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31

Es vergingen nicht viele Tage, da verbreitete sich das Gerücht in der Stadt, daß Oliver nicht bloß ein Bein habe, sondern daß er auch noch auf ganz besondere Weise marode sei, daß er ein ärztliches Zeugnis habe, demnach seine Kinder nicht seine eigenen seien. Was blieb dann noch von ihm übrig? Das Gerücht erreichte auch Olivers eigene Ohren, und zwar durch den Schreiner Mattis.

Das auch noch, diese Schmach zu allem andern hin auch noch! Wie war das so still bewahrte Geheimnis enthüllt worden? Kann irgendein Geheimnis bewahrt werden? Durch die Wände sickert es heraus, die Pflastersteine reden davon, alles Stumme bekommt eine laute Stimme, ein junger Handelsmann wirft es vielleicht als einen guten Witz den Menschen lachend hin.

Der Schreiner Mattis grämt sich augenblicklich darüber, daß er einen unschuldigen Mann wegen Maren Salts Kind im Verdacht gehabt hat, er ist sehr aufrichtig und sehr ungeschickt, er will sein Unrecht wieder gutmachen und paßt deshalb Oliver auf der Straße ab, begrüßt ihn und streckt ihm die Hand hin. Es ist ein unglaubliches Zusammentreffen, das die beiden Männer einander gegenüberstellt, Oliver versteht gar nichts.

Ja, sagt Mattis, ich hab dich nur einmal begrüßen wollen. Und daß du es entschuldigen sollst, wie ich gegen dich gewesen bin! Er spricht so vorsichtig wie möglich und bringt es auch wirklich so weit, sich Oliver gegenüber, der keinen Unrat merkt, eine Weile vollkommen unverständlich zu machen. O, dieser Schreiner Mattis, da steht er, ein sonderbarer Kauz, ein komischer Prachtmensch, er sieht davon ab, daß Oliver ihm unrecht getan hat, ihn um zwei Türen betrogen, ihn um einen goldenen Ring, ja gewissermaßen um Petra selbst geprellt hat, er ist nur darauf versessen, sich zu entschuldigen, er habe keine Ruhe mehr gehabt, seit er gehört habe, wie Oliver sei –

Wie ich sei?

Ja, daß du so marode und so operiert bist.

Oliver starrt ihn an, und schließlich sagt er: So, das weißt du?

Warum sollte Mattis es nicht wissen! Die Stadt redete davon, Maren Salt hatte es gestern vom Brunnen mit heimgebracht, und es wurde, mit Einzelheiten und Zusätzen ausgeschmückt, weiter verbreitet; es war nicht so besonders traurig, es war auch etwas komisch, ja urkomisch. Und dann die Petra, die ihre Kinder selber machte, das brachten nicht alle Frauenzimmer fertig, hihi!

Mattis geht nicht gerade scharf auf dieses ein, aber er bezeugt Mitleid mit dem Verstümmelten und läßt einige Worte darüber fallen, wie schwer das Leben ihn doch mitgenommen habe, ja, das sei sehr traurig. Oder ob am Ende alles rump und stump erlogen sei?

Oliver stand vor ihm mit gesenktem Kopf, er war im Augenblick ganz verwirrt und wußte wohl nicht recht, ob er seinen Fall leugnen oder eingestehen solle. Er gab nach, ließ alle Keckheit fallen und sagte: Nein, es ist nicht gelogen.

Bei dieser Antwort schien sich der Schreiner plötzlich erleichtert zu fühlen, ja, wie wenn vor ihm plötzlich ein Hindernis aus dem Wege geräumt worden wäre, was es nun auch immer sein mochte. Dachte er in diesem Augenblick an eine Sache, die ihn nur ganz allein anging? Dann sagte er zu Oliver: Ja ja, du Armer, wenn du so unglücklich gewesen bist! Aber nun will ich dir etwas sagen: keiner von uns weiß, wie es ihm selbst noch gehen kann, wir stehen alle in der Hand des Schicksals. Denk dir, bei uns hat das Kind eines Tages die Zündhölzer erwischt und damit die Hobelspäne in der Werkstatt angezündet! Es hätte verbrennen können.

