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18

Hat er gestanden?« fragte Steegen nach einer Weile.

»Ich erhielt soeben, bevor unsre Unterredung begann, die erste Nachricht darüber. Ja, er hat gestanden, den Majoratsherrn Blankenhorn in der fraglichen Nacht durch einen Schuß aus seinem Jagdgewehr niedergeschossen zu haben. Als Motiv für die Tat gibt er seine Leidenschaft für die Frau des Ermordeten an. Darüber, wie weit er mit Frau Blankenhorn im Einverständnis handelte, verweigert er die Aussage, ebenso über alle Einzelheiten. Nun, wir werden sehen. Jedenfalls ist an dem Sachverhalt nicht mehr zu zweifeln. Sie können sich denken, wie Ihre Erzählung mich gerade in diesem Zusammenhang interessiert hat. Ich habe übrigens nicht das geringste gegen diesen merkwürdigen Bildhauer, der in der Tat ein ungewöhnlicher Mensch und Künstler zu sein scheint. Mir kommt es bei dem Prozeß, den ich für die Blankenhornschen Damen führe, auf Dorette an. Meine Aufgabe ist es, Dorettes Mitschuld zu beweisen. Wenn schon ihr kleiner Sohn Majoratserbe von Swantemühl sein soll, dann muß er jedenfalls von seiner Mutter getrennt werden. Das ist es, was wir wollen. Durch Ihre Erzählung ist die Beteiligung dieser Frau an dem Mord ihres Gatten voll bewiesen. Stüwe verkehrte nicht mehr auf dem Gut. Er sah sich nur gelegentlich mit Frau Blankenhorn, war also gar nicht in der Lage, die sehr umständlichen Vorbereitungen zu diesem Mord zu treffen. Frau Blankenhorn muß ihn auf die günstige Gelegenheit der durchbrochenen Wand aufmerksam gemacht und über die Gewohnheiten ihres Gatten unterrichtet haben. Das alles ist von den beiden sehr raffiniert in die Wege geleitet worden. Denken Sie daran, wie Stüwe plötzlich seinen Verkehr in Swantemühl abbrach und die Verlobung mit Karla aufhob.«

»O Gott, Karla!« unterbrach Steegen.

»Ja, die arme Frau! Sie muß seit einigen Wochen geahnt haben, wie es um Stüwe stand. Natürlich durften wir ihr von dem Stand unserer Untersuchungen nichts mitteilen. Wir hatten die feste Absicht, Karla und ihren Mann zu schonen. Frau Blankenhorn brauchte nur ihre Ansprüche auf Swantemühl zurückzuziehen, und wir hätten die ganze Sache ruhen lassen. Aber Dorette fühlte sich zu sicher. Erst gestern hat sie die Klage ihres Sohnes zurückgezogen.«

»Sie hat die Klage zurückgezogen?«

»Der Brief kam heute morgen an. Vielleicht hängt das mit ihrem überraschenden Ausflug nach Swantemühl zusammen. Plötzlich muß ihr die ganze Gefährlichkeit ihrer Lage aufgegangen sein.«

»Sie hat ihre Klage zurückgezogen?« rief Steegen nochmals aus. »Dann glaubt sie also, daß man dem Mörder auf der Spur ist?«

»Vielleicht hat sie bestimmte Nachrichten darüber erhalten und fühlt sich selbst bedroht.«

»Aber was tun Sie jetzt? Sie lassen alles auf sich beruhen?«

»Das ist eben das Schlimme«, sagte van Holten ärgerlich. »Ihr Verzicht kam zu spät. Die Entwicklung war bereits zu weit vorgeschritten. Wir konnten nicht mehr zurück. Noch in den letzten Tagen wurde festgestellt, daß Stüwe sich, bald nachdem er seinen Verkehr in Swantemühl aufgegeben, in dem Dorf Vehlefanz für einige Wochen eingemietet und von dort täglich größere Motorradfahrten, oft zu nächtlicher Stunde, in Richtung auf Swantemühl unternommen hat. Später ist er dann wohl direkt von Berlin aus mit seinem Motorrad zu den Zusammenkünften mit Dorette gefahren. Seit wir seinen Aufenthalt in Vehlefanz herausbekommen haben, durften wir jedenfalls mit der Verhaftung nicht mehr zögern, denn es bestand die Gefahr, daß er von unsern Ermittlungen Kenntnis bekam. So ist es nun ins Rollen gekommen.«

