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Erstes Kapitel.

An Susannas zweiundzwanzigstem Geburtstag veranstaltete der Commendatore Fregi, ihr Vormund, dessen Pflichten dem Testament ihres Vaters entsprechend mit diesem Tage zu Ende gingen, ihr zu Ehren ein großartiges Fest in seiner Villa zu Vallanza. Am Morgen waren zweiundzwanzig Kanonenschüsse abgegeben worden, obgleich Susanna dagegen protestiert und erklärt hatte, sie sei erst einundzwanzig Jahre alt und wolle nicht auf diese Weise öffentlich zur alten Jungfer gestempelt werden. Am Nachmittag fand eine Regatta statt, an der sich sieben Segelboote – die ganze Flottille des Königlichen Jachtklubs von Ilaria – beteiligte. Für jeden, der die Insel Sampaolo und ihre Verhältnisse kennt, ist es selbstverständlich, daß die ganz und gar englische, aus England stammende »Mermaid« des Marchese Baldo del Ponte mit Leichtigkeit den Sieg gewann und als erste einlief.

Am Abend folgte ein Festmahl nebst Ball und Feuerwerk im Garten.

Susanna bewohnte, obgleich ihr Geburtstag auf den siebzehnten April fiel, schon den Sommerpalast auf der Isola Nobile, denn die heiße Jahreszeit hatte bereits begonnen. Als sich die letzten Gäste verabschiedet hatten, geleitete der Commendatore sie und ihre Duenna, die Baronin Casaterrena, zum Hafen hinunter, wo an seiner Privatlandestelle ein Boot ihrer harrte, das von zwei großen, von Fledermäusen umflatterten elektrischen Lichtern beleuchtet war. Aber als er ihr die Hand bot, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein, trat sie rasch zur Seite und sagte mit einer anmutig hindeutenden Kopfbewegung: »Die Baronessa.«

Natürlich gebührte von Gottes und Rechts wegen ihr selbst der Vortritt. »Es sah ihr so gleich und war so gut und nett von ihr,« dachte der liebevolle alte Herr, »daß sie diese Rücksicht auf die ältere Dame nahm und bescheiden zurückstand.«

So ließ er denn seine Unterstützung zuerst der etwas schwerfälligen und umständlichen Baronin zu teil werden. Als es dieser schließlich gelungen war, sich auf den seidenen Polstern im Stern des Schiffes niederzulassen, wandte er sich um und streckte seine hilfreiche Hand auch seinem bisherigen Mündel entgegen. Aber in diesem Augenblick vernahm er ein glucksendes, plätscherndes Geräusch und sah sich rasch um.

»Halt! Halt! Stopp!« rief er aufgeregt, denn das Boot mit der Baronin war schon einige Meter vom Landeplatz entfernt und man hörte die Baronin dem Mann an der Maschine aufgeregt zurufen: »Hé! Ferma! Ferma!«

»Es ist alles in Ordnung,« sagte Susanna mit ihrer etwas tiefen Stimme artig und gelassen, »es geschieht auf meinen Befehl!«

Und unbeirrt hielt das Boot seinen Kurs nach der durch glühwurmartig glänzende Lichter kenntlich gemachten Isola Nobile.

Der Commendatore war sprachlos.

Etwa fünf Sekunden lang starrte er mit gerunzelten Brauen und offenem Mund bald auf Susanna, bald auf die entschwindenden Lichter des Bootes; in der tiefen Stille war ringsum nichts zu hören als der schluchzende, jubelnde Sang der Nachtigallen.

» Dein Befehl?« stammelte er endlich, und in dem persönlichen Fürwort war eine Welt von Empfindungen enthalten.

»Ja,« erwiderte Susanna mit einer vielleicht etwas erkünstelten Selbstverständlichkeit; »mein erster Regierungsakt!«

Noch niemals hatte sie bisher einen Befehl erteilt, ohne vorher um Erlaubnis gefragt zu haben, und der jetzt ergangene schien ihm unter allen Umständen ein völlig unbegreiflicher zu sein.

