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Neuntes Kapitel.

Durch das unmittelbar an das neue Schloß stoßende Grundstück fließt ein kleiner Bach, der am Abhang des Hügels aus einem Dickicht von Zaunreben entspringt und, eine Reihe kleiner Kaskaden bildend, sich über braune Felsen, zwischen moosigen, von Farnen und wilden Rosen beschatteten Ufern, durch ein kleines Fichtenwäldchen bis in den Teich im Wiesental hinabwindet und -stürzt. Es ist ein hübsches Bächlein, dessen silberhelles Murmeln und Plätschern schmeichelnd und erfrischend ins Ohr fällt.

Diesem Bach hatte sich Anthony genähert, und er wollte eben, um den Parkausgang nach der Wetherleighstraße zu gewinnen, hinüberspringen, als er durch das: »Bst – bst! Bitte – bitte!« zum Stehen gebracht wurde.

Dort am Ufer, im Schatten der Fichten auf dem rostfarbenen Naturteppich saß in einem weißen Kleide Susanna, aber ohne Hut und Handschuhe. Sie bewegte, zur Vorsicht mahnend, die Hand, aber ihre Augen lächelten ihm freundlichen Willkomm zu.

Mit heftig klopfendem Herzen stand er wartend still.

»Es ist eine Blaumeise,« erklärte sie ihm in kaum vernehmbarem Flüsterton; »der seltenste Vogel, der hierherkommt. Sehen Sie, dort badet sie.«

Sie deutete stromaufwärts, wo einige Meter von ihnen entfernt in einer kleinen mit Wasser gefüllten Vertiefung eine niedliche Blaumeise mit ersichtlichem Entzücken ein Bad nahm. Sie tauchte unter, pfluderte lustig, flatterte heraus, glättete ihr Gefieder, tauchte wieder unter, fuhr dann wieder heraus, schüttelte sich und spritzte einen Schauer kleiner Wassertröpfchen umher, die wie vielfarbige Sternchen in den Sonnenstrahlen glitzerten.

»Das ist das Entzückendste an diesem kleinen Wasser,« bemerkte Susanna noch immer leise, »daß sich aus dem Umkreis von einigen Meilen alle Vögel zum Baden und Trinken hier einstellen – alle, auch die selteneren und scheueren Tierchen, die man sonst nirgends sieht.«

»O ja, es ist sehr nett und interessant,« erwiderte Anthony, der vor lauter Freude gar nicht recht wußte, was er sagte.

»Sie sagen das so unüberzeugt,« meinte Susanna. »Haben Sie denn keine Freude an den Vögeln?«

»Doch, sogar sehr. Sie sind ein unentbehrlicher Zug des Landschaftsbildes und leisten der Landwirtschaft große Dienste. Aber man freut sich doch auch an andern Dingen, zum Beispiel – –«

» Ecco,« unterbrach sie ihn, »da ist ja Signor Cinciallegra mit seinen Abwaschungen fertig. Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Sehr verbunden,« antwortete Anthony und ließ sich ihr gegenüber nieder. »Ich will ehrlich gestehen, daß ich eben bei Ihnen vorgesprochen habe.«

»O,« sagte sie mit höflicher Verneigung, »ich bedaure, nicht zu Hause gewesen zu sein.«

»Sie sind sehr gütig!« Auch er verbeugte sich. »Ich wollte Ihre Meinung über eine kleine Geschäftsangelegenheit hören.«

»Über eine Geschäftsangelegenheit?« wiederholte sie erstaunt.

»Ja,« sagte er. »Ich möchte nämlich wissen, was es heißen sollte, daß Sie sagten, Sie seien in den ›makellosen‹ Stunden immer draußen. Ganz zufällig war dies heute bei mir der Fall, aber nirgends war eine Spur von Ihnen zu entdecken.«

Susanna sah nachdenklich vor sich hin.

