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1

Damals, als sich Rolf Steegen von Dorette trennen mußte – nach jenen bekanntgewordenen Vorgängen auf Schloß Swantemühl in der Mark, – hatte er das deutliche Gefühl, daß er sie wiedersehen würde. Dorettes Nähe bedeutete selige und peinigende Beklemmung, nervöse Schmerzen in den Augen, Schlaflosigkeit. Dorettes Nähe bedeutete kommende Katastrophen. Aber es war nicht abzusehen, wie man ohne Dorette leben konnte.

Zum mindesten mußte man das Gefühl haben, daß sie da war. Von Zeit zu Zeit mußte man sich vorstellen können, daß sie vor einem Toilettenspiegel saß und die Augenbrauen nachzog, oder daß sie in einen Wagen stieg und auf dem Trittbrett ein wenig wippte. Man wäre wahnsinnig geworden ohne das Gefühl, daß Dorette irgendwo existierte.

Rolf Steegen war als letzter auf dem Gut zurückgeblieben. Er stand auf dem Hof, als der Wagen mit den vier Damen davonfuhr. Nie im Leben würde er den Augenblick vergessen, als die Pferde sich in Bewegung setzten. Die alte Frau Blankenhorn und Dorette auf dem Polstersitz, die Töchter Karla und Sabine auf dem Rücksitz. Das Gepäck war bereits mit dem Jagdwagen vorausgeschickt.

Seit der Nacht, in der Herr Blankenhorn erschossen aufgefunden war, hatte Rolf Steegen kein Wort mehr mit Dorette gewechselt. Sie war die Herrin, er der Inspektor. Nicht einmal, daß sie die Augen von ihm fortwendete, sondern sie sah über ihn hinweg wie über einen Reitknecht oder einen gleichgültigen alten Schrank. Das war die drei Wochen bis zur Abreise so geblieben. Manchmal dachte er, daß sie nachts zu ihm kommen würde, um mit ihm zu sprechen. Als sie nicht kam, nahm er an, daß sie Furcht hatte. Es konnte gefährlich werden, wenn in dieser Umgebung zwei Personen des Einverständnisses miteinander überführt wurden. Die Mordkommission hatte nichts herausbekommen. Niemand ahnte, wer den Schuß in dem Zimmer abgefeuert hatte. Es gab einfach keine Spuren, weder für das Mikroskop und die chemische Analyse, noch für den Polizeihund.

Die drei Wochen bis zur Abreise kein Blick zwischen ihm und Dorette. Aber in dem Augenblick, als die Pferde anzogen, hob sie ein wenig den Kopf, schlug die Augenlider hoch, sah zu ihm hinüber und lächelte. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang lag dieses Lächeln um ihren Mund. Sie schnellte es zu ihm hinüber, und es war fort. Es sollte ihm sagen: Nichts sei zwischen uns vergessen! Wir haben die Komödie zu Ende gespielt! Du wirst von mir hören! Ob sie glaubte, daß er der Mörder war? Ob das Lächeln sich bei ihm bedanken sollte, daß er Blankenhorn erledigt hatte?

Der Wagen ratterte über das holperige Pflaster des Hofes, die Hufe klapperten. Steegen sah dem Gefährt nach, wie es in die Dorfstraße einbog und hinter der alten Kirche verschwand. Das Blätterdach der Kastanien färbte das Licht smaragden. Sonnenkringel blühten wie goldene Blumen auf dem dunklen Sandweg. Über dem Kutschenrand leuchtete neben dem schwarzen Hut der alten Frau Blankenhorn das Blondhaar von Dorettes Pagenkopf.

Seit jener Stunde hatte Rolf sie nicht wiedergesehen. Acht Tage wartete er auf einen Brief von ihr. Dann ritt er die sechs Kilometer zur Bahnstation hinüber und holte in vorsichtigem Gespräch aus dem Vorsteher heraus, daß die alte Dame und ihre Enkelinnen Fahrkarten nach Berlin genommen hatten, Dorette aber nach Hamburg gefahren war. Bis zur nächsten D-Zug-Station waren die vier zusammengeblieben. Erst in Neustadt konnten sie sich trennen. Rolf stellte es sich deutlich genug vor: Wie Dorette sich die Koffer in das Abteil reichen ließ und davonfuhr. Wie ihre Schwiegermutter und die Stieftöchter auf dem Bahnsteig stehenblieben und auf den Berliner Zug warteten, der eine Viertelstunde später eintraf. Man hatte sich wohl noch zugewinkt, und so waren sie auseinandergegangen, die das Schicksal zu ihrem Unheil für zwei Jahre miteinander verkoppelt hatte. Dorette und die Blankenhorns: fremde Rassen, die nichts miteinander zu tun hatten, die sich niemals hätten finden dürfen. Beide Teile mußten aufgeatmet haben, als sie sich trennten. Vielleicht hatte Dorette sich in der Einsamkeit ihres Abteils wie nach einer köstlichen Komödie ausgeschüttet vor Lachen, vielleicht war sie schluchzend zusammengebrochen. Man konnte das bei ihr nicht wissen. Sie konnte sich in aller Heimlichkeit Schiffskarten besorgt haben, um Europa zu verlassen. Sie konnte auf der nächsten Station umgekehrt und nach Berlin gefahren sein. Vielleicht hatte sie den Hamburger Zug nur genommen, um sich möglichst früh von den Blankenhorns trennen zu können.

