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20

Noch immer zuckte der Lichtschein der Weltstadt über dem Rand des Hauses. Noch immer quoll die Musik des Festes süß und samten aus den dunklen Steinen. An dem Gittertor stand der Diener. Er gab ihm Geld und mußte merkwürdigerweise daran denken, daß Dorette ihm die geborgte Summe nicht zurückerstattet hatte. Er scheuchte die lästigen Gedanken fort, aber ihm fehlten nun einige zwanzig Mark für die Fahrkarte nach Ostpreußen. Wenn er an Engelke depeschierte, hatte er morgen vormittag das Geld. Am Sonnabend früh konnte er dann in Königsberg eintreffen.

In der Nähe mußte ein Telegrafenamt sein. Er besann sich, dort einmal vor Jahren eine Depesche aufgegeben zu haben. Er ging durch die nächtlich stillen Straßen. Wieder war es wie ein Stapfen durch zeitlose Ewigkeit. Von der Potsdamer Straße her kam der Lärm des Verkehrs. Als er um die Ecke bog, sah er fern über die Brücke die hohen Rücken der aufgestockten Autobusse vorübergleiten. Die Tramwagen klingelten, die Bremse eines Autos schrie auf. Noch immer hatte er Scheu davor, nach der Uhr zu sehen. Ihm war, als ob eine genaue Zeitangabe ihn aus dem dämmerhaften Zustand herausreißen konnte. Er gab an einem Schalter ein Telegramm auf. »Schicke Geld! Samstag früh Königsberg!« Was nun?

In einem Hinterhaus der Kantstraße lag ein kleines dunkles Zimmer. Eine kleine Bronzefigur stand auf dem Tisch. Zwei Jahre hatte er dort gehaust und auf Dorette gewartet. Auf einmal ergriff ihn die Angst vor diesem Raum. Er sah die Tapete mit der ewig wiederkehrenden Blume vor sich. Das Dach des Vorderhauses, das quer durch sein Fenster schnitt. Nur nicht dorthin jetzt! Einige Autotaxen standen an der Ecke. »Vitrine!« sagte er und gab die Adresse an. Zehn Minuten später hielt er in der Seitenstraße des Kurfürstendammviertels. Die roten Buchstaben leuchteten dunkel aus dem Glas der verhängten Scheibe. Er drückte die Klinke hinunter. Eigentlich war es dumm, hier einzutreten. Aber was sollte er anfangen? In einer Ecke sitzen und Liköre trinken, bis dieses Bewußtsein verschwand, das ihm den Kopf durchstach! »Weil ich dich gern hatte!« hatte Dorette zu ihm gesagt. Daran konnte man denken, eine, zwei Stunden lang. Bis der Häkelhaken der alten Frau Feierabend gebot.

Er trat ein. Es war dasselbe Bild wie immer. Er legte Mantel und Hut ab. In der Ecke war ein Tisch frei. Er ging darauf zu. Plötzlich blieb er stehen. Vor ihm, drei Schritte von ihm entfernt, saß mit dem zerklüfteten Gesicht und den ausgebrannten Augen der Bildhauer, Professor Hans Stüwe, und sah ihn an. Dorettes schauderhaftes Lieblingsgetränk stand auf dem Tisch, die Sektflasche und die Kanne Bier.

»Mann des Abendfriedens!« redete Stüwe ihn an und winkte dem Kellner nach einem zweiten Glas. »Sie kommen zur rechten Stunde. Nehmen Sie Platz!«

Willenlos ließ Steegen sich auf dem zurechtgeschobenen Stuhl nieder. »Ich dachte ...« sagte er und wußte nicht, wie er weitersprechen sollte. Da saß Stüwe, der wegen Mordes verhaftet war und gestanden hatte.

»Man hat schon nach Ihnen gesucht. Mann des Abendfriedens. Wissen Sie, daß Sie verhaftet werden sollen? Vor einer Viertelstunde waren drei Kriminalbeamte hier und fahndeten nach Ihnen. Dies ist also im Augenblick für Sie der sicherste Platz in ganz Berlin, sämtliche Bahnhöfe mit eingerechnet!« Er schenkte ihm ein. »Trinken Sie! Erlaben Sie sich!«

»Ich verstehe nicht!« sagte Steeven. »Sie selbst waren verhaftet. Man erzählte mir, daß Sie eingestanden hätten, Blankenhorn mit seinem Jagdgewehr erschossen zu haben.«

»Ja, eingestanden schon. Aber ich kam nicht weit.« Er lachte auf. »Mir fehlten die Details, wissen Sie. Ich gab eine romantische Schilderung, wie ich mich in das Haus geschlichen hatte, dann in Blankenhorns Zimmer trat, den Drilling aus dem Gewehrschrank riß, den Unhold piffpaff niederknallte und aus dem Haus stürzte, um mich im Park zu verbergen.«