»Ich glaube, ich sprach von Italien und sagte, dies sei die Gewohnheit der Leute in meiner Gegend von Italien. Aber manchmal ändert man eine Gewohnheit und manchmal stellt man auch eine allzu rasche Behauptung auf.«

»Und es steht einem immer frei, eine Verantwortlichkeit von sich abzuschütteln.«

»Und das ist ein Glück! Aber,« fuhr sie fort, »man sollte in seiner Vorliebe auch nicht zu einseitig und nicht ungerecht gegen andre Stunden sein. Ist die gegenwärtige Stunde in ihrer Art nicht auch eine ›makellose‹ mit diesem blauen Himmel, diesem harzigen Tannenduft, dem tiefen, schönen Schatten, der goldenen Patina allüberall, wo ein Sonnenstrahl durchdringt, und dem murmelnden, plätschernden Bach? Was kann denn die arme Stunde dafür, daß sie warten muß, bis die Reihe an sie kommt? Übrigens ist sie ja bei den Antipoden die früheste der frühen Stunden, wenn wahr ist, was in den Büchern steht.«

»Ich bin der gegenwärtigen Stunde so viel Dank schuldig,« sagte Anthony, »daß ich ein Schurke wäre, wollte ich Kritik an ihr üben. Und doch – eppur' si muove – sie flieht, sie hastet fort, und ich möchte sie so gerne für immer festhalten. Weiß man in Ihrer Heimat kein Mittel, glückliche Stunden in ihrem Flug aufzuhalten?«

»Das ist eine Wissenschaft,« antwortete Susanna, leicht den Kopf schüttelnd, »die man höchstens in dem metaphysischen, knickerigen Deutschland lernen könnte. Wir in meiner Heimat sind nicht im mindesten metaphysisch und knickerig. Wir lassen uns diese glänzenden, sonnigen Augenblicke durch die Finger gleiten wie ein Verschwender das Gold, und freuen uns darüber.«

»Ob Sie es wohl sehr übelnehmen werden, wenn ich mir eine Bemerkung erlaube, die ich kaum unterdrücken kann? – Ich wundere mich nämlich über die Gewandtheit, mit der Sie Englisch sprechen.«

Susanna lächelte.

»Dabei ist nichts zum Verwundern: Englisch ist mir so geläufig wie meine Muttersprache. Wie heutzutage jedermann in Italien, habe auch ich stets englische Erzieherinnen gehabt.«

»Ja,« sagte er, »das weiß ich, und meistens sind diese Engländerinnen Irländerinnen – oder nicht? Natürlich sind Sie auch sehr häufig in England gewesen?«

»O nein, ich bin jetzt zum ersten Male hier.«

»Wirklich?« fragte er verwundert. »Und ich glaubte immer, die echte Oxforder Aussprache könne man sich nur an Ort und Stelle aneignen!«

»Habe ich denn die echte Oxforder Aussprache?« fragte Susanna erfreut.

»Ja, aber ich danke Gott auf den Knieen, nicht das echte Oxforder Wesen! – Kommt Ihnen England nicht sehr sonderbar vor?«

»Doch,« erwiderte sie ehrlich, »aber nicht so sehr, als es wohl der Fall wäre, wenn ich nicht so viele englische Romane gelesen hätte. Englische Romane sind nämlich die einzigen, die man in meiner Heimat als junges Mädchen lesen darf.«

»Aha!« sagte Anthony nickend. »Das kommt daher, weil unsre englischen Schriftsteller solche Meister in der Kunst des Vertuschens und Verschweigens sind.« Nach einer kurzen Pause begann er wieder: »Es ist ein Ding um müßige und zudringliche Neugierde und ein andres um ehrliches, freundnachbarliches Interesse. Wenn ich weniger schüchtern wäre, würde ich mir die Frage erlauben, welche Gegend von Italien eigentlich Ihre Heimat ist?«