Als er Tage und Wochen hindurch nichts von Dorette hörte, wurde er von einer immer größer werdenden Angst gepackt. Ein Ring legte sich um seine Kehle und preßte sie immer stärker zusammen. Seit zwei Jahren hatte es nichts außer Dorette für ihn gegeben. Nun löste sie sich wie ein Phantom in Luft auf. Sie muß mir schreiben! schrie es in ihm. Sie hatten über das Wichtigste noch miteinander tu sprechen! Wenn sie Angst hatte, etwas Schriftliches von sich zu geben, dann mußte sie ihm wenigstens einen Boten schicken. Aber zwei, vier, acht Wochen vergingen, und es kam nichts. Dorette war verschwunden, und er wußte nicht einmal, ob sie ihn für den Mörder ihres Mannes hielt. Dieses Mannes, den sie gehaßt hatte!

Drei Monate blieb Steegen auf Swantemühl, bis er die Verwaltung des Gutes abgeben konnte. Er fuhr nach Berlin. Nur nicht wieder aufs Land zurück, in einen verlassenen Winkel, in dem man nicht aufzuspüren war! Man mußte Dorette wiederfinden!

Als Inspektor in grüner Joppe und hohen Stiefeln fuhr er von der Station fort. Der Kutscher wunderte sich über die drei schweren Koffer und die Frachtkiste. Als Steegen in Berlin aus dem Hotel trat, erinnerte nichts mehr an seine Tätigkeit im letzten Jahr. Allenfalls hätte er für einen Generalstabsoffizier in Zivil gelten können. Die trainierte Figur war ihm geblieben, aber das Haar sprang über der Stirn in scharfen Ecken zurück und war über den Schläfen ergraut. Jetzt erst, da er sich wieder in gewohnten Verhältnissen befand, merkte er, daß er wortkarg geworden war. Er würde nicht mehr im Kasino Sektgläser gegen die Wand schleudern.

Am dritten Tag traf er durch Zufall mit Engelke, dem alten Freund und Regimentskameraden zusammen. Engelke wollte auf seinem Gut in Ostpreußen eine Pferdezucht anlegen.

»Ich brauche dich dazu mit deinen Erfahrungen und deiner glücklichen Hand. Aber du wirst etwas Besseres vorhaben, was? Mit deinem Geld und deinen Beziehungen!«

»Meine glückliche Hand!« lachte Steegen bitter auf.

Eine Woche später trat er als Stallmeister und Reitlehrer in einem der großen Tattersalls am Tiergarten ein. Die Direktion war froh, den früheren Kavallerieoffizier zu bekommen. Man kann gut auf Dorette warten, wenn man am Tag sechs oder mehr Pferde zu reiten hat. Um sieben Uhr früh begann der Dienst. Da ritten die großen Geschäftsleute, die um neun in ihren Büros sein mußten. Um neunzehn Uhr stieg man von dem letzten Pferd. Es gab im Verkaufsstall widerspenstige Bestien, die Steegen zugewiesen wurden. Es gab junge Tiere, denen die Ganaschen durchzubrechen waren. In den Zwischenstunden saß man mit Reitschülern und Damen zusammen. Das war in der Reitbahn oder auf dem Sattelhof ein ständiges Kommen und Gehen, Grüßen und Verabreden. Abends sank man todmüde ins Bett und schlief bis zum Morgen, wenn man nicht noch gegen Mitternacht aufstand, um einige Tanzdielen aufzusuchen. Irgendwo mußte man Dorette finden!

