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23

Er hob den Blick erst wieder, als die Tür ins Schloß fiel. Zu seinem Erstaunen brannte das Licht, das der Wärter um diese Zeit sonst nicht mehr anzuzünden pflegte. Man fing an, ihm die Haft zu erleichtern.

Er stand und streckte die Arme aus. Einmal würde er aus dieser Zelle heraustreten, frei, des Alpdrucks ledig! Er hatte Blankenhorn nicht erschossen! Er brauchte nicht mehr dies Bild vor sich zu haben: Visier und Korn des Gewehrs, das sich auf eine niedrige, gebuckelte Stirn richtete! Er würde wieder über Felder gehen und Pferde reiten, in freier Natur reiten, nicht nur im Tattersall oder im Labyrinth des Tiergartens. Wenn Engelke ihn noch nahm.

Er ließ die Arme sinken. Alles wird in den Zeitungen gestanden haben. Meine Liebe zu Dorette, meine Vorbereitungen zu dem Mord, mein Wiedersehen mit Dorette, der Selbstmord Abercrons, alles, alles! Wo die beiden auftauchten, so wird es in den Zeitungen gestanden haben, da folgte der Tod, in der einen oder der andern Gestalt. Mord oder Selbstmord. Wenn Engelke mich noch nimmt!

Plötzlich fiel sein Blick auf einen weißen Fleck, der halb unter der Kante des Lagers vorsah. Ein Stück Papier, dachte er und bückte sich. Es war ein Briefumschlag. Ein Brief an ihn? Er schob ihn vorsichtig in die Tasche. Nie wußte man, wann der Aufseher durch das Guckloch sah. Er ging langsam zum Tisch, holte die schwere Bibel aus der Schublade und setzte sich. Mit der Hand in der Tasche riß er den Umschlag auf, befühlte den glatten Bogen, legte ihn mit unauffälliger Bewegung in das heilige Buch. Wessen Handschrift würde er nun erblicken? Dorettes Handschrift!

»Rolf!« las er. »Jetzt wirst Du bald frei sein, und keine Schuld wird auf uns lasten. Zwei Jahre wagte ich nicht zu Dir so zu sein, wie ich wünschte. Aus Angst! Ich fürchtete, daß Du Blankenhorn erschossen hättest. Es war nie mein Wunsch, Rolf, daß Du es tätest. Du mußt mir glauben, daß das nie mein Wunsch gewesen ist. Als es aber geschehen war, schwieg ich von Deinen Reden und dem, was Du mir von den Vorbereitungen erzählt hattest. Aus Liebe zu Dir schwieg ich und habe mich damit schuldig gemacht. Aus Liebe zu Dir, das mußt Du mir auch glauben! Wenn ich damals gesprochen hätte, so wärst Du verurteilt worden. Heute wissen wir, daß es ein andrer getan hat, und alles ist gut. Ich ahne nicht, wer. Der, der mir die Briefe aus Swantemühl schickte!

Ich habe kein Glück in meinem Leben gehabt, Rolf. Blankenhorn – Abercron, Du weißt! Ich hätte mich nie von Dir trennen sollen, damals in München. Ist es zu spät, das wieder einzuholen? Wenn unsre Schuldlosigkeit feststeht, dann können wir gehen, wohin wir wollen. Paasche meint, daß man mir den kleinen Joachim fortnehmen wird und daß auch Swantemühl für mich verloren ist. Aber unser Freund Schwarzer hat für mich über hunderttausend Mark aus Abercrons Zusammenbruch gerettet. (Schon wegen dieses Satzes mußt Du diesen Brief sofort vollständig vernichten, hörst Du! Sofort und vollständig!) Mit diesem Geld können wir etwas anfangen. Nur weit weg müssen wir, wo uns niemand kennt. Willst Du mit mir in die weite Welt gehen? Dann lasse ich alles andre, und wir bleiben beisammen, wie wir immer hätten beisammen bleiben sollen, seit wir uns kennen!

Willst Du? Dann sage es mir, sobald wir uns wiedersehen, in Tagen oder in Wochen! Wenn Du willst.

Deine
Dorette.«

Steegen las den Brief viele Male hintereinander. Es war ihm, als müßte er alle Stimmen in sich zurückdrängen, um jedes Wort zu erfassen. Dann stellte er sich kurz entschlossen mit dem Rücken gegen die Tür, so daß er das Guckloch verdeckte. Nur in diesem Augenblick nicht! betete er. Er riß den Bogen in kleine Fetzen. Die Stelle über Schwarzer knüllte er mit einer raschen Bewegung zusammen, steckte das Kügelchen in den Mund und schlang es hinunter. Um alles in der Welt nicht sollte Dorette aus diesem Brief ein Nachteil erwachsen!

Er zerriß und zerriß. Die kleinsten Stücke wurden noch einmal mit den Fingernägeln zerquetscht. Endlich hatte er nur noch kleine Schnitzel in der Tasche. Sie nahmen kaum Platz ein. Niemand würde sie je wieder zusammensetzen können. Er atmete tief auf und ließ sich von neuem an dem Tisch nieder. Die Bibel lag noch aufgeschlagen da. Seine Blicke fielen auf die großen ausgebreiteten Seiten. Er las halb in Gedanken: »Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und welches ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.« Es war eine Stelle aus dem Römerbrief. Einen Augenblick dachte er nach. Er fühlte Dorettes zermalmten Brief in der Tasche und ließ den gelesenen Satz in seiner harten Erbarmungslosigkeit auf sich einhämmern. Dem andern bin ich nicht gnädig, und des andern erbarme ich mich nicht! sprang ihm der Sinn entgegen.

Er schlug das Buch zu und legte es in die Lade zurück. Erst jetzt empfing er ihren Brief, ließ ihn sich Satz für Satz durch den Kopf gehen. »Dann können wir gehen, wohin wir wollen!« Mit Dorette in die weite Welt, ein neues Leben beginnen, ohne Schuldgefühl und ohne Angst! »Wenn Du willst. Deine Dorette!« sprachen seine Lippen leise nach. Alle Sätze dieses Briefes klangen in ihm, mit Dorettes Stimme gesprochen. »Aus Liebe zu Dir schwieg ich!« klang es. »Ich habe kein Glück in meinem Leben gehabt, Rolf!« klang es, und dann kam es wie aus dem heiligen Buch in der Schublade hervorgekrochen, sich in die Sätze des Briefes mischend: Welches ich mich nicht erbarme, dessen erbarme ich mich nicht! Und noch einmal: »Ich habe kein Glück in meinem Leben gehabt!«

Plötzlich ließ er den Kopf auf den Tisch sinken und weinte. Seit Jahren hatte er nicht mehr geweint. Er fühlte die warmen Tränen zwischen seinen Fingern quellen. War es vor Glück, daß Dorette ihn liebte, oder vor unsäglicher Angst, daß eine fremde Kraft erbarmungslos über ihrem Leben schaltete?

»Was haben Sie?« fragte der Aufseher, der das Essen brachte. »Ihre Sache soll doch sehr gut stehen!«


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