Susanna lehnte sich zurück und lachte leise. »Meine Heimat? Ja, das ist nicht so leicht gesagt. In gewissem Sinn ist es Rom, denn ich entstamme einer römischen Familie und bin Untertanin des Papstes, obgleich der Herzog von Savoyen im Augenblick seinen Thron usurpiert hat, und seine Regierungsgewalt von der Camorra ausgeübt wird. Dann ist aber auch wieder Venedig meine Heimat. Wir sind Venetianer, wenn es, um dies zu werden, genügt, vierhundert Jahre lang ein Haus in Venedig zu besitzen. Aber die Gegend von Italien, in der ich meist lebe und die ich am meisten, am allermeisten liebe, ist eine Gegend, von der Sie wohl noch nie gehört haben werden: eine kleine, weltverlorene Insel etwa fünfzig Meilen nördlich von Ancona, eine kleine, vom Duft des Rosmarins und Basilikums erfüllte bergige Insel. Sie ist grau, von grauen Olivenwäldern bedeckt, ganz grau, aber dieses Grau wird unterbrochen vom saftigen Grün der Weinberge, von weißen in schönen grünen Gärten gebetteten Villen, von Dörfern mit roten Dächern und weißen Mauern und Kirchtürmen; sie ist ganz grau und doch eitel Blau und Gold. So schwimmt sie zwischen dem blauen Himmel und der blauen See im goldenen Licht – die kleine, unbekannte, wunderschöne Insel Sampaolo!«

Sie war Schauspielerin genug, ganz harmlos auszusehen, als sie das Wort »Sampaolo« aussprach. Ihre Augen blickten träumerisch ins Weite, als sähen sie ihre Insel vor sich auftauchen, aber doch streifte ein verstohlener Seitenblick das Gesicht ihres Gefährten.

War Anthony nicht leise zusammengezuckt? Hatten seine Augen nicht einen Moment aufgeleuchtet? Jedenfalls kam eine plötzliche Aufregung über ihn, von der er sich zu dem unbedachten Ausruf hinreißen ließ: »Ist dies ein merkwürdiges Zusammentreffen! Sampaolo – das kenne ich wohl! Durch und durch!«

»Wirklich?« sagte Susanna überrascht. »Waren Sie schon dort? Es wird nur selten von Reisenden besucht – Geschäftsreisende natürlich ausgenommen.«

»Nein,« entgegnete er, der Wahrheit gemäß. »Aber – aber ich kenne – ich kannte – einmal – einen Mann, der – einen Mann, der dort war –« schloß er ziemlich verwirrt. Sobald ihm die Überlegung wiedergekommen war, dachte er, es verspreche viel mehr Vergnügen, wenn er sie über seine persönlichen Beziehungen zu Sampaolo im Dunkeln lasse.

Susanna konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken.

»Ich muß auf sein Spiel eingehen und tun, als ob ich nichts wüßte,« dachte sie, »ich hätte ihn aber nicht für so geheimnistuerisch gehalten.«

»Hoffentlich hat der ›Mann, der dort war‹, Ihnen nur Günstiges über uns berichtet?« forschte sie.

»Hm – ja,« erwiderte Anthony zögernd, »nämlich eigentlich hat er gar nichts berichtet. Er gehörte zu der Art Menschen, die in der ganzen Welt herumreisen und von ihren Reisen nichts zu erzählen wissen, als eine Reihe von Namen. So kam er zufällig auch nach Sampaolo, und so erfuhr ich, daß ein Ort dieses Namens existiert. Ich kann nicht sagen warum, aber die Tatsache fiel mir auf und blieb in meinem Gedächtnis haften, und seither brenne ich darauf, etwas darüber zu hören.«

»Sie sagten ja aber, daß Sie es durch und durch kennten,« sagte Susanna vorwurfsvoll und enttäuscht.

»O, das war nur so eine Redensart,« behauptete Anthony; »ich meinte nur, daß ich etwas von seinem Vorhandensein wisse, was ja schließlich mehr ist, als die meisten Leute von sich sagen können.«

»Es würde sich wohl der Mühe für Sie lohnen, es zu besuchen, wenn Sie das nächste Mal in seine Nähe kommen. Es ist leicht zu erreichen. Die österreichischen Lloydküstendampfer legen einmal wöchentlich dort an, und von Ancona geht jeden Montag und Donnerstag ein Boot. Sampaolo ist ein ungemein interessanter Platz, interessant sowohl durch seine natürliche Schönheit, durch seine pittoreske Bevölkerung, als auch – wenigstens für mich – durch seine eigentümlich romantische, tragikomische kleine Geschichte.«

»Ah!« sagte Anthony, aber aus seinem Ton, seinem Blick und seiner Haltung sprach die dringende Bitte, fortzufahren.