Da – an einem Sonntagvormittag ritt er in größerer Gesellschaft durch den Kurfürstendamm nach dem Grunewald. In der Höhe der Uhlandstraße begegneten sie einem trabenden Trupp, der bereits zurückkam. Sechs Reiter. Jeder Stallmeister kennt die Pferde, die in den Berliner Tattersalls eingestellt sind. »Tattersall des Westens!« konstatierte Steegen nach den vorderen Tieren. Aber die beiden letzten Pferde kannte er nicht. Ein starker Apfelschimmel, kolossaler Gewichtsträger, warf seinen Reiter, einen kleinen korpulenten Herrn, bei jedem Schritt hoch und ließ ihn schwer auf den eingebogenen Rücken niederfallen. Daneben trabte ein eleganter Brauner mit Blesse und vier weißen Füßen. Steegen entsann sich, daß der Braune vor Wochen irgendwo zum Verkauf gestanden hatte. Ein Industrieller sollte ihn erworben haben. Man hatte sich bei Beermann über den hohen Preis unterhalten. Und auf diesem Pferd saß Dorette!

Sie hatte ihn erkannt. Er merkte es deutlich. Ihre schmalen grünen Augen sahen ihn für zwei Sekunden an. Die kleine unregelmäßige Nase senkte sich wie grüßend. Um die ein wenig hervorstehenden Zähne, die unter der zu kurzen Oberlippe sichtbar waren, lag ihr seltsames gedankenloses Lächeln.

»Schöner Brauner!« sagte die Dame neben ihm. »War das nicht Frau Blankenhorn?«

»Ich kenne Frau Blankenhorn nicht.«

»Ach, die sitzt doch ewig in den Nachtbars herum!«

Rolf Steegen fand sie nicht in den Nachtbars. Er wußte nicht die richtigen Lokale. Die Brücken zu der Welt, in der er einst gelebt hatte, waren eingesunken. Ein früherer Regimentskamerad von ihm ritt manchmal mit seinem Burschen im Tiergarten an ihm vorüber. Er mußte Ordonnanzoffizier bei einem Reichswehrstab sein. Sie erkannten sich nicht, wenn sie aneinander vorbeigaloppierten. Man erkennt keinen Stallmeister, wenn man Offizier bei einem hohen Stabe ist.

Der Apfelschimmel und der Braune waren in keinem der Tattersalls untergestellt. Sie mußten in einem Privatstall stehen, von dem er nichts wußte. Ein Bereiter aus dem Hormeßschen Stall glaubte, daß der Braune von einem Herrn Abercron gekauft worden war. Das Adreßbuch wies viele Abercrons auf. Einer wohnte in Tempelhof, einer in Zehlendorf, einer im Tiergartenviertel. Rolf Steegen ging belegte Treppen in die Höhe, umschlich Villen, suchte nach einem Stall, der zwischen Großstadthäusern eingeklemmt wäre.

Auf der Tauentzienstraße sah er an einem Schaufenster Karla stehen. Er grüßte und wollte vorüber, aber das junge Mädchen rief ihn an. Er hatte Karla und ihre Schwester Sabine öfters auf der Straße oder in Theatern gesehen. Damals waren sie mit ihrer Großmutter nach Steglitz gezogen. Es hatte sogar wegen geschäftlicher Fragen einige Briefe zwischen ihm und den Damen gegeben, aber einem persönlichen Zusammensein ging man beiderseits aus dem Wege. Rolf war erregt, als Karla Blankenhorn ihn anrief. Es war das erstemal seit zwei Jahren, daß er einem jener Menschen gegenüberstand, die die Swantemühler Zeit mit ihm erlebt hatten.

»Es ist gut, daß ich Sie treffe, Herr Steegen«, fing Karla zögernd an. »Meine – Stiefmutter ist in Berlin!«

»So«, sagte er und bemühte sich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen.

»Haben Sie noch Verbindung mit – Frau Blankenhorn?«

»Nein, ich habe niemals wieder etwas von Ihrer – Frau Stiefmutter gehört.«

»Ich dachte, daß Sie Ihnen schreiben würde. Sie ritten damals viel mit ihr zusammen aus.«

Er zuckte die Achseln. Wußte das junge Mädchen wirklich nicht, wie es mit ihm und Dorette gestanden hatte? Vielleicht ahnte keine von den Damen etwas davon? Das war die große Frage, die er sich immer wieder stellte.

»Ihre – Frau Stiefmutter würdigte mich manchmal, ihr beim Reiten Gesellschaft zu leisten.« Er sagte das in dem unterwürfigen Ton, den er mit seiner Stellung wie eine Verkleidung angenommen hatte. Seine Haltung entsprach dem. So stand er vor seinen Reitschülern und den Herrschaften da, die ihm ihre Pferde anvertrauten, den Hut in der Hand, ein wenig steif, die Knie durchgedrückt. Als er damals Inspektor wurde, hatte er diese Haltung angenommen. Immer korrekt angezogen, den Körper im Training, das dunkle Haar straff gescheitelt. Das verlangte man von einer Menschenklasse, die über fremde Schollen ging und fremde Pferde ritt: gutes Aussehen, Ergebenheit, Zurückhaltung. Kaffern! stieg es manchmal in ihm hoch, wenn ihm bewußt wurde, daß aus dem Spiel eigentlich schon Wirklichkeit geworden war.

