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24

Steegen richtete sich innerlich zu wochenlangem Bleiben ein. Zu seiner Überraschung wurde er schon am nächsten Morgen vor den Untersuchungsrichter geführt.

»Nehmen Sie einen Augenblick Platz, Herr von Scheeven. Wir müssen noch auf Frau Abercron warten, die gleich erscheinen wird. Ich will Ihnen nur soviel sagen, daß das Verfahren gegen Sie niedergeschlagen ist und Sie entlassen werden.«

Damit beugte er sich über die Akten und begann zu schreiben. Er hätte einige freundliche Worte sagen können, aber es war deutlich, daß er die persönliche Berührung mit dem nur aus Zufall Schuldlosen zu vermeiden wünschte. Der Protokollführer saß still an seinem Tisch vor der Maschine. Steegen sah vor sich nieder. Er bemühte sich ruhig zu sein, aber seine Hände zitterten und das Blut klopfte in den Schläfen. Jeden Augenblick würde Dorette in das Zimmer treten.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe sie kam. Wie damals, in den Wochen nach Blankenhorns Tod, trug sie Schwarz. Steegen sah sie überrascht an. Er hatte nicht daran gedacht, daß sie ihm in dieser Gestalt erscheinen würde. Genau so hatte er sie von den furchtbarsten Wochen seines Lebens her in Erinnerung. Damals, als sie über ihn hinwegsah wie über einen Reitknecht. Damals, als es nicht zu begreifen war, daß sie eines Tages nicht mehr da sein würde.

Sie wußten beide nicht, ob sie sich an diesem Ort begrüßen durften, und nickten sich verlegen zu. »Willst Du, dann sage es mir, sobald wir uns wiedersehen!« Er fühlte, daß auch sie an ihren Brief dachte. Er sah, wie sie rot wurde. Ein wenig bleicher als sonst war sie eben noch gewesen, aber unverändert. Wie eine Neunzehnjährige sah sie aus, blütenzart, zerbrechlich, und die furchtbaren Wochen hatten ihr dennoch keine Falte, keinen fremden Zug eingraben können.

»Gnädige Frau, Herr von Scheeven!« begann der Richter mit ausdrucksloser Stimme. »Das Verfahren gegen Sie braucht nicht eröffnet zu werden oder wird eingestellt. Eine Anklageschrift haben Sie noch nicht erhalten, und sie erübrigt sich jetzt. Der Mörder des Herrn Blankenhorn, dem man übrigens auf der Spur war, ist gestern hier erschienen und hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. Es handelt sich um den Privatförster Albrecht Ahlmann aus Swantemühl. Er stellte, einer sehr anständigen Regung nachgebend, sich selbst, um nicht Unschuldige für sein Verbrechen büßen zu lassen. Er gab an, seinen Brotherrn, den Majoratsbesitzer Blankenhorn, in dessen Zimmer erschossen zu haben, und zwar aus Rache dafür, daß Blankenhorn seine, des Ahlmann, Ehefrau vergewaltigt hätte, aus welcher Tat auch ein Kind entsprossen wäre.

Durch einen Zufall hatte er von den Vorbereitungen, die Sie, Herr von Scheeven, selbst für eine Ermordung Blankenhorns trafen, Kenntnis erhalten, indem er Sie an der bewußten Mauerecke bei Ihrer Tätigkeit belauschte. Er nahm auch an, daß Sie selber die Absicht gehabt hätten, Ihren gemeinsamen Brotherrn durch die entstandene Mauerlücke zu erschießen, aber als Sühne für Blankenhorns Untat gegenüber seiner, des Täters, Frau, hielt er es für unerläßlich, die Rache selbst auszuführen. In die Richtigkeit des Bekenntnisses des Ahlmann ist kein Zweifel zu setzen. Seine Erzählung stimmt mit den bisherigen Ermittlungen vollkommen überein. Seine Tat wird nach dem Gesetz geahndet werden.

Sie selbst, Herr von Scheeven, stehen schwer mit Schuld beladen vor uns. Es ist nur ein Zufall, daß Sie den bereits von Ihnen gefaßten und sehr genau vorbereiteten Plan nicht ausgeführt haben. Trotzdem bietet das Gesetz keine Handhabe, Sie zu bestrafen, da es bei Ihrer Tätigkeit bei Vorbereitungshandlungen blieb und es noch nicht zu Versuchshandlungen kam. Sie gehen infolgedessen straffrei aus. Daß dennoch Ihre damaligen Absichten Ihr Gewissen schwer belasten müssen, brauche ich wohl nicht weiter auszuführen. Und dasselbe gilt für Sie, gnädige Frau, die Sie an diesen Plänen Anteil genommen haben, ohne den geringsten Versuch zu ihrer Verhinderung zu machen. Aber auch gegen Sie findet das Gesetz keine Handhabe, da diese Pläne nicht zur Ausführung kamen. Man kann Sie aus diesem Grunde auch nicht dafür bestrafen, daß Sie nach der Tat Schweigen bewahrten in der ausgesprochenen Absicht, ein verübtes Verbrechen zu verheimlichen. Durch eine Fügung war das Verbrechen, von dem Sie Kenntnis hatten, nicht ausgeführt worden, oder doch jedenfalls nicht durch die von Ihnen gemutmaßte Person. Aber auch Sie haben, wenn nicht vor dem Buchstaben des Gesetzes, so doch vor Gott und Ihrem Gewissen eine schwere Schuld auf sich geladen.

