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17

Sprechen Sie noch nicht, bitte!« wehrte er ab, als van Holten den Kopf hob. »Ich weiß, daß Sie mir nicht glauben können. Sie müssen alles für eine fürchterlich ungeschickte und doch raffinierte Lüge halten. Aber glauben Sie mir meine Erzählung nur eine Viertelstunde lang! Es ist wirklich die Wahrheit. Tun Sie einige Minuten lang wenigstens so, als ob Sie mir glaubten! Denken Sie sich in diese Situation hinein, und dann beantworten Sie mir die Frage: Wer ist Dorette? Sie müssen mir meine Frage beantworten. Das ist das Wichtigste, was es für mich im Leben gibt: Wer ist Dorette?«

Aber der Rechtsanwalt schwieg noch immer. Vor Steegens innerem Auge stand das Bild jener furchtbaren Minute. Er hatte wieder Dorettes schneidende Stimme in seinem Ohr, er sah das vor Verwirrung fast ausgelöschte Gesicht Karlas vor sich, sah Sabines kluge Augen forschend auf sich gerichtet, und im Sessel den Toten mit dem vor Schreck verzerrten Gesicht und dem blutigen Mal auf der Stirn. Die Wochen, die dann kamen, stiegen wieder auf. Diese Wochen, in denen er für Dorette nicht vorhanden zu sein schien, in denen er jeden Augenblick auf ein Zeichen von ihr gewartet hatte. Jede Nacht, da er auf den leichten Schritt ihrer Füße vor seinem Fenster gelauscht hatte, bereit, sie mit Vorwürfen über ihre Unvorsichtigkeit zu überschütten, und doch selig über ihr Tun.

Alles noch einmal erlebte er. Ihre Blicke, die gleichgültig über ihn hinwegglitten. Er sah den Wagen von dem smaragdgrünen Licht umspült in der Dorfstraße entschwinden. Er wartete wieder auf ein Zeichen von ihr, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Er irrte in Berlin umher, er mietete das kleine dunkle Zimmer in dem Hinterhaus der Kantstraße, er machte noch einmal die Komödie der Vorstellung im Tattersall durch. Er wartete immer noch ein Jahr, das zweite Jahr. Und dann der Tag, da er sie wirklich wiedersah!

Der Rechtsanwalt hob die Hand. »Ich gehe also auf Ihren Vorschlag ein, Herr von Scheeven, Ihre Erzählung für wahr zu halten. Wir wollen sehen, ob wir nicht den Charakter dieser Frau einigermaßen klar umreißen können, wenn wir uns an die Tatsachen halten. Wie waren Ihre Empfindungen, als Sie den ganzen Tatbestand in Ruhe überschauten? Hatten Sie nicht einen bestimmten Verdacht? Gab es in der Nähe dieser Frau nicht einen Menschen, der als Täter in Frage kam?«

»Dorette war mit niemandem als mit mir zusammen!«

»Falls Ihre Erzählung wahr ist, woran ich wie gesagt vorläufig nicht zweifeln will, muß da ein Irrtum Ihrerseits vorliegen. Frau Blankenhorn wird wahrscheinlich doch noch zu einem andern Mann Beziehungen unterhalten haben, von dem Sie nichts wissen. Sie hatten Ihren Plan dieser Frau in allen Einzelheiten anvertraut. Nun war Ihnen ein andrer in der Ausführung zuvorgekommen. Dieser andre muß Ihren Plan gekannt haben. Falls er Sie nicht etwa belauscht hat, kann er sein Wissen nur von Frau Blankenhorn bezogen haben. Diesen logischen Schluß hätten Sie übrigens mit leichter Mühe selbst gezogen, wenn Sie nicht vor der Vorstellung ausgewichen wären, daß Sie einen glücklicheren Rivalen haben. Nicht Sie durften den Mann erschießen, den die Frau haßte. Sie durften allenfalls einige Ziegelsteine aus einer morschen Mauer herausbrechen und ein Gewehr putzen und bereitstellen. Geben Sie die Logik dieser Ausführungen zu?«

»Ich habe mir das alles tausendmal selbst gesagt, und doch glaube ich nicht daran.«