»Meine Stiefmutter hatte ein kleines Faible für Sie, Herr Steegen«, fuhr Karla lächelnd fort. »Wir haben sie manchmal damit aufgezogen.«

»Das ehrt mich sehr«, sagte er unbewegten Gesichts. »Ich hätte nie gewagt, etwas Derartiges zu hoffen oder zu bemerken. Ihre Frau Stiefmutter liebte den Scherz, sie war noch jung.«

»Ja«, sagte Karla bitter, »sie war jung. Die Stiefmutter, die unser Vater uns so überraschend gab, war drei Jahre älter als ich. – Übrigens habe ich mich verheiratet.«

»Gehorsamsten Glückwunsch!« Er verbeugte sich, sah auf ihre Hand und bemerkte, daß sie keinen Ring trug.

»Ach so, der Ring«, sagte sie. »Ich liebe es nicht, einen Ehering zu tragen, wissen Sie. Das sieht so aus, als ob die Verheirateten eine besondere Klasse im Staat bildeten.«

Rolf Steegen stutzte. Diese Ansicht hätte Dorette äußern können. Wenn eine Frau wie Karla ihren Ehering nicht trug, mußte das einen besonderen Grund haben. Vielleicht war sie unglücklich, oder ihr Mann betrog sie.

»Darf ich fragen?«

»Mit Professor Stüwe, dem Bildhauer. Besinnen Sie sich auf ihn?«

Natürlich besann er sich auf Stüwe, der öfters in Swantemühl gewesen war. Eine Zeitlang hatte der Bildhauer schon damals als Karlas Verlobter gegolten, bis er, ein halbes Jahr vor der Katastrophe, ausblieb. Steegen hatte sich nicht sonderlich darum bekümmert. Mochten Karla und Sabine ihre kleinen Romane erleben. Seine Gedanken kreisten um Dorette. Oder hatte nicht auch Dorette von Stüwe gesprochen? Einmal hatte er die beiden in der Fliederlaube des Parks zusammen gesehen: die zierliche blonde Dorette und den ernsten dunklen Mann, von dem es schon damals hieß, daß er berühmt wäre.

»Wir bewohnen eine Atelierwohnung in der Fasanenstraße«, sagte Karla. Weshalb erzählte sie ihm das? Sie würde keine Aufforderung für ihn hinzufügen, sie zu besuchen. Für Karla war er der ehemalige Inspektor. Oder sprach sie nur, weil sie eine Frage an ihn richten wollte, die sie nun doch nicht über die Lippen brachte? Die ganze Zeit über schien es ihm, daß sie mit diesem Gespräch einen besonderen Zweck verfolgte.

»Mein Mann besinnt sich noch auf Sie«, fuhr sie zögernd fort. Er mußte wieder an die Fliederlaube denken. Damals hatte der Bildhauer ihn prüfend angesehen. Vielleicht hatte Dorette gerade über ihn gesprochen? Oder war Stüwe der einzige gewesen, der den wahren Zusammenhang durchschaute? Dann drohte ihm, Rolf Steegen, von dieser Seite Gefahr. Wer hinter sein Verhältnis zu Dorette gekommen war, mußte ihn für den Mörder halten!

»Hatte nicht Ihr Fräulein Schwester Unterricht bei Herrn Professor Stüwe?« fragte er ausweichend.

»Sabine? Ja, sie ist Bildhauerin geworden und hat ein Meisterschüleratelier in der Akademie. Sie war lange Schülerin meines Mannes.«