»Aber wie in aller Welt,« keuchte er, »willst du denn zurück nach …«

»Oh, ich gehe heute nacht gar nicht nach Isola Nobile zurück,« erklärte Susanna vergnügt, wobei sie das Kinn etwas höher reckte. Dann fuhr sie mit holdem, vielleicht ein ganz, ganz klein wenig schalkhaftem Lächeln fort: »Ich trete jetzt nämlich meine Wanderjahre an!« Und sie winkte mit der Hand nach der See.

Die Überraschungen, eine immer größer als die andre, brachen nur so über den alten, langen und schmächtigen Commendatore herein. Kaum hatte Susanna diese erstaunliche Mitteilung gemacht, als sich rhythmischer, immer näher kommender Ruderschlag vernehmen ließ und ein schlankes, weißes, mit zwei Ruderern bemanntes Boot aus der Dunkelheit hervorschoß und am Landungsplatz anlegte.

»Ein Boot vom ›Fiorimondo‹,« stieß der alte Herr ganz bestürzt hervor.

»Ja,« sagte Susanna vergnügt, »der ›Fiorimondo‹ bringt mich nach Venedig, von wo aus ich dann die Bahn benütze.«

Die verblaßten blauen Augen des Commendatore flackerten ängstlich hin und her.

»Ich kann doch nicht glauben, daß ich träume,« bemerkte er in kläglichem Ton, »und natürlich sprichst du nicht im Ernst, aber, meine Liebe, verstehen tu' ich dich ganz und gar nicht!«

»Trotzdem ist es mir blutiger Ernst!« versicherte sie ihn.

Dabei nickte sie mit drollig-ernster Miene bestätigend mit dem Kopf und sah ihrem Vormund mit strahlendem, offenem Blick ins Auge. Diesen Ausdruck vertrauensvoller Offenheit pflegte sie gern anzunehmen, wenn sie fühlte, daß sie etwas kratzbürstiger Laune war und durch ihre Einfälle die Geduld ihrer Nebenmenschen auf eine ziemlich harte Probe stellte; für gewöhnlich pflegten die Strenge und der Ernst des Commendatore diesem Blick nicht standzuhalten. »Du bist eine kleine Hexe,« konnte er dann wohl lachend sagen, »eine verschlagene, unwiderstehliche kleine Hexe,« und mit dieser landläufigen Bemerkung suchte er seine Schwäche vor sich selbst zu entschuldigen.

»Die Sache ist so klar wie der Tag,« erklärte sie, »ich sehe mir die Welt an, gehe auf Reisen – nach Paris, wo ich erst einmal, nach London, wo ich noch nie war – nach den Hafenstädten in Böhmen, die ich nur aus Shakespeare kenne, und besteige die Berge in Thule, die ich so oft aus nebelhafter Ferne habe locken sehen. Der ›Fiorimondo‹ bringt mich bis Venedig – das ist eine der Annehmlichkeiten, die einem der Besitz einer Dampfjacht verschafft –, andernfalls hätte ich das Lloydpaketboot benützen müssen, was nicht halb so bequem und behaglich gewesen wäre.«

Ihre noch immer zum Commendatore aufgeschlagenen Augen lächelten, lächelten so unschuldig, so überzeugend und baten so innig um Billigung – nur lugte auch ein ganz klein bißchen der Schalk aus ihnen hervor.

Trotz seinem inneren Widerstreben konnte der alte Herr auch jetzt ein Lächeln nicht unterdrücken, doch runzelte er zugleich die Stirn.

»Wenn ich das überhaupt fertig brächte, wäre ich jetzt recht ärgerlich über dich – die Zeit zu deiner Fopperei scheint mir wirklich nicht sehr günstig gewählt zu sein.«

»Das ist sie wirklich nicht,« stimmte Susanna freundlich zu und hielt die Hand vor den Mund, um ein leichtes Gähnen zu verdecken. »Aber es handelt sich auch nicht um eine Fopperei, sondern um die Feststellung einer Tatsache. Ich reise heute nacht noch bis Venedig.«

Forschend, durchdringend sah er sie einen Augenblick an und schien etwas bei sich zu überlegen. Dann erhellte sich plötzlich sein verdüstertes, altes, elfenbeinfarbenes Gesicht.