»Er ist ein kläglicher Schauspieler,« dachte Susanna. »Als ob der erste beste Nichtbeteiligte sich was draus machen würde, von Sampaolo zu hören. Aber es ist um so besser so!«

»Ja,« sagte sie, und wiederum war es, als sei sie träumerisch in den Anblick einer Vision versunken. »Ja, meiner Ansicht nach ist die Schönheit Sampaolos ohnegleichen. Von Ihrem Schiff aus sehen Sie es wie eine rosige, purpurumsäumte, zackige Wolke am Horizont schwimmen. Im Näherkommen gewinnt die Wolke feste Gestalt und gleicht einem wunderbar feingeschnittenen Edelstein, einer aus der See geschnittenen, von opalisierendem Dunst umflossenen Kamee. Noch näher nimmt es eine beinahe furchtbare Gestalt an: Abgründe und steile Felsenberge, schwarze Schluchten und Täler. Aber deren Anblick wird gemildert durch etliche zwanzig Dörfer, die, von Zypressenwäldchen umgeben, an den Berghängen emporkriechen und auf den höchsten Gipfeln wie Vogelnester hängen. Schließlich fahren Sie zwischen zwei Vorgebirgen durch, dem Capo del Turco und dem Capo del Papa, von deren Spitzen zwei große Kruzifixe herabschauen, und dann sind Sie in der Laguna di Vallanza, einer landumschlossenen, spiegelglatten Bucht. Und dort, scheinbar auf dem Wasser schwebend, steht ein Palast, ein Palast wie aus dem Feenland, ganz aus weißem Marmor erbaut, mit Säulenhallen und Terrassen, und doch ist er leicht und duftig wie ein Meerschaumgebilde. Dies ist der eine der Paläste – der Sommerpalast – der Grafen von Sampaolo. Er scheint auf dem Wasser zu schweben, in Wirklichkeit steht er aber auf einem Inselchen, Isola Nobile genannt. Zwei andre, als Gärten angelegte Inselchen, Isola Fratello und Isola Sorella, sind durch Marmorbrücken mit der Isola Nobile verbunden. Die Grafen von Sampaolo sind eines der ältesten und erlauchtesten Geschlechter Europas, die Valdeschi della Spina, Nachkommen von San Guido Valdeschi, einem berühmten Kreuzfahrer aus dem zwölften Jahrhundert. Sie haben auch noch einen Winterpalast, den Palazzo Rosso, in der Stadt Vallanza, außerdem ein prächtiges altes Kastell, Castel San Guido, auf dem Berg hinter der Stadt, dazu mehrere Villen in verschiedenen Gegenden der Insel. Eine beneidenswerte Familie, nicht wahr? Auf Sampaolo tragen die Orangenbäume jahraus, jahrein Blüten und Früchte, und in den Olivenhainen blühen alle Arten wilder Blumen: Veilchen und Anemonen und Narzissen, weiße und rote Iris, Amaryllis, Hyazinthen, Tulpen, Aronsstab und Orchideen – ach, eine wahre Orgie von wilden Blumen! Im Frühling sind alle Täler von einem rosigen Blütenmeer erfüllt, von den Blüten der Pfirsich- und der Mandelbäume, und dazwischen hinein leuchtet das glühende Rot der Granatäpfel. Basilikum und wilde Rosen wachsen Ihnen allüberall entgegen, und wo er irgendwie Wurzel fassen kann, steht der gefüllte rote Oleander in großen Bäumen. Ach, es ist eine Wunderwelt von Farben und Düften. Die Vögel in Sampaolo hören nie auf zu singen, sie singen im Dezember so vergnügt wie im Juni, und die Nachtigallen schlagen bei Tag und bei Nacht – ich meine sie noch zu hören. Doch ich muß innehalten, sonst mache ich in Ewigkeit weiter. Sie können mir glauben: die Schönheiten Sampaolos sind unerschöpflich.«

Es war eine lange Rede, aber sie hatte einen aufmerksamen Zuhörer gefunden.

