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12

Wie sollte es anders sein, als daß hier Gespenster der Vergangenheit auf ihn zukamen! Wahrscheinlich erschien er selbst allen als ein Gespenst, die ihn neben Sabine in dem alten Blankenhornschen Wagen sahen.

Sie fuhren nach dem Gutshof. Der Förster hatte sich auf den Bock geschwungen. Er hielt die Büchse zwischen den Knien, und der Hund lag auf seinen Füßen. So war es immer gewesen, wenn sie mit Herrn Blankenhorn zur Jagd fuhren. Sabine ließ die Augen schweifen. Sie umfaßte die Aussicht über die breite Geländemulde, in deren Mitte, von Büschen versteckt, Swantemühl lag. Links das Dorf, in der Mitte die alte Kirche aus Granitfindlingen und rechts der rechtwinklige Gebäudekomplex des Gutshofes. Von dem Schloß sah man durch den Park hindurch nur die Giebelseite, die, in der sich die Zimmer der beiden Mädels befunden hatten.

»Da ist der Hügel!« rief Sabine und zeigte auf die einzige Erhebung hinter der Fachwerkwand der großen Scheune.

Er wußte, was sie meinte. Dort pflegte er auf dem Rappen haltzumachen, wenn er nach Feierabend vom Felde zurückkam, um den Sonnenuntergang zu beobachten. »Wissen Sie, von wo ich Sie meistens sah? Von der Baumkanzel hinter dem Park!« Er überprüfte das Gelände. Von dort konnte sie gesehen haben, an welcher Stelle er mit Dorette in den Wald hineinritt und wo sie wieder herauskamen.

Er mußte sich zusammennehmen, um nicht eine Bewegung zu tun, die seine Ergriffenheit offenbarte. Diesen selben Weg, den sie jetzt entlangfuhren, war er hundertmal mit Dorette hinuntergaloppiert. Am Waldrand parierten sie die Pferde durch. Er dachte an die Querschläge zwischen den Jagen, an die engen Stellen, wo sie ganz dicht nebeneinanderreiten mußten. An den uralten Ahornbaum mit den niederhängenden Zweigen, unter denen sie haltmachten und sich küßten, ehe sie wieder das freie Feld gewannen. Das alles war nahe wie gestern. Wenn man die Zeit zurückschrauben könnte, dann würde sich alles noch einmal so abspielen. Blankenhorn – Abercron! dachte er, ohne eigentlich eine Vorstellung damit zu verbinden. Das stieg jäh aus dieser Mischung von Erinnerung und Gegenwart auf, und auf einmal wußte er, daß Abercrons Tage gezählt waren. Er erschrak vor diesem Einfall, der ihn wie ein Sturzregen überfiel.

»Was haben Sie?« fragte Sabine.

Er sah sie erstaunt an. Ihr Anruf riß ihn aus langgesponnenen Gedankenketten heraus, die ihm jetzt, im Aufwachen erst, zum Bewußtsein kamen. Er hatte an die merkwürdigen Worte des Herrn Schwarzer über den Braunen gedacht. Hatte das Tier wirklich die Neigung, vor der Hürde zu bocken? Plötzlich sah er Abercron vom Rücken des Pferdes durch die Luft fliegen und mit dem schweren Körper aufschlagen.

Sabines Anruf riß ihn aus dieser Vorstellung. Würde er noch einmal um Dorettes willen eine solche Tat bis in alle Einzelheiten durchdenken können? dachte er schnell zu Ende. Mit genau der gleichen kaltblütigen Folgerichtigkeit wie damals? Die Vorstellung des hinstürzenden Abercron ließ ihn nicht los. Würde er? Er schauerte vor sich selber. Würde er? Wenn Dorette wollte! Wenn sie wieder mit ihm zusammenritt, wenn er wieder ihren Fuß in seinem Steigbügel fühlte und den starken Widerdruck ihrer Lippen! Nur würde er sich den Lohn zahlen lassen diesmal! Oder hatte damals ein anderer den Lohn empfangen?

»Was ist?« fragte er laut zurück und begegnete Sabines fragendem Blick.

»Sie sahen eben so merkwürdig aus!« sagte sie. »Als ob Sie auf jemanden böse wären.« Er schüttelte lächelnd den Kopf.