»Haha! und in einem Ballkleid,« spottete er, auf Susannas schneeweißes, silbergesticktes Gewand aus Atlas und Tüll deutend, das sich in der mondscheinartigen Beleuchtung der elektrischen Lampen schimmernd von dem Hintergrunde des südlichen, mit Palmen, Orangenbäumen und Zypressen bestandenen Gartens abhob. Ein Halbmond aus Diamanten funkelte in ihrem weichen schwarzen Haar; um den Hals trug sie ein enganliegendes breites Halsband aus Perlen, dazu noch eine lange, auf dem Busen durch eine Opalspange festgehaltene Perlenschnur. In ihrer Nähe fühlte man einen leisen, duftigen Hauch wie von frisch erblühten Veilchen. In der einen Hand hielt sie einen großen flaumigen Fächer aus weißen Straußenfedern, in der andern ihre langen weißen Handschuhe, und an den Fingern blitzten und funkelten Edelsteine aller Art. Zu ihren Füßen brachen sich plätschernd die Wellen am Ufer und spielten die Melodie zu der eigentümlichen Situation. Als der alte Herr sich dies alles betrachtet hatte, verflogen seine Sorgen wie der Wind.

»Ha!« sagte er und zwirbelte behaglich seinen großen grauen Schnurrbart. »Ich kann natürlich nicht wissen, welche Teufelei du im Schilde führst, aber das weiß ich gewiß, daß du nicht in einem Ballkleid nach Venedig reisest. Du bist zu allem Möglichen fähig, mein liebes Kind, aber dazu denn doch nicht.«

»Oh, ich bin zu allem und jedem fähig,« erwiderte Susanna mit unheilverkündender Heiterkeit. »Übrigens wirst du mir hoffentlich zutrauen,« verwies sie ihm gütig, »daß ich mir die Möglichkeit verschafft habe, mich an Bord umkleiden zu können. Meine Jungfer erwartet mich auf dem ›Fiorimondo‹ mit etwa einem Dutzend Koffer. So, siehst du, läßt sich alles machen. Außerdem begleitet mich auch Serafino. Unterwegs amtet er als Kurier, an Ort und Stelle angelangt, legt er dann wieder seine weiße Schürze und Mütze an. Mein endgültiges Reiseziel ist nämlich ein kleines Dorf in England – ein kleines englisches Dorf namens Craford – und,« fügte sie mit überzeugendem, reizendem Lächeln hinzu, »wie ich höre, soll die Küche in kleinen englischen Dörfern auch anspruchslosen Leuten nicht allzu verlockend erscheinen.«

Alle Ängste des Commendatore wachten wieder auf. Diesesmal runzelte er die Stirne in bitterem Ernst.

»Créforrrd!« schrie er auf.

Es klang wie eine Explosion, und der scharf gerollte Rrr-Klang verriet, daß seine entsetzte Verwunderung ihren Höhepunkt erreicht hatte.

»Ich glaube, du bist toll geworden, und wenn nicht das, so bist du doch das schlaueste, abgefeimteste Mädchen in der Welt!«

Susannas klare Augen trübten sich und nahmen einen bekümmerten, klagenden Ausdruck an.

»Ich bitte,« flehte sie, »sei nicht so ärgerlich darüber! Ich bin nicht verrückt, und ich bin auch nicht schlau und abgefeimt, aber ich bin frei und unabhängig. Was aber nützt es, frei und unabhängig zu sein,« fuhr sie eindringlich fort, »wenn man doch immer alles das nicht tun soll, was man am liebsten täte? Ich gehe nach Craford, um eine Absicht auszuführen, die ich gehabt habe, solange ich denken kann. Ich will meinen Vetter ausfindig machen, ihn kennen lernen und sehen, was für ein Mensch er ist – und dann, wenn er nett ist – nun, wer weiß, was dann vielleicht geschieht? Ich habe den Plan schon lange ausgeheckt,« verkündete sie mit einer Freimütigkeit, die fast an Keckheit grenzte, »und alle meine Vorbereitungen getroffen. Dann habe ich ruhig den Tag abgewartet, an dem ich frei und unabhängig, meine eigene Herrin sein würde.«

Wieder sahen ihre Augen flehend zu ihm auf und bettelten um seine Nachsicht, aber auch diesesmal schien ein kleiner Schimmer von Spott und Übermut den alten Herrn dazu zu reizen, sein Schlimmstes zu tun.