»Weil – verzeihen Sie – Ihre Eigenliebe es nicht zuläßt. Hatten Sie die Empfindung, daß Frau Blankenhorn Sie für den Täter hält, oder glauben Sie andrerseits, daß Frau Blankenhorn den Täter kennt? Sie haben sie doch inzwischen wiedergetroffen und werden sich mit ihr über diesen Punkt unterhalten haben. Wie ist es?«

Steegen zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Einmal hat Dorette mir ins Gesicht gesagt, daß sie mich für den Täter hält. Aber ich weiß nicht, ob sie es wirklich glaubt. Ich habe ihr ebenfalls einmal vorgeworfen, daß sie genau wüßte, wer den Schuß abgefeuert hat. Aber wie es ist, weiß ich nicht. Vielleicht wissen wir beide nichts voneinander.«

»Wenn Sie nun wegen Mordes angeklagt würden«, fragte van Holten ernst, »wie denken Sie sich die Sache? Glauben Sie, daß Sie verurteilt werden würden!«

»Bestimmt! Alle Anzeichen sprechen gegen mich, und im Grunde habe ich den Mord auch ausgeführt. Ich hätte ihn bestimmt ausgeführt, wenn mir nicht der andre zuvorgekommen wäre.«

Der Rechtsanwalt wiegte den Kopf hin und her. »Ich bin – die Wahrheit Ihrer Erzählung unterstellt – nicht so ganz der festen Überzeugung, daß Sie den Mord ausgeführt hätten. Sie selbst haben die starken Hemmungen geschildert, die sich in Ihnen gegen die Tat aufbäumten. Sie fürchteten, noch im letzten Augenblick andern Sinnes zu werden, und vielleicht hätten Sie sich im allerletzten Augenblick doch noch besonnen.«

»Ich glaube es nicht«, entgegnete Steegen. »Sie vergessen, daß mein Leben bedroht war. Ich mußte gewärtigen, von Blankenhorn bei der nächsten Gelegenheit über den Haufen geschossen zu werden. Vielleicht wäre das sogar noch in derselben Nacht geschehen.«

»So handelten Sie also in gewissem Sinne in Notwehr.«

»Wenn man das Notwehr nennen kann. Übrigens braucht kein Gericht der Welt mir das zu glauben. Und dann spricht doch gegen mich, daß ich Dorette von früher her kannte. Seit ich von Sabine Blankenhorn gehört habe, daß Sie das herausbekommen haben, weiß ich, daß ich verloren bin. Es ist mir vollkommen klar, daß ich verurteilt werden muß. Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um mich durch meine Erzählung zu retten, sondern weil ich von Ihnen die Wahrheit über Dorette zu erhalten hoffte. Wie haben Sie übrigens mein Münchner Zusammentreffen mit Dorette erfahren? Kein Mensch konnte davon etwas wissen außer uns beiden.«

Der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf. »Und doch wußte ein einziger Mensch von dieser ersten Bekanntschaft zwischen Ihnen und der Frau. Sie erzählten von einem Brief, den Sie in München an Dorette geschrieben haben. Dieser Brief wurde im Schreibtisch des Ermordeten gefunden.«

Steegen sprang auf. »Wie!« rief er erschrocken aus. »Blankenhorn hatte diesen Brief? Aber der Brief war mit meinem richtigen Namen unterschrieben!«

»Herr Blankenhorn hat auch Ihren richtigen Namen gekannt. Jedenfalls hat er mit Bleistift das Wort ›Scheeven‹ ausgestrichen und ›Steegen‹ herübergeschrieben.«

Steegen ließ sich schwer in den Stuhl zurückfallen. »Mein Gott!« sagte er. »Blankenhorn wußte das!«

»Ja, er wußte das. Seine Frau hat diesen Brief unvorsichtigerweise aufgehoben. In einem Eifersuchtsanfall muß Blankenhorn ihre Sachen durchsucht und den Brief gefunden haben. Vielleicht hat ihn Frau Blankenhorn gar nicht vermißt.«