Sie fuhren durch das Dorf, an der Kirche vorbei. Wie damals schien die Sonne auf die sandige Straße. Nur flutete das Licht nicht mehr smaragden grün. Die alten Kastanien waren fast entblättert. An dem großen Hoftor hatte er vor zwei Jahren gestanden und dem davonfahrenden Wagen nachgesehen. Sie fuhren über das holprige Pflaster des Wirtschaftshofs. Er sah, daß die Ställe verwahrlost waren. Die Scheunen standen mit eingeknickten Balkenknien da. In der Ecke arbeitete der Schmied an einer Egge. Der zweite Inspektor kam und grüßte den Wagen. Steegen hatte ihn noch in sein Amt eingeführt. Er besann sich, daß er Schorlemer hieß. Links lag der Gemüsegarten, und vor ihm zwischen Holunderbüschen das kleine Inspektorhaus. Dort hatte er sein Zimmer gehabt. Rechts hinter dem großen Rasenrondell lag weiß das Schloß mit seiner breiten Fensterfront.

Er wollte es nicht, aber er mußte doch den ersten Blick auf jene bebuschte Ecke werfen, in der der Rechtsanwalt »die Spuren« entdeckt hatte. Dort sprang der neue Flügel des Schlosses zurück. Die Mauer mit gesprungenem Putz lief, einen Meter hoch, im Viertelkreis um die Wildnis aus Haselnußsträuchern, Fliederbäumen und Tannendickicht. Nichts war verändert. Er hätte die Lage der einzelnen Zweige zueinander aufzeichnen können. Nichts in der Welt hatte er so studiert wie diesen dunklen Winkel, um den die beiden Mauern rechtwinklig, weiß und fensterlos bis zum Dach hinaufstiegen.

Der Wagen hielt vor der Auffahrt. Das Stubenmädchen stand auf der obersten Stufe der Treppe. Auch die kann es sein, dachte Steegen, die die beiden Briefe an Dorette geschrieben hat! Alle konnten es sein, selbst Schorlemer, der sich langsam näherte, oder der Bahnhofsvorsteher. Sie standen ein wenig verlegen vor der Treppe, die drei Männer und Sabine, und einige Stufen höher das Mädchen, zu deren robuster Gestalt das schwarze Servierkleid mit der weißen Schürze nicht passen wollte.

»Wir wollen niemanden stören«, sagte Sabine. »Die Mamsell wird uns in zwei Stunden eine Kleinigkeit zu essen geben, und um vier Kaffee, und um halb sechs brauchen wir den Wagen zur Bahn. Das ist alles! Und natürlich möchte ich auch einmal durch das Schloß gehen.«

»Ich schließe dann alles auf«, sagte das Mädchen.

»Eigentlich ist es seit dem Prozeß verboten« mischte der Inspektor sich ein. »Das Schloß untersteht doch bis zum Urteil einer Kommission des Gerichts!«

»Ich weiß«, sagte Sabine und wurde rot, »aber ich nehme doch hier nichts fort!«

»Gewiß nicht! Ich möchte das gnädige Fräulein und Herrn Steegen nur bitten, daß nicht darüber gesprochen wird. Gestern war die frühere gnädige Frau mit ihrem neuen Herrn Gemahl da, und wir haben ihnen den Eintritt in das Schloß und in den Park verweigert.«

»Wer war da?« brauste Sabine hoch. Steegen stand wie mit Blut Übergossen. Dorette war mit Abercron hiergewesen! Sie waren nicht nach Italien gefahren, wie sie vorgegeben hatten!

»Wann waren Herr und Frau Abercron hier?« fragte er.

Es war gegen sechzehn Uhr gewesen. Sie waren im Auto von der Berliner Chaussee her gekommen. Es hatte lange und heftige Auseinandersetzungen mit dem starken Herrn gegeben, den Dorette als ihren Mann vorstellte. Herr Abercron wollte durchaus die Stelle in der Mauer sehen, durch die der verhängnisvolle Schuß gefallen war. Der Inspektor hatte den beiden aber jedes Nähertreten verboten, und so waren sie schließlich fortgefahren. Man wunderte sich über den Besuch. Der Inspektor und der Förster hatten lange Diskussionen darüber gehabt, bis gegen Abend die Depesche eintraf, in der Sabine ihr und Steegens Kommen ansagte.

»Steuerte Herr Abercron den Wagen selbst?«

»Ja, es war ein Zweisitzer-Kabriolett. Das Verdeck war hochgeschlagen. Die Herrschaften müssen unterwegs heftigen Regen bekommen haben.«

»Und uns wollen Sie also hier herumgehen lassen?« fragte Sabine.