Er fuchtelte mit der Hand in der Luft herum und stampfte mit dem Fuß auf den Boden.

»Frei und unabhängig,« tobte er hohnlachend, »frei und unabhängig! Schöne Worte! Schöne Worte! Und alle deine Vorbereitungen hast du schon im voraus, im geheimen getroffen? Und dabei sagst du noch, du seiest nicht abgefeimt? Misericordia di Dio!«

Er stöhnte in ohnmächtiger Wut und schüttelte seine alte, magere Faust drohend gegen die Sterne am Firmament.

»Vielleicht wirst du trotz alledem zugestehen, daß es gewisse Schicklichkeitsregeln gibt, die auch der ›freie und unabhängige‹ Mensch zu beobachten hat? Es schickt sich durchaus nicht für dich, allein zu reisen. Wenn dir die Sache überhaupt ernst ist, so verstehe ich nicht, warum du nicht die Baronessa zur Begleitung mitnimmst.«

»Die Baronessa ist mir lästig und langweilig,« erklärte Susanna freundlich und sanft, »und ich bringe sie zur Verzweiflung und lasse sie schreckliche Geduldproben bestehen. Sie wirft mir immer Prügel in den Weg, und ich tue und sage fortgesetzt Dinge, die sie mißbilligt. Ach, wenn sie auch nur eine leise Ahnung hätte von alledem, was ich zwar nicht sage und tue, aber denke und fühle!«

Ein vielsagendes Kopfnicken machte den Beschluß dieser Mitteilung.

»Wir gehören eben,« führte sie weiter aus, »zu zwei einander widerstrebenden Generationen. Ich bin so ganz und gar modern, und sie ist so hoffnungslos ›- achtundsiebzig‹. Ich habe nur auf diesen gesegneten Tag der Freiheit gewartet, um von der Baronessa loszukommen. Und ich kann dir versichern, daß auf beiden Seiten Zufriedenheit herrschen wird: sie wird sich jetzt einer friedlichen Ruhe erfreuen, wie sie sie leider seit Jahr und Tag nicht mehr genossen hat. Ach, ich sage dir, ich atme auf wie Europa nach dem Untergang Napoleons.«

Sie wiegte sich vergnügt und befriedigt in den Hüften.

»Die Baronessa,« fuhr sie leise kichernd fort, »die arme Baronessa befindet sich heute nacht als Gefangene auf der Isola Nobile! Ich habe angeordnet, daß das Boot in dem Augenblick abstoße, wo sie den Fuß an Bord setzen werde, daß es auf kein Rufen und Schreien zurückkehren und daß unter gar keinen Umständen vor morgen früh ein andres Boot die Insel verlassen dürfe. Ich fürchte, sie wird sich etwas unangenehm berührt fühlen und sich vergeblich den Kopf zerbrechen, aber – cosa vuole? – es gehört eben auch zur Sache!«

Nun wurde ihre Stimme weich und einschmeichelnd und nahm einen vertraulichen Ton an.