»Sie – Sie haben Blankenhorn nicht erschossen?«

»In Gedanken tausendmal, Verehrtester. Schon um Dorette aus diesem Käfig zu befreien. Nur das eine Mal, in Wirklichkeit, habe ich es versäumt. So etwas ist nämlich gar nicht so leicht auszuführen. Dazu bedarf es größerer Talente, des Ihrigen zum Beispiel. Man nahm mich in Kreuzverhör. Zunächst war dieser Drilling gar nicht im Gewehrschrank gewesen. Dann konnte ich nicht durch die Haustür entwischt sein, weil man sie nachher von innen verschlossen fand. Es nutzte nichts, daß ich dann schnell durch das Fenster entwischen wollte. Auch die Fensterläden waren von innen verschlossen. Nun sollte ich sogar angeben, wo ich bei dem Schuß gestanden hatte. Es war eine ganz falsche Stelle, um Blankenhorn in die Stirn zu treffen. Mir fehlten eben die Details. Der Mann hat keine Ahnung, sagte der Untersuchungsrichter, und der Rechtsanwalt van Holten stimmte ihm bei. Und so wurde ich aus dem Tempel der Gerechtigkeit als unnützer Querulant vertrieben.«

»Und weshalb haben Sie ...«

»Ah, mein Lieber, Sie sehen mich hier schon wieder einigermaßen durch den nötigen Alkohol ins Gleichgewicht gebracht. Aber ich war ganz aus dem Gleichgewicht gekommen. Dorette hatte geheiratet, was wider Erwarten einige Tobsucht bei mir auslöste. Ganz unmotiviert freilich, denn was haben Hochzeiten mit Dorette zu tun!«

»Bitte, Herr Professor, erzählen Sie! Und in vernünftiger Reihenfolge!«

»Tue ich ja, mein Bester! Kurzum ich saß hier und klagte das Schicksal an. Ich hatte ein wenig zu früh mit meinem Tagespensum begonnen. Mein Tagespensum ist: hier sitzen und an Dorette denken, wissen Sie. Auf einmal kamen drei Herren herein und baten mich, sie zu begleiten. Das war ein Sprungbrett, das mir das Schicksal unter die Beine schob. Ich sollte Blankenhorn erschossen haben. Ich sollte ein Liebesverhältnis mit Dorette gehabt haben. Ja, mein Verehrtester, würden Sie ein solches Ansinnen etwa abweisen? Ein Liebesverhältnis mit Dorette! Ich konnte einem geduldigen Richter zwei Stunden lang erzählen, was alles sich mit Dorette und mir zugetragen hatte. Das war doch fast schon, als wenn es wirklich gewesen wäre. Verstehen Sie, was das heißt? Zwei Stunden lang erzählen dürfen, wie man Dorette in der Fliederlaube umgarnte und ihr die ersten Küsse gab. Dann einsame Spaziergänge, Stelldicheins im Wald, und dann die Nächte im Park. Eine Klimax von verstohlenen Zärtlichkeiten bis zur taumelnden Seligkeit!«

»Und deshalb haben Sie gestanden, Blankenhorn erschossen zu haben?«

»Ja, mein Bester, deshalb! Es war eine kleine Korrektur des Daseins. Eine wenn auch geringe Möglichkeit, das nachträglich erlebt zu haben, was man für sein Leben gern erlebt hätte. Verstehen Sie das nicht? Für mein Leben gern! Das war der Einsatz: mein Leben! Wenn ich mein Leben hinwarf, dann war das alles Wahrheit gewesen. Dann war ich Dorettes Liebhaber. Dorette selbst konnte nicht glaubhaft widersprechen. Es war eine simple Manier für sie, aus der Patsche zu kommen. Sie brauchte nichts mit der Ermordung ihres seligen Gatten zu tun haben. Ich hatte es getan, ohne ihre Beihilfe, ohne ihr ein Sterbenswörtchen zu sagen. Sie brauchte nur nicht allzu sehr zu widersprechen, daß sie meine Geliebte gewesen war!«

»Und es war nichts davon wahr?«

Der Bildhauer lachte dröhnend auf. »Mit Dorette? Nein, mein Lieber, nie das Geringste! Es lag nicht an mir, weiß Gott. Ich habe sie verfolgt mit allen Pferdekräften meines Motorrades. Ich habe sie mit hundert Listen zu sinnlosen Unterredungen verlockt. Es war nie das Geringste zwischen uns.«

»Sie sind verrückt!«

»Ja, Verehrtester, denken Sie etwa, daß man mit einem nüchternen Verstand, wie Sie ihn haben, meine Arbeit verrichten kann? Verzeihen Sie, daß ich mich in Ihre Gefilde gedrängt habe. Ich bin mit Schimpf und Schande fortgejagt worden. Jetzt kommen Sie an die Reihe. Wie ich sah, hat Frau Grippsch, die ehrbare Leiterin dieses Kunstinstituts, bereits ferngesprochen. Die Häscher sind unterwegs. In fünf Minuten werden sie eintreten. Ich spreche die Vermutung aus, daß Sie nicht an den fehlenden Details scheitern werden. Sie werden angeben können, wo sich der Drilling befand und wie man durch verschlossene Türen und Fenster gelangen kann. Ich beneide Sie.«

Plötzlich griff es Steegen eiskalt ans Herz. Er sollte verhaftet werden! Jetzt war er wirklich umstellt. Während er hier saß, hatte man die Polizei benachrichtigt.