Der Inspektor lächelte. »Selbstverständlich! Wir bitten nur, nicht darüber zu sprechen.«

»Sie werden uns dann durch das Schloß begleiten. Ich will nicht, daß uns etwas nachgesagt werden kann«, entschied Sabine.

»Sie können sich auch die Stelle an der Wand ansehen«, meinte der Inspektor. An den Gesichtern der andern merkte er, daß er etwas Unpassendes gesagt hatte, und biß sich auf die Lippen.

Sie gingen schweigend durch den Park. Dorettes Auftauchen in Swantemühl hatte die Situation bis auf den Grund durchleuchtet. Die Vergangenheit stand mit allen Schrecken um sie. Auf einmal war es Herbst, und die Sonne, die von Zeit zu Zeit zum Vorschein kam, legte das vorschimmernde Gerippe der Bäume nur schonungsloser bloß. Sie wateten in den raschelnden Blättern zur Baumkanzel, von der sie gesprochen hatten. Aber das war nun nicht mehr der Auslug des jungen Mädchens, sondern das Versteck eines Beobachters. Etwas hatte sich plötzlich zwischen ihnen aufgetan. Sie standen unsicher vor dem weiten Ausblick. Die Stufen und die Bank oben waren glitschig vor Nässe. Sie konnten sich nicht hinsetzen und nicht einmal gegen das Geländer lehnen.

»Wundervolle Aussicht!« sagte Sabine.

»Ja, ganz prachtvoll!« sagte er.

Neben den banalen Worten gingen ihre eigenen Gedanken, die sie voreinander nicht aussprechen konnten. Heute abend, dachte er, oder morgen früh, wenn sie mit Herrn van Holten zusammentrifft, wird sie sagen: Sie haben recht! Steegen ist es gewesen!

»Sagen Sie mir bitte eins!« fing sie an. »Wußten Sie von diesem Besuch der – Frau Abercron?«

»Nein«, sagte er. »Ich stehe mit Frau Abercron viel weniger intim, als Sie vielleicht annehmen. Die beiden wollten gestern abend nach Italien fahren.« Er wußte nicht, ob sie ihm glaubte. Sie stieg ohne Worte die primitiven Stufen hinunter. Er folgte ihr. Als er neben ihr stand, hatte er den Wunsch, einfach fortzugehen und sie allein zu lassen. Aber wie sollte es vor den Leuten begründet werden? Wenn sie sich jetzt voneinander trennten, konnten gefährliche Schlüsse daraus gezogen werden. Für diesen Tag waren sie aneinander gefesselt.

»Wir hätten nicht zusammen hierherfahren sollen!« sagte sie im Weitergehen. »Ich hatte mir alles anders vorgestellt.«

»Wir müssen mit einem früheren Zug zurückfahren. Vor dreizehn Uhr geht einer, glaube ich. Wir erreichen ihn bequem, wenn wir in einer Stunde von hier losfahren.«

»Ja, wir wollen diesen früheren Zug nehmen!«

Sie schlenderten langsam durch den Park zurück. Auch die Wege um das große Rasenrondell waren verwachsen. Hier gab es den weiten Ausblick auf die Mühle. Sie machten einen Augenblick halt. Erinnerungen stiegen zu verschieden in ihnen auf. Sie fühlten, wie sie sich in ihnen bekämpften. Sie schritten dem Ausgang zu, um den Flügel herum, der vor hundert Jahren neu angebaut worden war.

»Hier ist die Stelle!« sagte sie, als sie an dem verwachsenen Winkel vorüberkamen. »Ich möchte es mir doch einmal ansehen!«

Er reichte ihr die Hand, daß sie über die niedrige Mauer gelangen konnte. »Und nun?« fragte sie. Er bog das Gezweig auseinander. Einen halben Meter weiter links konnte man sich ohne Mühe hindurchschwingen. Er wagte es nicht, sie darauf aufmerksam zu machen, aus Furcht, sich zu verraten.