»Und Dorette?« fragte Steegen. »Wird Dorette etwa auch verhaftet?«

»Das ist Sache des Untersuchungsrichters. Ich weiß vorläufig nichts darüber.«

Holten erhob sich. Die Unterredung war für ihn zu Ende. Steegen stand gleichfalls auf. Eine Art Müdigkeit, ein Gefühl von Trotz und Enttäuschung überkam ihn. Er hatte damit gerechnet, daß er das Büro des Rechtsanwalts nur in Ketten verlassen würde. Es war fast wie eine Hoffnung gewesen. Ein Ende machen, nur endlich ein Ende machen mit diesem unerträglichen Zustand! Nur sich nicht länger den Kopf über Dorette zermartern müssen! Und nun war alles ganz anders. Stüwe hatte gestanden. Er selbst war frei, er konnte hingehen, wohin es ihm beliebte. Er konnte zum Beispiel noch heute abend nach Ostpreußen zu Engelke fahren und Gestütsleiter werden. Er stand unschlüssig da.

»Nun?« fragte van Holten höflich. »Haben Sie noch eine Frage?«

»Nein. Es ist nur alles so merkwürdig!«

»Ja, es ist merkwürdig. Aber ich glaube, für jetzt haben wir genug. Außerdem muß ich dringend zu der Vernehmung Stüwes eilen, die für heute abend bereits festgesetzt ist.«

Sie reichten sich die Hände. Das Treppenhaus des Bürogebäudes gähnte wie ein dunkles Loch. Nur einige kümmerliche Dauerbrenner warfen ein melancholisches Licht über die abgetretenen nackten Stufen. Steegen stieg langsam hinunter. Auf einmal ertappte er sich dabei, daß er Stüwe beneidete und nicht nur darum, daß Dorette ihn geliebt hatte. Jetzt würde in Verhören und Gedanken dem Bildhauer alles Entschwundene noch einmal gegenwärtig werden. Alle Stunden mit Dorette würden auferstehen, als wären sie noch einmal da. Die langen Unterhaltungen, in denen sie ihren Plan besprachen, die Sommernächte im Park, während das Motorrad irgendwo versteckt gegen einen Baum lehnte. Wie sie über ihn gelacht hatten! »Komm, ich werde dir zeigen, wo der Narr die Steine aus der Mauer herausgekratzt hat. Dort durch die Wand kannst du Blankenhorn erschießen!« Steegen hörte die flüsternden Stimmen der Liebenden. Dort, wo er heute mit Sabine gestanden hatte, waren die beiden Arm in Arm durch die Nacht gegangen. Auf der Baumkanzel hatten sie vielleicht den Mond herangewartet, die große Wiese hinter der Ligusterhecke war ihr Pfühl gewesen.

Auf einmal sah er den ausgebrannten, von seiner Leidenschaft zerfressenen Kopf aus der »Vitrine« vor sich. Hans Stüwe, der große Künstler! Derselbe Hans Stüwe, den er einmal mit Dorette in der Fliederlaube des Parks zusammengesehen hatte. Dorettes Geliebter! Er sah ihn in der Ecke des kleinen Barraums sitzen und Dorette anstarren. Hatte der Bildhauer gehofft, daß Karla ihn von seiner Besessenheit erretten würde? Aber es ging nicht mehr! Man konnte ohne Dorette nicht leben! Es war unmöglich, von ihr loszukommen, wenn man einmal ihre Umarmungen genossen hatte. Arme Karla!

Er stand auf der Straße. Vielleicht stand er schon lange da. Er wußte es nicht. »Nanu?« hörte er van Holtens Stimme neben sich und schrak auf.