Mattis schwatzt, er tröstet Oliver, sagt du Armer zu ihm und tut, was er kann. Und um von dem einen aufs andere zu kommen, fährt er fort, so solle er jetzt für Abel eine Bettlade machen. Dieser sei heute morgen bei ihm gewesen und habe sie bestellt; in vierzehn Tagen müsse er sie haben.

Ach so, sagt Oliver, für Abel?

Ja, für Abel. Er wolle sich verändern. Es sei höchst merkwürdig, wie schnell die Jugend jetzt heranwachse und ehe man sich's versehe, selbständig werde. Was man dazu sagen solle? Aber abgesehen davon, so seien die Menschen in höheren Jahren ebensogut in der Hand des Schicksals. So sprach Mattis, ja, er drosch die ganze Zeit leeres Stroh.

Als Oliver nichts erwidert, sagt Mattis gerade heraus: Ich will mich jetzt auch verändern, mit Respekt zu vermelden.

Oliver hat das Talent, seine eigenen Angelegenheiten zu vergessen und auf die der andern zu hören, deshalb fragt er überrascht: Du?

Ja, du magst wohl fragen! Aber jetzt ist es sicher, der Schreiner nickt bekräftigend. Maren will den Jungen nicht hergeben, und ich Esel habe mich nun ein wenig an ihn gewöhnt; aber wenn ein Kind die Hobelspäne in der Werkstatt anzündet, dann verbrennt es, das wissen wir alle. Und da krabbelt er die ganze Zeit um mich herum, und am Sonntag nimmt er mich bei der Hand und will mit mir spazieren gehen. Er ist ein merkwürdiger kleiner Kerl. Es ist jedoch nicht so, daß ich ihn nicht entbehren könnte, aber Maren will ihn auch nicht hergeben.

Wieder eine lange Litanei, schließlich fragt Oliver: Dann nimmst du also die Maren?

Was soll ich tun? versetzt der Schreiner. Ja, es ist die Maren.

Aber wie merkwürdig, als der Schreiner Mattis schließlich weitergeht, scheint es ihm gar nicht mehr so schrecklich vorzukommen, daß er die Maren zu heiraten gedenkt, es ist im Gegenteil, als eile es ihm, heimzukommen. Es ist ihm vielleicht eine Last abgenommen worden, ein Druck von seiner Seele, Gott weiß es. Hatte es vielleicht dem Schreiner über das Schlimmste hinweggeholfen, daß Oliver jedenfalls mit Maren und ihrem Jungen nichts zu tun hatte? Wer nun auch der Vater sein mochte, Oliver war es jedenfalls nicht.

Und dort wandert auch der Krüppel heimwärts. Natürlich gibt es niemand, der sich nicht von ihm zurückgezogen hätte, der sich nicht vor ihm versteckt hätte, er ist ja so verstümmelt, so merkwürdig zugerichtet, er ist den Menschen widerlich. Kann er erwarten, irgend jemand werde ihn gutwillig ansehen? Sein wabbeliges Fett ist furchtbar, sein Wesen abstoßend, seine Sprünge auf der Straße unerträglich. Selbst als Tier, als Vierfüßler ist er unvollkommen, und er ist nur ein Krüppel, er ist ein ausgehöhlter Krüppel, ist leer. Einmal war er ein Mensch.

Da hinkt er daher. Sogar der Schreiner Mattis ist von ihm fortgegangen.