»Sie müssen etwas weiter nach links!« sagte eine Stimme neben ihnen. Erschrocken drehten sie sich um. Da stand Herr Ahlmann, der Förster, mit der Büchse auf der Schulter und dem Hund neben sich. »Etwas weiter links kommen Sie gut durch!« Er legte sein Gewehr ab und schwang sich über die niedrige Mauer. »Hier!« Aber er ging nicht, sondern griff zu den Ästen der alten Tanne hoch und turnte an den Händen bis zu der Wand des Schlosses. »So ist er gegangen«, sagte er, »und hier hat er auf diesen beiden Zweigen gestanden. Sehen Sie?«

Der Putz der Mauer war abgeschlagen. Sechs Ziegel waren nur lose in das Mauerwerk eingefügt. »Soll ich sie herausnehmen?«

»Nein!« sagte Sabine und drehte sich um. Steegen aber prüfte jede Einzelheit. Es war alles so, wie er es verlassen hatte. Da waren die Äste, auf denen die Füße Platz fanden. Da waren auf dem Boden noch die Eindrücke der herausgenommenen Ziegelsteine, und selbst das kleine langgezogene Oval glaubte er noch zu sehen, in dem damals der Schaft des Gewehres gestanden hatte. Des Gewehres, das ihn womöglich verraten hatte!

»Und wenn man die Steine herausnimmt?« fragte er den Förster.

»Es sind zwei Schichten Steine. Die Tapete dahinter in der Ecke des Herrenzimmers war ziemlich zerfetzt. Dort stand der Bücherschrank. Aber das wissen Sie ja wohl alles!«

Weshalb sagte der Mann das? Woher nahm er an, daß Steegen das wußte? Oder meinte er nur, daß Steegen davon gehört hatte oder daß er ja das Zimmer von innen kannte? Oder bestand eine Verabredung zwischen den beiden: zwischen Sabine und Ahlmann? Hatten sie ihn hierhergelockt, um ihn am Ort der Tat zu beobachten? Er hielt das Auge gesenkt, heftete es auf die sechs losen Ziegel in der Wand. Endlich wagte er es, aufzuschauen. Sabine hatte sich fortgewendet, aber sie stand mit geneigtem Kopf, als ob sie lauschte und sich kein Wort entgehen lassen wollte. Grade vor ihm aber stand der Förster, sah ihn an und lächelte. Er hatte wirklich ein deutliches Lächeln um seinen starkgeschwungenen Mund. »Aber das wissen Sie ja wohl alles!« hatte er grade gesagt.

»Ja«, antwortete er. »Der Rechtsanwalt van Holten hat mir eine Schilderung von dem Vorgang gegeben.«

Auf einmal drehte Sabine sich um. »Der Rechtsanwalt van Holten kann Ihnen auch eine Schilderung davon geben, wie Sie Frau Abercron kennengelernt haben!« sagte sie und drängte sich durch die Büsche. Er blieb wie angewurzelt stehen und blickte ihr nach. Noch immer lächelte der Förster neben ihm. In einer merkwürdigen Gedankenausflucht mußte er an das Kind mit Blankenhorns ausgebuckelter Stirn denken. Weshalb lächelte dieser Mann so eigentümlich? Wußte er alles von ihm? Wußten schon alle alles von ihm?

Mit kurzem Entschluß ging er Sabine nach. Er wußte nicht, was er jetzt tun würde. Vielleicht sie zur Rede stellen? Eine Aussprache herbeiführen? Einen Augenblick durchströmte ihn der Gedanke, ihr alles zu gestehen, wie eine Erlösung. Wenn er endlich irgend jemandem alles gestehen könnte! Zwei Jahre trug er jetzt die Last mit sich herum. Es war nicht, weil er sich eingekreist fühlte und in jedem Augenblick überführt werden konnte. Es war die große Enttäuschung, die ihm das Wiedersehen mit Dorette gebracht hatte. Liebte er Dorette noch? Ja, er liebte sie. Noch einmal würde er tun, was sie verlangte. Immer wieder! Er hatte Angst davor, sie nicht mehr zu lieben. Was hatte er noch im Leben, wenn er Dorette nicht mehr liebte!

Er bog die Zweige auseinander und sah Sabine gegen den Holunderstamm gelehnt. Weinte sie? Aber sie hatte nur wenige Sekunden einem Schwächegefühl nachgegeben und richtete sich schon wieder auf, als Steegen hinter ihr stand.

»Verzeihen Sie«, sagte sie. »Ich habe mich gehen lassen. Ich hätte nicht so häßlich zu Ihnen sprechen dürfen. Aber dieses Swantemühl macht mich heute wahnsinnig.«

Er bewunderte ihre Selbstbeherrschung. »Wir wollen fahren!« sagte er.

»Ja, wir wollen möglichst gleich fahren. Herr Ahlmann, bestellen Sie bitte den Wagen. Scherschke soll anspannen. Wir nehmen den Mittagszug.«


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