung, um ans Heiraten denken zu können!«

»Sieh ihn erröten und kichern und seine schönen Locken schütteln!« rief Anthony verachtungsvoll das Weltall an.


Mittlerweile hatten sie das Haus umschritten und standen vor dessen efeubewachsener Südseite, wo der Sonnenschein grell auf der Rasenfläche lag und der Geruch des Buchses schon in der Luft hing. Die lange, niedrige Front mit dem Dunkelrot ihrer alten Ziegel und dem tiefen Grün ihres Efeus hob sich sonnenbeschienen von dem dunkleren Grün des Parks und dem Blau des sanften englischen Himmels ab. Die Stufen zu der Terrasse hinauf waren warm unter ihren Füßen, als sie hinaufstiegen. Auf dem durchbrochenen Geländer waren in kurzen Zwischenräumen große Urnen aus Terrakotta aufgestellt, in denen Rosen, weiße und rote Rosen, üppig blühten; rechts und links von der Tür rankten sich aus größeren Gefäßen ebenfalls weiße und rote Rosen empor, die sich über dem zur Halle führenden Eingang anmutig ineinander schlangen.

Die Tür zur Halle stand offen. Die Halle selbst schien den aus dem hellen Tageslicht Eintretenden ganz finster zu sein; erst nach und nach gewöhnte sich das Auge an die Dunkelheit und vermochte die einzelnen Gegenstände zu unterscheiden. Es war, wie Adrian zu klagen pflegte, »ganz der gewöhnliche Typus einer Theaterhalle, wo man sofort an ein verschwundenes Testament, an ein Familiengeheimnis oder einen geharnischten Geist denken muß«. Dagegen sagt die »Grafschaftsgeschichte«: »ein vornehmes Gelaß, viereckig und sehr geräumig, charakteristisch für die Zeit, wo derartige Hallen im Notfall auch als Wacheräume benützt werden mußten.«

Viereckig und geräumig war der Raum sicher, aber nichtsdestoweniger auch etwas alltäglich: Decke und Wände waren mit dunkelm, poliertem Eichenholz verkleidet und der Fußboden mit großen Steinfliesen gepflastert, die gegenwärtig zum größten Teil von einem verschossenen türkischen Teppich bedeckt waren; die niedrigen Fenster mit ihren kleinen in Blei gefaßten Scheiben waren in tiefe Mauernischen eingelassen; über einem quer vor der Ecke errichteten großen Kamin war das Crafordsche Wappen zu sehen, und eine breite eichene Treppe führte nach dem oberen Stockwerk hinauf.

Die Halle war – unangemessen genug – ganz modern, aber etwas schäbig und, wenn man so sagen kann, »männlich« möbliert mit stark abgenützten ledernen Lehnstühlen und Sesseln und schweren, mit Büchern und Zeitschriften bedeckten Tischen. Durch die schmalen Fenster fielen schräge Sonnenstrahlen und wogten wie ein Wirbel von Goldstaub, und auf dem verblichenen Teppich lag nahe bei der Tür ein glänzendes Viereck Sonnenschein, das die alten blinden Farben zu neuem Leben erwärmte. Der übrige Raum war in Dämmerlicht gehüllt. Die schönen eichenen Wände waren nicht durch aufgehängte Bilder verdorben worden.

»Kein Mensch rührt sich,« bemerkte Adrian, »nicht einmal eine Maus. Sellers wird sich wohl im Putzraum eingeschlossen haben und seine wehrlose Geige mißhandeln. Das kommt davon, wenn man einen musikalischen Hausburschen hat! Und Wickersmith wird seine tägliche Andacht verrichten: er beklagt sich immer bei mir, daß er erst nach dem zweiten Frühstück Zeit für seine Morgenbetrachtung finde. Das kommt davon, wenn man einen frommen Haushofmeister hat! Ich bin nur neugierig, ob irgend jemand vorhanden war, der deinen Rosselenker von deinem Gepäck befreit hat! Wahrscheinlich hat er kehrt gemacht und es seinen heimischen Penaten zugeführt – wenigstens sehe ich nirgends eine Spur davon. Aber Kopf hoch! Es tut nichts! In Franks Kampferkiste wird sich schon noch altes Zeug von dir finden, und wenn nicht, so leihe ich dir einen Anzug von mir, und dann wird der Herr von und zu Craford eine zum Totlachen komische Figur machen! Du wirst sie kennen lernen … laß mal sehen. Heute ist Mittwoch – wir werden ihr morgen unsern Besuch machen!«

»Wem?« fragte Anthony ganz bestürzt.