»Ich kann mich jetzt so köstlich recken und dehnen – nach allen Seiten hin! Sieh, heut abend habe ich Perlen und Diamanten und Ringe angelegt, die mich die Baronessa nie hat tragen lassen wollen. Und für unterwegs habe ich einen ganzen Sack voll Bücher: Anatole France und Shakespeare und Gyp und Pierre Loti und Molière und Max Bierbaum – kurzum, lauter, lauter Bücher, die mir die Baronessa ums Leben nicht in die Hand gegeben hätte. Lieber wäre sie tausend Tode gestorben. Das ist die Schattenseite, die man davon hat, eine vornehme Dame zu sein: man wächst auf, ohne daß man etwas andres zu lesen bekommt, als die heiligen Legenden und Modezeitungen. Alle Bücher, die von wirklichem Wert und Nutzen für mich waren, habe ich mir heimlich verschaffen und wie der Dieb in der Nacht lesen müssen. Ach,« seufzte sie, »wäre ich doch ein Mann wie du! Aber über die Wahrung des Anstandes brauchst du dir keine Sorgen zu machen,« fuhr sie lebhaft fort, »denn ich gehe ja nach England, in das Land, wo der Anstand zu Hause ist – wie man sagt – und wo man die schönste Gelegenheit hat, ihn wahrzunehmen, was ich sicherlich tun werde. Außerdem reise ich ja auch gar nicht allein: ich habe Rosina und Serafino bei mir, und am Ziel angelangt, finde ich Miß Sandus. Erinnerst du dich ihrer, der reizenden Miß Sandus?« fragte sie, ihn freundlich anlächelnd. »Sie ist meine Mitverschworene! Vor ihrer Abreise im vorigen Herbst haben wir alles miteinander ausgemacht. In London wohne ich bei ihr, in ihrem Hause, und dann begleitet sie mich nach Craford – sie interessiert sich ungemein für meinen Vetter und sagt, das sei die romantischste, ergreifendste Geschichte, die sie je gehört habe. Und sie ist ganz damit einverstanden, daß ich wünsche, Freundschaft mit ihm zu schließen und ihm auf irgend eine Weise eine Entschädigung anzubieten.«

Der Commendatore rannte aufgeregt hin und her, war aber doch zu höflich und zu formell, als daß er das junge Mädchen unterbrochen hätte.

Nun aber polterte er wütend: »Zum Kuckuck mit dieser naseweisen Engländerin! Was braucht sie sich da einzumischen! Die ganze Sache geht sie keinen Pfifferling an! Ein junges Mädchen in einer solchen Verrücktheit, der Ausgeburt eines Sonnenstiches, auch noch zu bestärken! Ein junges Mädchen! Ach Gott, was sage ich da! Ein junges Mädchen, daß Gott erbarm'! Eine wilde Hummel! Eine Range! Eine Erdenkrabbe! Was, und du willst von hier bis London ohne Anstandsdame reisen? Und Bücher … Französische Romane! Brrr! Ich wünsche nur, du hättest gar nie lesen gelernt! Es ist überhaupt abgeschmackt und mehr als dumm, Weiber das Lesen lernen zu lassen! Was kommt denn bei ihrer Leserei Gutes heraus? Ich sage dir, du verdienst … auf mein Wort, du verdienst … Hm! Nun ja! Einerlei … Ah! Per corpo di Bacco!«

Verzweifelt rang er die Hände.

»Ein junges Mädchen, das reine Kind,« rief er zum Himmel hinauf, »ein reines Kind, ein unzurechnungsfähiges Waisenkind! Und niemand hat das Recht, Einsprache zu erheben!«

Susanna warf sich in die Brust.

»Jung?« rief sie. »Das reine Kind? Ich! Gott steh' mir bei – ich bin zweiundzwanzig!«

Sie sprach diese Worte mit so gewichtiger Betonung aus, als wolle sie in gutem Glauben versichern, sie sei fünfzig.

»Du kannst nicht im Ernst den Vorwurf gegen mich erheben, ich sei jung,« erklärte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Ich bin zweiundzwanzig! Zweiundzwanzig lange Jahre alt! Und ach, Dio mio! ich sehe sogar noch viel älter aus. Man kann mich leicht für fünfundzwanzig halten. Übrigens,« fügte sie, wie einer plötzlichen Eingebung gehorchend, eifrig hinzu, »will ich den Leuten gern sagen, ich sei fünfundzwanzig, falls dir dies die mindeste Beruhigung gewährt. Siehst du!«

Wieder sah sie ihn schmelzend an und fuhr dann schmeichelnd fort: »Das kann ich dir wohl sagen: ich würde nicht jedem Mann anbieten, drei der besten Jahre meines Lebens für ihn zu opfern und um seinetwillen eine Lüge zu sagen.«

Damit warf sie den Kopf in den Nacken und blieb herausfordernd stehen.