Sabine! dachte er und sah ihren hübschen Kopf mit den klugen Augen vor sich. Noch immer stand er in ergebener Haltung mit unbewegtem Gesicht da. Das Leben der Straße flutete an ihnen vorüber. Die Drähte der sausenden Elektrischen schwirrten in Funkenberührung, Bremsen schrien wie angeschossene Tiere, Seidenkleider und helle Sommeranzüge schoben sich aneinander in seltsamen Kurven vorbei. Stein, Glas und Eisen funkelten in schneidender Kälte. Die beiden standen wie auf einer Insel inmitten dieses Treibens. Sie standen nicht auf der Tauentzienstraße, sondern im Park von Swantemühl: Der Himmel reichte bis zu den bebuschten Horizonten. Es gab Fernen mit Dörfern und spitzen Kirchtürmen, Wege mit aufgelockertem Boden zwischen weiten Getreidefeldern, saftig grüne Viehweiden mit schwarzweißen Kühen, Gräben mit Heckenrosen, Hügel mit Birkenwäldchen, einen Eisenbahndamm, den man drei Stationen weit mit den Augen verfolgen konnte. Und in diese Landschaft verfangen einen eigenartigen Menschenkreis: den kurzbeinigen robusten Herrn Blankenhorn mit der gelben Joppe und dem verschossenen Jägerhütchen über dem wulstigen Genick. Die kleine zierliche Dorette mit dem kessen Mund. Herrn Blankenhorns Mutter mit dem glatten Scheitel, der noch immer kein weißes Haar zeigte. Karla und Sabine, die beiden Landmädchen mit den sehnsüchtigen Augen. Und zwischen diesen Menschen mit immer unbewegtem und korrektem Gesicht er selber, Rolf Steegen, der den Umbruch der Felder, das Absetzen der Kälber, das Hinausziehen der Gespanne bei Hahnenschrei bewirkte. Dazu Gäste aus der Stadt wie dieser Herr Stüwe, die die Satten voll dicker Milch und die Schalen voll eingezuckerter Erdbeeren zulangend bewunderten. Das war nun alles vorbei, seit Dorette sich in ihre Zimmer und in einsame Ritte zurückgezogen hatte, und seit Herr Blankenhorn mit durchschossener Stirn in seinem Sessel lag. Man konnte nicht einmal wissen, ob diese beiden Tatsachen einander nicht auf eine fürchterliche Weise bedingten. Diese ganze Welt aber umstand die beiden Menschen, die sich auf der Tauentzienstraße wiedergefunden hatten und nicht wußten, wie sie miteinander reden sollten.

»In der Fasanenstraße!« hörte Steegen sich wiederholen. Karla und ihr Mann wohnten also in der Fasanenstraße.

In diesem Augenblick sah er aus der Ladentür eine Dame in beigefarbenem Complet heraustreten. Als er nur den Fuß und die Biegung des Rocks über dem Knie gesehen hatte, erkannte er sie. Dann das leichte Zuschlagen der Tür hinter sich, die Hand, die eine rudernde Bewegung machte, und das blonde Haar, das wie ein goldener Streif unter dem weichen Filzhut sichtbar wurde. Auf einmal wußte er: Karla hatte hier auf Dorette gewartet!

Es schien unausweichlich, daß sie zusammenstießen: die hochgewachsene Karla mit dem ebenmäßigen Gesicht, dessen Ausdruck jetzt völlig durch zwei erschrockene blaue Augen bestimmt war, und Dorette mit den zierlichen Bewegungen eines Fisches. Sollte man grüßen, beiseite treten, aufeinander zugehen? Man unterschätzte Dorettes Geistesgegenwärtigkeit. Sie hielt einen Augenblick inne, als müßte sie sich an das Straßengewühl gewöhnen. Die kleine Nase schnupperte in der Luft, der Blick der grünen Augen krümmte sich in sich selbst zurück, und Dorette schritt nach rechts davon. Der kurze Rock wippte in ihren Kniekehlen.

Aus Karlas Gesicht war die Farbe gewichen. Sie bemühte sich, in andrer Richtung zu sehen. »Ja, in der Fasanenstraße!« sagte sie schließlich. »Wir haben eine sehr hübsche Wohnung dort.« Sie blieb unschlüssig stehen. Rolf sah den Kampf in ihrem Gesicht. Sie hatte Dorette ansprechen wollen, und wagte es nicht. Sie hatte Steegen etwas fragen wollen, und wagte es nicht.

»Verzeihung, gnädige Frau, ich muß leider gehen!« sagte er korrekt und verneigte sich. Karla sah ihn mit einem hilflosen Blick an. Sie wußte nicht einmal, ob sie ihm die Hand reichen sollte. Er war bereits verschwunden.

Am nächsten Tag erreichte ihn ein Brief, der im Tattersall für ihn abgegeben war.

»Sehr geehrter Herr Steegen! Ich sah Sie zufällig vorüberreiten und würde mich freuen, Sie wiederzusehen Kommen Sie am Donnerstagabend gegen dreiundzwanzig Uhr in die Hildebrandtsche Privatstraße Nr. 57. Ich empfange in der Wohnung von Herrn Abercron. Am Portal steht ein Diener, der öffnet. Mit freundlichem Gruß Dorette Blankenhorn.«


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