»Ich muß nach Moabit!« rief ihm der Rechtsanwalt im Vorübergehen zu. »Fräulein Sabine hat übrigens angerufen. Sie ist der Überzeugung, daß Sie der Mörder sind. Interessant was? Aber ich muß eilen!« Er rief eine Taxe heran und stieg ein.

Jetzt, dachte Steegen, in einer Viertelstunde wird Stüwe zu sprechen anfangen. Er wird sagen: Ja, Dorette und ich haben uns geliebt. Wir haben uns jede Nacht im Park getroffen. Um ihr näher zu sein, mietete ich mich im Sommer in dem Dorf Vehlefanz ein. So würde das Verhör beginnen.

Er stand noch immer vor dem Bürohaus. Was nun? Er konnte hingehen, wohin er wollte. Nur mit Dorette hatte er nichts mehr zu schaffen. Das war zu Ende, endgültig zu Ende. Eigentlich war es schon damals zu Ende gewesen, als er in seiner Inspektorstube den fremden Schuß fallen hörte. Er hätte schon damals wissen müssen, daß alles zu Ende war. Er verstand nicht mehr, weshalb er noch zwei Jahre auf Dorette gewartet hatte. Es war nur, weil er sich nicht von ihr lösen konnte.

Was nun? Merkwürdig, wie das Wetter sich hielt, mußte er denken. Es war eine Ausflucht seiner Entschlußlosigkeit. Plötzlich bestieg er eine Elektrische. Er hatte einen Straßennamen auf dem Schild gelesen. Es stand noch nicht fest, daß er zu Karla fahren würde. Nur die Elektrische fuhr in ihre Nähe. Er konnte sich dann immer noch anders entscheiden. Aber vielleicht mußte er jetzt zu Karla. Hatte es nicht damit begonnen, daß er Karla auf der Tauentzienstraße traf? Erst sah er Dorette über den Kurfürstendamm reiten, dann traf er Karla. Damit war alles ins Rollen gekommen. Heute würde sie sich nicht mehr scheuen, ihn zu fragen, wie damals. Dem Geheimnis war die Hülle fortgerissen. Sie würden zusammensitzen und miteinander sprechen. Auch Stüwe war zu Karla gegangen, als es mit Dorette zu Ende war.

Wie sich eine Hausnummer im Gehirn verfilzen kann! Er ging die Fasanenstraße entlang und suchte an den Türen. Hier war es! Er klingelte an der Portierglocke. Der Kopf einer Frau fuhr hinaus. »Professor Stüwe?« fragte er. »Hinterhaus!« antwortete der Kopf. Der Seiteneingang war noch offen. Vielleicht war es noch gar nicht so spät. Er konnte sich nicht entschließen, nach der Uhr zu sehen. Er ging über den grauen Hof. Eine Laterne kämpfte mit ihrem kleinen Licht gegen die Dunkelheit an, die darüber gestülpt war. Plötzlich hatte er vor dem kümmerlichen Rasenstück und dem dürftigen Springbrunnen die Vision Swantemühl. Das muß so sein, durchfuhr es ihn, irgend etwas Furchtbares muß geschehen, um die Menschen von Zeit zu Zeit umzuschaufeln, aus den Schlössern und Parks in die Trostlosigkeit der Mietskasernen. Immer wieder geschieht etwas Furchtbares, damit dieser zermalmende Kreislauf stattfinden kann.

Er ging die Treppen in die Höhe. Ganz oben fand er das Messingschild mit dem gesuchten Namen. Ehe seine Gedanken sich hemmend über ihn schlagen konnten, klingelte er schnell. Was wollte er eigentlich hier? Karla sagen, daß beinahe er ihren Vater ermordet hätte und daß es dann doch ihr Mann tat? Ein Mädchen öffnete. Er erkannte sie wieder. Sie hatte damals im Schloß gedient. Ihre Augen waren verweint. »Herr Inspektor?« fragte sie verwundert.