Das Gericht entläßt Sie beide aus der Strafverfolgung, aber nicht, ohne Sie ernstlich zu verwarnen. Eine Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft, Herr von Scheeven, kommt nicht in Frage, weil das die geringste Sühne war, die Ihr Verhalten nach sich ziehen mußte. Sie sind entlassen.«

Der Richter nickte leicht mit dem Kopf. Dorette und Steegen wagten nicht sich anzusehen. Schließlich ging Dorette als erste zur Tür. Steegen öffnete und ließ sie vorangehen. Sie standen draußen. An dem Treppengeländer lehnte der Sipomann, der ihn hergeführt hatte und wartete. In einer Fensternische des Korridors stand Schwarzer und blickte hinaus. Dorette blieb stehen und sah vor sich hin. Die ein wenig zu kurze Oberlippe lag flaumleicht über den weißen Zähnen. Er mußte daran denken, wie er sie am letzten Abend bei Abercron gesehen hatte, auch damals kühl und ein wenig bleich, unberührt von der schwingenden Hitze des Raums. So stand sie jetzt neben ihm. Das blonde Haar fiel in die Stirn, die fast durchsichtig und wie aus glattem Marmor war. Was würde kommen? Er wußte es nicht. Vier Jahre hatte er auf diese Frau gewartet, und jetzt konnte er sie am Arm fassen und mit ihr die Treppe hinuntergehen. Weshalb zögerte er? Blankenhorn – Abercron! dachte er. Zwei, drei, zehn Sekunden dauerte das Schweigen zwischen ihnen.

Plötzlich hörten sie auf der Treppe Geräusch. Zwei Sipoleute bogen um die Ecke, und zwischen ihnen ging der Förster. Mit jedem Schritt näherte die Gruppe sich ihnen, wurde aus der Tiefe ihnen entgegengetragen, drei Gesichter in einer Reihe, und das mittelste, das wie erstarrt war, sah sie an.

Es war keine Anklage, kein Haß, fast kein Ausdruck in den Augen des Försters. Er sah sie nur an, die tun wollten, was er getan hatte, und die dennoch in ihre Freiheit gehen durften. So fühlte Steegen seinen Blick. Dies war nun »der andre«, an dessen Rätsel er zwei Jahre hindurch gedeutet hatte. So fern war er ihm gewesen in seinem Kreisen um Dorette, seinem eignen Gesetz erliegend, von der eignen Rache getrieben. Und auf einmal so nah im Schicksal, da er nun sühnen mußte, was Steegen erdacht hatte. Wieviel Schlimmeres hatte Blankenhorn diesem Mann angetan! Das griff in urweltliche Bezirke. Gewalt an der Frau, die dem andern gehörte, Aufzwingen der eignen Brut dem fremden Nest! Und der andre hatte zur Waffe gegriffen wie in uralten Zeiten. Es gab keinen Ausweg: er selbst mußte den tödlichen Schuß abfeuern. Da half keine schlaue Berechnung, da galt nur das blutige Gesetz zwischen Mann und Mann.

Vier, zwei Stufen war er noch zwischen ihnen entfernt, und jetzt war er oben, ging dicht an ihnen vorüber. Drei Augenpaare streiften sich, glitten voneinander fort. Steegen neigte den Kopf. Er empfand die Nötigung, sich tief vor dem Schicksal dieses Mannes zu beugen, der aus eignem Antrieb gekommen war, um ihn zu retten. Er schämte sich, daß er es bei dem kargen Grüßen bewenden ließ. Aber der andre hatte es nicht bemerkt. Er ging schon weiter. Seine Begleiter schoben ihn in das Zimmer des Richters. Einen Augenblick blieb noch seine Schulter in dem grünen Jägertuch hinter dem Türpfosten sichtbar, dann war er verschwunden. Die große Maschine zog ihn in ihr Räderwerk, um sein Leben zu zermahlen. Steegen schauerte zusammen.

Noch immer standen sie da, er und Dorette. Die Frau atmete zwei Schritte neben ihm. Merkte sie, daß ihr eignes Schicksal eben an ihnen vorbeigegangen war? Plötzlich sah sie ihn an, und ihre Augen fragten. Er schauerte zusammen. Hatte sie auch in diesem Augenblick nur sich gefühlt? Sie blickte in sein ernstes Gesicht. Ein Erstaunen ging über ihre Züge. Er sah die Verwandlungen über sie hinfliegen. Und jetzt lächelte sie und winkte mit der Hand Herrn Schwarzer. Der trat mit ruhigen Schritten näher. Die beiden Herren verbeugten sich. Die Förmlichkeit hatte in dieser Situation etwas Komisches an sich.