»Sehe ich nicht aus, als ob ich fünfundzwanzig wäre?« fragte sie. »Hättest du nicht das Glück, dich meiner näheren persönlichen Bekanntschaft zu erfreuen, so kämest du vielleicht gar nicht auf den Gedanken, daß ich das sei, was du ein ›junges Mädchen‹ nennst. Sage nur selbst: Würdest du nicht überall herumfragen, wer diese hübsche, gewandte und so vorzüglich angezogene junge Frau sei?«

In der Tat machte sie mit ihrer schlanken und doch üppigen Gestalt, mit ihrer heiteren Lebhaftigkeit, mit ihrer Charakterfestigkeit und Entschiedenheit, mit dem Ernst, der unter dem oberflächlichen Frohsinn durchschimmerte und – nicht zum wenigsten – mit ihren warmen, südlichen Farben und dem üppigen schwarzen Haar einen älteren Eindruck. Es lag nichts Unfertiges, nichts Unreifes weder in ihrem Wesen noch in ihrem Äußeren. Im Verein mit jugendlicher Frische fand sich bei ihr die Kraft, Haltung und Sicherheit, die man sonst nur bei reiferen Frauen zu suchen pflegt. Mochte man sie nun aber auf zweiundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre schätzen: jedenfalls war sie ein vollkommenes, vornehmes, rassiges Menschenkind, in dessen Adern das Blut feurig kreiste und dessen lebhafter Geist ständig an der Arbeit war; wohl mochte sie eigenwillig, ja sogar gewalttätig sein, aber sicherlich war sie auch zuverlässig und edel.

Im Augenblick war aber der Commendatore himmelweit entfernt von solchen Betrachtungen; er sah sie grimmig an – so grimmig, als es seine guten, milden, alten Augen fertig brachten, und hoch aufgerichtet, ein Bild zorniger Entrüstung stand er vor ihr.

»Gestatten Euer Erlaucht nur noch eine Frage: Sind Sie oder sind Sie nicht die Gräfin von Sampaolo?« fragte er scharf.

Susanna aber war und blieb unverbesserlich.

»Zu Befehl – vorausgesetzt, daß ich nicht als Wickelkind vertauscht worden bin,« erwiderte sie mit einem Knicks, und tausend Teufelchen blitzten aus ihren Augen.

»Und sind sich Euer Herrlichkeit auch darüber klar, daß diese Gräfin von Sampaolo eine reichsfreie Gräfin, eine öffentliche Persönlichkeit ist? Sind Sie sich klar darüber, daß das, was Sie vorhaben, selbst für ein unbedeutendes Bürgermädchen eine Schande wäre, und daß es – von Ihnen ausgeführt – öffentliches Ärgernis erregen muß? Haben Sie daran gedacht, daß es in allen Zeitungen gedruckt, in allen Wirtshäusern und in allen Damenklatschkaffeegesellschaften besprochen werden wird? Haben Sie daran gedacht, daß Sie sich zu einer Art fliegenden Kuh für ganz Europa machen werden? Haben Sie denn gar keinen Stolz, gar kein Schamgefühl?«

In anmutiger Verwunderung zog Susanna die Brauen in die Höhe.

»Ach!« sagte sie. »Habe ich denn vergessen, dir zu sagen, daß ich die ganze Sache inkognito, sozusagen in Verkleidung ausführen will? Wie dumm von mir! Ja, siehst du« – nun schlug sie wieder einen erklärenden Ton an –, »es hängt ja doch alles davon ab, daß mein Vetter Antonio gar keine Ahnung hat, wer ich bin. Er muß mich für irgendwen sonst halten, bis es Zeit für mich ist, den Domino abzuwerfen und ihm als Märchenfee zu erscheinen. Deshalb reise ich unter irgend einem angenommenen Namen, bin eine entzückende, reiche, junge Wittib – nicht ganz untröstlich – und ich denke – ich denke, mein Name ist Frau von Fregi.«

Die letzten Worte wurden mit einem leichten Zögern und einem kecken Lächeln hervorgebracht.