»Aber wie ist das möglich, daß Blankenhorn mich nicht zur Rede gestellt hat?«

Der Rechtsanwalt sah ihn lächelnd an. Zum erstenmal hatte sein Gesicht wieder den freundlich pfiffigen Ausdruck. »Herr Blankenhorn wird seine Gründe gehabt haben«, sagte er. »Er hat Sie und seine Frau wahrscheinlich eine Zeitlang überwacht und hat als schlauer Psychologe bald die Wahrheit herausbekommen: daß Sie, sehr verehrter Herr von Scheeven, bei Frau Blankenhorn nur die Rolle eines Deckmantels für eine ernstere Beziehung spielten. Hinter dem Spiel mit Ihnen verbarg Frau Blankenhorn ihre eigentliche Neigung zu jemand anderm. Die Wutausbrüche Blankenhorns in seinen letzten Tagen hatten demnach gar nichts mit Ihnen zu tun, und die Reitpeitsche lag an dem unseligen Abend nicht für Sie auf dem Schreibtisch, sondern, falls sie nicht rein zufällig dalag, für seine Frau.«

»Für Dorette!«

»Ja, für Dorette! Vielleicht wollte er an diesem Abend die große Abrechnung mit ihr in Gegenwart seiner Familie halten und verschob es dann aus irgendeinem Grunde. Vielleicht hatte er noch nicht genügend Beweismaterial zur Hand. Vielleicht war er unsicher geworden, ob nicht doch Sie der glückliche Liebhaber waren, und wartete als gewissenhafter Mann lieber noch einige Tage.«

»Aber – aber Dorette wußte doch, daß ich ihn an diesem Abend erschießen würde. Ich habe es ihr doch selbst gesagt!«

»Ja«, sagte van Holten, »in diesem Punkt scheint mir noch eine kleine Unklarheit vorzuliegen. Angenommen, es verhält sich so, wie wir beide es jetzt miteinander besprochen haben: weshalb ließen Frau Blankenhorn und ihr Liebhaber Sie nicht ruhig schießen? Hier liegt wieder eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit vor, Ihrer Erzählung zu glauben. Sie sehen, daß ich mir alle Mühe gebe. Vielleicht hatte Frau Blankenhorn zu Ihnen nicht das Zutrauen, daß Sie die Tat wirklich ausführen würden. Vielleicht aber war der Termin zwischen ihr und dem andern schon früher verabredet. Nehmen Sie folgendes an: Jener andre hatte versprochen, Dorette ein Zeichen zu geben, wann er den Mord ausführen würde. Es konnte ein geknickter Ast sein, der in der Haustür lag, oder irgend etwas Derartiges. Vielleicht auch der Ruf eines Vogels aus dem Park. Auf dem Spazierritt hatten Sie Frau Blankenhorn den Entschluß mitgeteilt, Ihr Vorhaben an diesem Abend zur Ausführung zu bringen. Ein wenig später erhält sie das verabredete Zeichen von jenem andern, daß er ebenfalls diesen Abend als Zeitpunkt festgesetzt hat. Vielleicht hat Frau Blankenhorn Qualen ausgestanden, weil sie weder den einen noch den andern unbemerkt erreichen konnte. Sie rechnete damit, daß ihre beiden Liebhaber sich in dem Winkel treffen würden, und sie stellte sich ein solches Zusammentreffen wahrscheinlich sehr peinlich für beide Teile vor. Als der Schuß fiel, wußte sie vielleicht nicht einmal, wer von beiden nun wirklich geschossen hatte. Sie wußte es auch die ganze Nacht über nicht, vielleicht war sie sogar tage- oder wochenlang in Unkenntnis, weil sie sich mit keinem von beiden in Verbindung zu setzen wagte. Sie mußte doch immerhin mit einer scharfen Überwachung durch Polizeiorgane rechnen.«

»Aber jetzt weiß sie es?«

Der Rechtsanwalt zuckte wiederum die Achseln. »Vermutlich wird sie sich doch mit ihrem Liebhaber inzwischen gründlich über die Angelegenheit ausgesprochen haben.«

»Dann hat Dorette vor mir also Theater gespielt?«

Holten lächelte. »Wahrscheinlich nicht nur in diesem Punkt. Sie wird es für richtig gehalten haben, Sie ein wenig in der Schlinge zappeln zu lassen.«

»Nein!« rief Steegen aus. »Nein, Sie irren sich über diese Frau! Haben Sie denn einen Anhalt, daß – dieser andre Mann existiert?«

»Wenn er geschossen hat, muß er eigentlich existieren.«

»Aber, daß Dorette ihn kannte! Daß sie mit ihm in Verbindung stand!«

Holten setzte wieder sein freundliches Lächeln auf. »Sagen Sie mir die Wahrheit, Herr von Scheeven! Haben Sie geschossen oder nicht!«