»Kommen Sie mit, Herr von Scheeven!« fragte Dorette. »Wir wollen frühstücken gehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe noch meine Sachen zu holen.« Der Sipomann an dem Treppengeländer richtete sich auf.

»Auf Wiedersehen also!«

Sie reichten sich die Hand. Ganz seltsam lagen ihre Hände ineinander. Als wären Flammen darin, die zurückschlugen. Die Herren verneigten sich nochmals. Er sah die beiden die Treppe hinuntergehen, Dorette schmiegte sich in Herrn Schwarzers Arm, der sie umfaßt hielt. Von unten winkte sie noch einmal hinauf. Er winkte zurück.

Zehn Minuten später trat er aus dem Portal, den kleinen Koffer in der Hand. Was nun? Er mußte Engelke einen Brief schreiben und anfragen, ob er ihn noch haben wollte. In drei Tagen fuhr er dann vielleicht nach Ostpreußen, oder er suchte sich eine Stelle in einem Tattersall, der fern von Berlin lag. Man durfte nicht wissen, wer er war. Er blieb auf der Straße stehen. Autos, Asphalt, Laternen, dürftige Anlagen. Die Bäume hatten ihre Blätter verloren, das Pflaster glänzte feucht. Die Augen konnten schweifen, die lange Straße hinunter, weit in den Himmel. Er holte tief Atem.

»Mann des Abendfriedens!« hörte er eine bekannte Stimme rufen. »Wo wollen Sie hin?«

Stüwe winkte mit beiden Armen, und neben ihm standen Karla und Sabine. Auf dem Damm wartete das Auto. Der Motor bebte. Sie reichten sich ergriffen die Hände. Vielleicht hatten sie ihn mit Lustigkeit überfallen wollen, nun standen sie aber doch alle vier befangen da.

»Die Sache ist die«, fing der Professor an, der sich zuerst faßte. »Sie wohnen für heute und morgen bei Großmutter. Dann müssen Sie für einige Monate zu Ihrem Freund Engelke, mit dem Sabine eine rege Korrespondenz eröffnet hat. Und dann – aber das kannst du ihm sagen, Sabine!«

»Wieso ich?« rief das junge Mädchen aus, und man merkte an ihrer Stimme, daß bei allen dreien wieder die Freude die Oberhand bekam. »Also gut, um mich nicht zu zieren: Herr von Scheeven, es wird noch einige Monate dauern, bis Swantemühl wieder fest in unsrer Hand ist. Das heißt eigentlich in der Hand von Joachim Blankenhorn, dem noch für zwanzig Jahre unmündigen Majoratsherrn. Für diese zwanzig Jahre brauchen wir einen Vertrauensmann, der das Gut wieder hoch wirtschaftet. Engelke will Sie freilassen, sobald Sie ihm seine Pferdezucht eingerichtet haben. Das verlangt er nun einmal von Ihnen, und es paßt ja auch ganz gut mit der Zeit. Aber dann – nein, das mußt du ihm sagen, Karla!«

Karla hielt sich am Arm ihres Mannes fest und lachte. »Wieso ich? Also kurz: wollen Sie Swantemühl für uns bewirtschaften, Herr – von Scheeven?«

»Falls es Ihnen dort zu einsam sein sollte«, platzte Stüwe dazwischen, »so wären Großmutter und auch Sabine vielleicht unter Umständen bereit, ihren Berliner Wigwam abzubrechen und Ihnen Gesellschaft zu leisten.«

»Davon wüßte ich nichts!« widersprach Sabine.

»Besonders Großmutter brennt darauf, mit Ihnen wieder dort zu wirtschaften!« fuhr der Bildhauer fort. »Aber man könnte auch in Swantemühl mit leichter Mühe ein Atelier einrichten. Aber jetzt marsch in den Kasten!« Er öffnete die Tür des Wagens. »Steegen als Ehrengast muß zuerst hinein. Da helfen keine Flausen! Und dann Karla, weil sie eine verheiratete Frau ist. Sabine und ich bekommen die vorderen und unbequemen Plätze!«

Sie setzten sich, wie Stüwe befohlen. Vor Steegen saß Sabine. Stüwe drehte sich, um weiterzusprechen, während der Fahrt nach rückwärts, den Arm über die Lehne gelegt. »Großmutter behauptet, daß Kohlrouladen Ihr Lieblingsgericht wären. Mann des Abendfriedens. Falls das nicht der Fall sein sollte, tun Sie der alten Dame den Gefallen und essen Sie aus Leibeskräften. Sie riskieren allerdings damit, daß Sie dann jedesmal wieder Kohlrouladen bekommen. Und Sabine, du brauchst unserm Ehrengast auch nicht so konstant den Rücken zuzukehren!«

Sabine drehte sich um und wollte Steegen zunicken. Plötzlich sah sie Karlas Gesicht und reichte der Schwester die Hand hinüber. Ihre Hände lagen ineinander. Die Töchter Blankenhorn hatten Tränen in den Augen.

»Sie müssen sich also darüber klarwerden, wie Sie es mit den Kohlrouladen halten wollen, denn es kann Konsequenzen haben«, fuhr er fort. »Und wie ist es mit Swantemühl?«


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