»Was,« wetterte der Commendatore, »du würdest es wagen, meinen ehrlichen Namen als Deckmantel für deine tollen Streiche zu benützen! Unterstehe dich! Ich verbiete es dir, hörst du, ich verbiete es dir ganz ausdrücklich!«

Dabei stampfte er mit den Füßen und schüttelte drohend sein alterndes, tiefgekränktes Haupt.

Aber an Susanna war Hopfen und Malz verloren.

»Du lieber Gott,« klagte sie, »ich hatte doch gehofft, du würdest gerührt sein von diesem Kompliment! Wie sonderbar doch ihr Männer seid! Nun, es ist einerlei,« versicherte sie mit freundlicher Fügsamkeit, »so nenne ich mich eben anders. Laß mal sehen … Hm! Hm! Was hältst du von Torrebianca?« Und ihre Blicke verweilten Rat suchend auf seinem Gesicht.

Torrebianca ist, wie jedermann, der Sampaolo kennt, wohl weiß, ein Berg, ein kahler, weißer, turmartig emporsteigender Fels, der sich in der Mitte der Insel erhebt, die Spitze der Berglehne, die Vallanza und Orca voneinander trennt.

»Frau von Torrebianca? Die Freifrau von Torrebianca? La Nobil Donna di Torrebianca?« Prüfend wog sie den Namen auf der Zunge. »Ja, es klingt nicht schlecht – auch nicht allzu unwahrscheinlich! Du hältst es doch auch nicht für sehr unwahrscheinlich? Gut Glück der kühnen Abenteuerin, der irrenden Ritterin, der Witwe Torrebianca!«

Damit hob sie ihren flaumigen weißen Fächer hoch, als wäre er ein Pokal, aus dem sie zu Ehren des Toastes trinken wollte.

Der arme alte Commendatore zerrte hilf-, rat- und hoffnungslos an seinem Schnurrbart, und ein feines Ohr hätte mehrmals das Wort »ungeheuerlich« vernehmen können.

»Und nun,« bat Susanna mit strahlender Freundlichkeit, »küsse mich auf beide Wangen und gib mir deinen Segen!«

Sie hob das Gesicht und hielt es ihm hin, aber er wich zurück.

»Mein Kind,« bat er eindringlich, »ich habe nicht die Macht, dich zurückzuhalten, und weiß aus Erfahrung, daß dir, wenn du dir etwas in deinen lieben, verdrehten, kleinen Kopf gesetzt hast, mit Vernunftgründen so wenig beizukommen ist, als einem echten hebräischen Juden. Deshalb kann ich nichts tun, als dich bitten, dich anflehen, dieses unerhörte Vorhaben aufzugeben. Auf meinen Knieen will ich dich bitten! Nicht um meinet-, sondern um deinetwillen, um deiner toten Eltern willen beschwöre ich dich! Bleibe ruhig hier in Sampaolo, und wenn du es denn durchaus nicht lassen kannst, die Vergangenheit wieder aufzurühren, so will ich mich in Gottes Namen mit diesem unbekannten Vetter in Verbindung setzen und dir bei allem behilflich sein.«

Wieder schmolzen Susannas Augen – doch diesesmal lauerte kein Schalk im Hintergrund.

»Du bist gütig und geduldig,« sagte sie weich, »und mir ist nichts gräßlicher, als rücksichtslos und undankbar zu erscheinen. Aber was soll ich tun? Ich kann meinen Entschluß nicht rückgängig machen! Und ich kann dir nichts abschlagen, wenn du so sprichst, wie eben. Deshalb – verzeih, wenn ich mir kurzer Hand aus dem Dilemma helfe!«

Damit lief sie an den Rand des Kais und sprang von da in das kleine Fahrzeug. » Avanti – avanti!« rief sie den Ruderern zu, die sofort das Boot vom Ufer lösten und zu den Riemen griffen, dann warf sie ihrem Vormund außer Dienst eine Kußhand zu und rief: » Addio, Commendatore! Ich schreibe dir von Venedig aus!«


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