»Nein!«

»Dann hat also der andre geschossen!«

»Wer ist der andre? Um Gottes willen sagen Sie mir, was Sie wissen. Haben Sie von diesem andern eine Spur gefunden?«

»Die Spuren haben bereits die lokalen Polizeiorgane bei der ersten Untersuchung gefunden. Sie haben sie nur nicht bis zu Ende verfolgt. Sie werden sich besinnen, daß damals von einem Motorradfahrer die Rede gewesen war, der sich in auffälliger Weise in Richtung Berlin entfernt haben sollte. Dem Förster Ahlmann war es aufgefallen, daß noch spät in der Nacht ein Motorrad auf dem Fahrweg an der Försterei vorbeiknatterte. Er behauptet, ans Fenster gegangen zu sein und noch das Licht gesehen zu haben. Die Nummer allerdings konnte er nicht mehr erkennen.«

»Ich besinne mich.«

»Dieser Motorradfahrer ist vielleicht derselbe, der gegen dreiundzwanzig Uhr in einem Neustädter Hotel eingekehrt ist und dort auffälligerweise noch ein Ferngespräch mit Berlin hatte, ehe er weiterfuhr. Als in den Zeitungen von dem Motorradfahrer die Rede war, meldete der Wirt des Neustädter Hotels seine Beobachtung der Polizei. Seine Vernehmung hatte damals kein greifbares Ergebnis. Diese Spur nahm ich nun nach zwei Jahren mit dem Berliner Kriminalkommissar wieder auf. Wir verhörten den Wirt nochmals nach allen Richtungen hin. Er konnte den Mann noch ungefähr beschreiben. Das nützte uns zunächst wenig. Wir fragten ihn nach andern Gästen, die an dem Abend in seinem Lokal gesessen hätten. Es war die übliche Gesellschaft an dem runden Stammtisch gewesen. Bis auf einen inzwischen versetzten Assessor waren alle Herren noch immer dort zusammen. Wir fragten auch sie aus, aber vergeblich. Dann stellten wir den Assessor fest, der zwei Tage nach jenem Abend in eine kleine Stadt als Amtsrichter gekommen war. Und dieser Herr brachte uns auf die richtige Spur. Er war durch den Hausflur gegangen, als der Motorradfahrer gerade telefonierte. Zunächst konnte er uns eine genaue Beschreibung des Mannes geben, der ihm schon durch sein Äußeres aufgefallen war. Sodann hatte er in dem Telefongespräch zufällig den Namen eines sonst unbekannten Berliner Lokals gehört. Neugierig hatte der Assessor einige Wochen später, als er in Berlin war, dieses Lokal nach dem Fernsprechbuch festgestellt und aufgesucht. Provinzler sind ja wild auf solche versteckten Kneipen. An einem Tisch sah er den Motorradfahrer sitzen, diesmal allerdings in menschlicher Kleidung. Er erkannte ihn sofort wieder. Trotzdem kam er nicht auf den Gedanken, ihn mit dem Mord in Verbindung zu bringen. Der Gedanke lag ja auch fern genug. Wir suchten ebenfalls dieses Lokal auf. Es ist eine kleine Bar in Charlottenburg, ›Vitrine‹ genannt. Auf keinen der anwesenden Gäste schien uns die Beschreibung des Mannes zu passen. Es konnte ja auch nur ein Zufall sein, wenn der gleiche Gast noch immer dort verkehrte. Ich verwickelte die Wirtin in ein Gespräch und fragte sie ganz nebenbei nach einem Fremden, der so und so aussähe. ›Ah‹, sagte sie, ›das kann nur Professor Stüwe sein.‹ Und es war Professor Stüwe!«

»Stüwe!« schrie Steegen erregt auf. Seit der Rechtsanwalt die »Vitrine« erwähnt hatte, wehrten sich seine Gedanken gegen diesen Namen. »Stüwe! Das ist doch nicht möglich!«

»Es ist nicht nur möglich, sondern sicher. Und ich kann Ihnen sagen, daß der Bildhauer vor zwei Stunden wegen Ermordung Blankenhorns verhaftet worden ist.« Der Rechtsanwalt sah nach der Uhr. »Es ist sogar schon drei Stunden her!«


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