»Hören Sie mich an!« sagte er, und wunderte sich, daß seine Stimme einen keuchenden Klang hatte. »Ich bin es nicht, der Blankenhorn erschossen hat! Wahrhaftig, ich bin es nicht! Ich bin auch nicht Dorettes Geliebter gewesen! Nicht so, wie Sie es meinen.«

»Ihr Geliebter!« lachte der Professor auf. »So wie Dorette lieben kann, hat sie Sie geliebt. Wollen Sie nicht glauben, daß Sie der einzige gewesen sind, den Dorette je geliebt hat? Sie sind es, Verehrtester! Sie waren der Liebling der Damenwelt von Swantemühl. Ich habe eine gute Frau, eine wundervolle Frau von dort bezogen. Ich bin es nicht wert, diese Frau zu haben. Aber auch die bekam ich nur, weil der andre sie nicht beachtete. Der verwegene Ritter, der seiner Angebeteten heimlich nachgeschlichen war, in fremder Maskierung, unter falschem Namen. Verehrtester, wenn auch draußen die Handschellen schon klappern, so beneide ich Sie doch, und wenn ich nicht in Tränen ausbreche, so ist das nur die Kraft dieses enormen Gesöffs, die mir Haltung gibt. Ich beneide Sie und werde Sie beneiden in Ewigkeit. Amen!«

Die Tür tat sich auf. Eine größere Gesellschaft trat ein. Etwa zehn Personen in Abendtoilette. Steegen und Stüwe hatten gespannt hingesehen, wie der Vorhang auseinandergeschoben wurde. »Doch noch nicht!« sagte der Bildhauer und nahm einen Schluck. »So obliegt mir also noch für einige Minuten die Aufgabe, Sie zu unterhalten. Oder sollten Sie die Absicht haben, sich über Berlin ohne Zurücklassung einer Fährte zu zerstreuen, so würde es jetzt höchste Zeit werden!«

Die kleine Gesellschaft suchte nach einem geeigneten Platz. Es wurden drei Tische zusammengestellt. Die Herren waren den Damen beim Abnehmen der Mäntel behilflich. Man merkte, daß die Gesellschaft ein wenig derangiert war. Konfetti hatte sich in den Haaren verfangen. Die Reste von bunten Papierschlangen hingen in den Kleidern. Einige Gesichter wollten Steegen bekannt vorkommen. Plötzlich grüßte Dr. Will herüber, noch immer die weiße Geranie im Knopfloch des Fracks. Er war bleich. Steegens Augen suchten nach Susannchen. Er entdeckte sie nicht. Die Gäste hatten Platz genommen und bestellten Mokka. Vielleicht waren sie müde. Sie flüsterten nur. Ein großer dicker Mann schien mit gepreßter Stimme Erklärungen abzugeben, denen die andern zuhörten. Eine beklemmende Stimmung stieg von den drei Tischen auf. Steegen ging zu Dr. Will hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. Es war, als wenn er unter einem dunklen Zwang handelte.

»Kommen Sie von Abercron?« fragte er leise.

»Sie wissen noch nicht? Abercron hat sich vor einer halben Stunde erschossen!«

»Auf seiner Gesellschaft?«

»Ja, in dem kleinen roten Zimmer. Plötzlich gab es einen Knall, wir stürzten hin. Abercron hatte sich mit einem Revolver mitten in die Stirn geschossen. Es war eigentlich nur ein ganz kleines Loch, aus dem ein wenig Blut kam. Er war sofort tot.«

»Und Frau Blankenhorn?«

Dr. Will juckte die Achseln. »Frau Blankenhorn. Die junge Witwe ist trostlos. Es ist eine furchtbare Geschichte.« Verwandelte sich das Gesicht des jungen Mannes nicht in eine grinsende Grimasse, oder war es nur der Lichtschein, der über seine Züge fiel?

»Danke!« sagte Steegen und ging zu seinem Platz zurück.

Über dem Kelch des großen Glases hing das bleiche Gesicht des Bildhauers. Zwei Augen brannten unter der eckigen Stirn. »Abercron ist tot, nicht wahr?« sagte er. »Erzählen Sie mir nichts! Nur ja oder nein! Ist er tot?«

»Ja«, sagte Steegen. Sie schwiegen. Ihre Gedanken wanderten. Abercrons Tod schloß den Kreis. Sie bemerkten nicht, wie drei neue Herren leise das Lokal betraten. Der Vorderste suchte mit den Augen. Der Häkelhaken der Inhaberin wies auf Steegen.

»Sind Sie Herr von Scheeven?« fragte der Herr und zeigte seinen Polizeiausweis. »Folgen Sie mir bitte!«

»Ja«, sagte Steeven zum zweitenmal, erhob sich und zog seinen Mantel an. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, ging er hinaus.


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