»Ist die gnädige Frau zu Hause?«

»Ach Gott, ja, Herr Inspektor. Die gnädige Frau ist da, und Fräulein Sabine auch!« Sie öffnete eine Tür und ließ ihn eintreten. Es war ein kleiner Musikraum. Er hatte den Eindruck von türkischen Teppichen, Lederpolstern, dickgespachtelten Ölbildern. Die Tür zum Nebenzimmer war geschlossen, aber durch das Milchglas sah man Licht durchschimmern. Hinter dieser Tür saßen die beiden Schwestern. Er hörte das Mädchen die Bestellung machen. Ein Flüstern folgte. Sabine kam herein. Durch den Türspalt sah er einen Augenblick Karla auf einem Stuhl sitzen. Sie starrte zu ihm herüber. Die sich schließende Tür wischte das Bild fort.

Sabine sah ihn fragend an. Vor wenigen Stunden erst hatten sie sich getrennt. Sie wunderten sich beide, wie vertraut ihr Anblick ihren Augen noch war.

»Was wünschen Sie, Herr von Scheeven?« Ihre Stimme klang trotz des Ernstes freundlicher, als er erwartet hatte.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich hatte nur das Gefühl, hierher zu müssen. Ich wußte auch nicht, daß Sie hier sind.«

»Haben Sie meiner Schwester etwas Besonderes mitzuteilen?«

»Nein, eigentlich nicht.« Seine Worte verwirrten sich. »Ich war bei Holten. Sie wissen schon. Holten sagte mir auch, daß Sie ihn danach telefonisch gesprochen haben.«

»So kennen Sie auch meine Meinung über den Fall?«

»Ja«, sagte er. »Sie halten Stüwe für unschuldig und glauben, daß ich Ihren Vater erschossen habe.«

»Sie wissen, daß ich es seit heute, seit unserm Zusammensein in Swantemühl, glaube. Übrigens hat mir Herr van Holten kurz angedeutet, was Sie ihm erzählt haben. Meiner Meinung nach ist das so gut wie ein Eingeständnis.«

»Nein, ich habe die Wahrheit gesagt, die volle Wahrheit. Es war alles so, wie ich es gesagt habe. Stüwe hat gestanden!«

Sie zuckte die Achseln. »Es ist fast unmöglich, daß Stüwe es getan hat. Er hat sich in der Nähe von Swantemühl herumgetrieben, um die Nacht unter dem Fenster von Frau Abercron zuzubringen. Diese Frau kann Männer in Primaner verwandeln. Das hat sie vor Circe voraus. Er lauerte doch auch jetzt täglich in diesem dummen Lokal auf ihren Anblick. Meine Schwester will mir einreden, daß Stüwe ihretwegen diese nächtlichen Fahrten gemacht hatte. Das ist natürlich Unsinn. Stüwe ist Frau Abercrons wegen heimlich nach Swantemühl gekommen. Das halte ich für sicher. Aber es ist unmöglich, daß die beiden etwas Ernstliches miteinander gehabt haben. Karla oder ich hätten doch später etwas von einer Verbindung zwischen ihm und dieser Frau bemerken müssen. Meine Schwester hat in dieser Wohnung niemals etwas davon bemerkt, und ich nicht in seinem Atelier, in dem ich doch ein und aus ging. Niemals war von dieser Frau die Rede, bis sie vor einigen Monaten in Berlin auftauchte. Erst da begann es wieder mit Stüwe. Wir haben alles mitgemacht. Es ist eine Besessenheit, die wir uns nicht erklären können.«

»Aber diese Besessenheit erklärt die Tat!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube es nicht. Aber es ist besser, wenn Sie jetzt gehen, Herr von Scheeven. Und das beste für alle Teile wird sein, wenn wir uns niemals wiedersehen.«

Er nickte. Natürlich war es das beste, wenn sie sich nie mehr wiedersahen. Ihr Gesicht war eisern. Ihre Augen, diese großen klugen Augen sahen ausdruckslos über ihn hinweg.

»Ja«, sagte er, »ich gehe. Leben Sie wohl!«

»Ich wünsche Ihnen das auch.«

Er ging hinaus. In der Tür sah er, daß sie ihm nachblickte. Er bewunderte sie, wie stark sie war. Die Schwestern Blankenhorn hatten Unglück in ihrer Liebe.


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