»Haben wir vielleicht von der Königin Berengaria gesprochen?« fragte Adrian mit der Nase in der Luft. »Wem? fragst du. Wir werden morgen nachmittag unsern Besuch machen!«

»Ich nicht,« erklärte Anthony.

»Morgen nicht?« Adrian zog mit einem kindlich naiven, harmlosen Gesichtsausdruck seine rotbraunen, halbmondförmigen Brauen in die Höhe. »Nun gut, dann am Freitag, obgleich er Unglück bringt, und man an einem Fasttag im Zweifelsfall besser niemand heimsucht. Es ist ja so ein Schwindel mit der Behauptung, daß Fisch der beste Nährstoff für das Gehirn sei. Fleisch, rohes Fleisch – das ist's, was das Gehirn braucht!« Er klopfte sich an die Stirn und wiederholte: »Also Freitag, wenn dir das lieber ist!«

Anthony setzte sich auf die Armlehne eines Ledersessels, zog mit wohlberechneter Bedächtigkeit sein Zigarettenetui aus der Tasche, wählte sich sorgsam eine Zigarette aus, steckte das Etui wieder ein, brachte sein Streichholzbüchschen hervor, zündete ein Streichholz an und setzte seine Zigarette in Brand.

»Nein, lieber Schnabelschnell,« sagte er endlich hinter einer Rauchwolke hervor, »am Freitag auch nicht!« Dabei schüttelte er lächelnd den Kopf.

Nun malte sich eine gewisse Unruhe auf Adrians Zügen.

»So bestimme du selbst den dir passenden Tag!« Gespannt und beunruhigt wartete er auf die Antwort.

Anthony lachte aus vollem Halse.

»Mir paßt gar keiner. Ich habe nicht das leiseste Verlangen nach der Bekanntschaft dieser guten Frau und beabsichtige überhaupt nicht, ihr einen Besuch zu machen.«

Flehend streckte Adrian beide Hände nach ihm aus. »Aber Anthony –« bat er.

»Nein,« erklärte dieser mit Bestimmtheit. »Ich bin überhaupt kein Gesellschaftsmensch und bin zu meiner Erholung und zum Ausruhen hierher gekommen. Ich mache keine Besuche. Laß dir das gesagt sein! Besuche, sage ich! Und auch noch auf dem Land! Als ob ich sie nicht genügend kennte, diese Besuche! Dreimal heiliger britischer Stumpfsinn! Diese gezierten Gesichter! Dieses leere Grinsen! Diese matten, schläfrigen Anläufe zu einer Unterhaltung! Dieses mißtrauische Auffahren und Aufpassen, wenn du zufällig einmal etwas sagst, was einen Sinn hat! Und dann zu allem auch noch diese plumpen, auffallenden, immer etwas beschmutzten Stiefel! Ich mache keine Besuche! Und was das Bekanntschaftenmachen betrifft, so erlöse mich der Herr von denen, die ich schon gemacht habe. Im ganzen großen England erinnere ich mich nur dreier Bekannten, die nicht von derselben tödlichen Alltäglichkeit sind – und einer davon,« schloß er betrübt mit einer Verbeugung gegen seinen Gefährten, »und einer davon ist dick und wird alt.«

»Armer Junge,« bedauerte ihn Adrian, »du bist müde und überangestrengt. Geh in dein Zimmer, nimm ein Bad und bürste dich ab. Das frischt dich ein bißchen auf. Dann kannst du um halb fünf Uhr zum Tee in den Garten kommen und dich aufs neue meiner Gesellschaft erfreuen. O, du wirst dein Zimmer ganz in Ordnung finden, denn es hat mich diese ganzen drei Monate im Daumen gejuckt. Soll ich dir Wick schicken?«

»Ja, wenn du so gut sein willst,« sagte Anthony, indem er aufstand und die Treppe hinaufging.

Adrian wartete, bis er oben angelangt war, dann rief er ihm nach: »Ob du willst oder nicht – am Sonntag mußt du doch mit ihr zusammentreffen! Wo in aller Welt denkst du denn, daß sie die Messe hören sollte?«

»Hol's der Henker!« rief Anthony zurück.

Denn das stand fest: sollte die Dame nicht sieben Meilen weit bis nach Westerleigh fahren, so konnte sie die Messe nur als sein Gast in der Kapelle seines Hauses hören.


 << zurück weiter >>