»Sie schildern ein Elysium,« bemerkte er, »Sie malen das Eiland der Seligen.«

Susannas Augen trübten sich.

»Einst war Sampaolo auch eine Insel der Seligen,« sagte sie traurig, »aber jetzt ist es das nicht mehr. Seit der Entstehung dessen, was sich das Königreich Italien nennt, gleicht es eher der Insel der Verdammten.«

»Wirklich?« fragte Anthony, und Ton und Blick drängten auf weitere Mitteilung.

Aber Susanna lachte etwas verlegen und sagte: »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, daß ich mich so habe hinreißen lassen und Sie gelangweilt habe. Jeder schwatzt eben von seiner Dorfpumpe!«

»Gelangweilt?« rief Anthony. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr mich alles interessiert hat!«

»Er ist der denkbar schlechteste Schauspieler,« dachte Susanna. – »Sie sind sehr liebenswürdig, aber ich kann nicht begreifen, was einen Fremden an dem Zustand der Dorfpumpe meiner Heimat interessieren könnte,« sagte sie laut.

»Hm,« dachte Anthony, »mein Interesse mag ihr allerdings etwas unwahrscheinlich vorkommen.« Deshalb suchte er es nach Kräften zu rechtfertigen. »Dafür gibt es mehr als einen Grund. Zuerst, wenn ich mir erlauben darf, es zu sagen, den, daß es die Dorfpumpe – Ihrer Heimat ist« – er machte eine kleine Verbeugung –; »dann aber steht diese Dorfpumpe in Italien, und alles was mit Italien zusammenhängt, hat großes Interesse für mich, und schließlich ist es ja doch die von Sampaolo, über das ich schon lange gern Näheres gehört hätte. – Also bitte, fahren Sie fort: Wie kam es, daß Sampaolo eine ›Insel der Verdammten‹ wurde?«

»Er ist schließlich doch kein ganz schlechter Komödiant, wenn er einmal im Zug ist,« dachte Susanna, »aber für heute hat er genug von Sampaolo – ich muß ihn mit seinem Appetit ›nach mehr‹ etwas zappeln lassen.«

»Horch!« sagte sie mit erhobenem Finger und lauschte gespannt. »Ist das nicht eine Feldlerche?«

Irgendwo – man konnte anfangs nicht sagen wo – sang ein Vogel. Ringsum sangen und zwitscherten viele Vögel, aber der Gesang dieses Vogels unterschied sich von dem der übrigen und schuf für sich selbst eine Art luftiger Isolierung. Es war ein wonnig-süßer, perlender Sang und ertönte lang, erstaunlich lang. Ohne Unterlaß, ohne Unterbrechung ertönte er in weichen Trillern und lustigen Rouladen. Der Gesang war wie gemacht für diesen herrlichen Tag und die weite schöne Landschaft.

»Es ist unzweifelhaft eine Feldlerche,« sagte Anthony und sah zum Himmel hinauf, »aber wo in aller Welt mag sie stecken?«

Und mit Augen und Ohren forschten sie nach der unsichtbaren Sängerin. Bald schien ihre Stimme aus Osten, bald aus Norden, Süden oder Westen zu kommen. Endlich rief Anthony: »Ah, hier ist sie!« und wies in die Luft.

»Wo? Wo?« fragte Susanna, als ob Leben und Tod an dieser Frage hinge.

»Dort! Sehen Sie!« sagte Anthony und deutete auf einen winzig kleinen Punkt hoch oben am blauen Firmament.

Mit zurückgebeugten Köpfen saßen sie da und starrten wie verzaubert in das Blau hinauf, während die Luft vor ihren geblendeten Augen flimmerte.

»Unglaublich,« sagte Susanna, »sie ist kaum zu sehen, nicht größer als ein Stecknadelkopf in diesem unendlichen Raum, und doch erfüllt sie ihn ganz mit ihrem Hosiannagesang.«

Nach und nach wurde der Stecknadelkopf immer größer, das Hosianna erscholl immer lauter: die Lerche ließ sich zur Erde hernieder.

»Es ist buchstäblich Musik, die vom Himmel zu uns herabkommt,« sagte Susanna.

»Ja, aber sobald sie uns erreicht haben wird, wird sie verklingen und für uns verloren sein. Es ist zu ätherische Musik, als daß sie die Berührung mit diesem groben Planeten überdauern könnte.«

Singend, singend sank der Vogel und in dem Augenblick, wo er die Erde berührte, verstummte wirklich der Gesang. Es war, als ob ein Licht verlösche.

»Sie kommt, um zu trinken und zu baden,« sagte Susanna.

An der andern Seite des Baches hüpfte der Vogel auf das Wasser zu. Offenbar ahnte der alltäglich aussehende Sänger in seinem schlichten braunen Röckchen nicht, daß er nicht allein war. Die Bäume hatten bisher die Beobachter vor seinen Blicken verborgen gehalten. Nun aber schreckte ihn Susannas Stimme auf. Mit einem scheuen Blick auf sie und ängstlichem, vorwurfsvollem Gezirpe schoß er in die Luft empor, und im nächsten Augenblick war er wieder nur ein kleiner Punkt am Horizont.

»Ach, wie dumm von ihr,« seufzte Susanna, »denkt sie denn, wir seien Drachen?«

»Nein,« entgegnete Anthony, »wenn sie uns für Drachen hielte, würde sie sich nicht so fürchten. Sie denkt, wir seien etwas viel Schlimmeres.«

»O,« fragte Susanna harmlos, »was wäre denn das?«

»Die Lerche denkt, wir seien Menschen.«

Susanna lachte, aber es klang etwas traurig.

»Jedenfalls kommt sie nicht zurück, solange wir hier sind. Und doch ist sie erhitzt und durstig – wer weiß, wie weit sie hierher geflogen kommt, um nun diese Enttäuschung zu erleben? Meinen Sie nicht auch, es wäre rücksichtsvoll und nett von uns, wenn wir die Ursache ihres Schreckens entfernten?«

Damit stand sie auf und schlug den durch das Wäldchen führenden Weg nach ihrem Hause ein. Als sie ins Freie traten, kamen ihnen von der entgegengesetzten Seite Adrian und Miß Sandus entgegen. Adrian beugte sich lebhaft sprechend und gestikulierend zu seiner Gefährtin hinab, doch als er die beiden erblickte, stellte er sich in Positur.

»Ha,« rief er, »seht da den hinterhältigen, schleichenden Schurken!« Dann wandte er sein rötliches Antlitz Susanna zu. »Dame, schöne Dame, Verkörperung aller Lieblichkeit,« begrüßte er sie, sich bis zur Erde verneigend. »Aber ach, dieser schwarze, heimtückische Schurke! Da geht er hin und macht Ihre Bekanntschaft, ohne zu warten, daß ich ihn vorstelle, was ich doch morgen früh zu tun beabsichtigte. Schon wankt er unter der Bürde von Verpflichtungen, die ich bereits auf ihn gehäuft habe. Ich wollte ihm noch eine weiter aufladen – und nun umgeht er mich!«

»Du kannst mir doch noch eine Dankespflicht weiter auferlegen, wenn du mich Fräulein Sandus vorstellst,« sagte Anthony.

Als die Vorstellung stattgefunden hatte, suchte Anthony sich dieser Dame so angenehm als möglich zu machen. Einmal gefiel ihm ihre ganze Erscheinung, ihr frisches, offenes Wesen, dann aber dachte er: Ist es nicht immer gut, in der Nähe der Rose einen Freund zu haben?

Das Ergebnis war denn auch, daß Miß Sandus, als sie mit Susanna allein war, zu dieser sagte: »Meine Liebe, dein Vetter ist ein ganz famoser Mann!«


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