Da er den Weg am Doktor vorbei nimmt, hat er vielleicht diesen im Verdacht, sein Geheimnis verraten zu haben, und will Rechenschaft von ihm fordern. Kann Oliver noch von jemand Rechenschaft heischen? Das ist vorbei. Er sieht den Doktor am Fenster seines Sprechzimmers stehen und macht, daß er weiterkommt; vielleicht ist ihm auch klar geworden, daß er auf falscher Fährte ist. Er geht vorbei, die ganze Straße hinunter, der Doktor steht an seinem Fenster und folgt ihm mit den Augen. Oliver ist eine Erscheinung, ein Problem, der Doktor macht sich seine Gedanken über ihn und schätzt ihn auf seine eigene Weise ein. Dieser Hinkebein hat etwas durchgemacht, ein Wirbelsturm hat ihn erfaßt, der Blitz hat ihn getroffen, er ist vernichtet. Der Volkswitz hat ihn einmal die Qualle genannt, ein Spitzname, den seine eigene lustige Frau aufgebracht haben soll. Der Doktor fand diesen Spitznamen dumm. Die Qualle ist nicht vernichtet. Die Qualle, das ist wie eine Entleerung, ist Schleim, jawohl, sie ist ohne Umriß, ohne Haltung, jawohl. Aber es ist als Schleim ein farbenreiches Wunder, ein abenteuerliches Spiegelei. Was ist Oliver? Er hüpft auf dem Boden herum, er ist ein Kuriosum, ein Rebus. Was seinen Gliedern fehlt, kann jeder sehen, dort hinkt er dahin, er ist nicht einmal körperlich anwesend, nur ein Teil von ihm hinkt dort die Straße hinab; was ihm sonst noch fehlt, hat jetzt des Doktors Magd am Brunnen erfahren. Eines Tages wurde er von dem gemeinsamen Lebensinhalt der Menschen losgelöst, es geschah in Bausch und Bogen, mit einem Messerschnitt, von diesem Tag an hat er außerhalb der Menschheit gestanden, er verlor seine Wirklichkeit, er wurde eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Sind das zu starke Worte? Wieso – ist er nicht vernichtet? Bitte, untersucht ihn noch einmal, es ist eine ungewöhnliche Fehlerlosigkeit in seiner Leerheit, diese ist besonders vollkommen, das Unglück hat sie potenziert, hat den früheren Matrosen zu etwas gemacht, was nichts ist. Er ging unter, sein Untergang ist ein Meisterwerk, er ist unerhört gut bewerkstelligt und mit Absicht ausgeführt.

Wartet ein wenig! Da er lebt, ist er doch nicht ganz ausgelöscht, er ist ein Rest, der sich mit einem Stelzfuß und einer Krücke ausspreizt; man kann mit ihm eine Rune bilden, einen hebräischen Buchstaben. Warum hat ihn der Tod verschont? Fragt die menschliche Vorsehung! Was war ihre Absicht dabei? Sollte dieser Mann nur ein mißglückter Versuch sein, ein Entwurf zur Vernichtung? Er ist ein Rest, dieser Rest hat Reste, kommt und holet sie, ein Bein ist ihm noch geblieben, er kann sprechen –

Einmal war er ein Mensch.

Es ist ihm noch soviel gelassen worden, daß er die ganze Zeit über den Mut hatte, das Leben weiterzuschleppen. Gut gemacht! Er hat Kunstgriffe gebraucht, um das zu leisten, er log, um den Schein zu retten, gab sich fälschlicherweise als Mann aus, trug lange Hosen. Um einen Mangel zu verbergen, erfand er die Prahlerei mit der Trantonne, er kleidete den Fall in eine erhabene Würde und nannte ihn Schicksal. Er hatte seine Ehre zu retten durch einen Betrug; wenn er dafür gelten wollte, daß er sei wie andere seien, daß er mit dem gleichen Maßstab zu messen sei wie sie, dann mußte der arme Tropf seinen eigenen Maßstab anlegen und sich selbst überreden, daran zu glauben. Vielleicht fand er dabei sein bescheidenes Glück, jedenfalls hatte er kein anderes. War es also lauter Kunst? Nichts als Kunst. Aber kein schlechtes Kunstwerk.

Jetzt ist alles an den Tag gekommen, das Kunstwerk ist als solches aufgedeckt, der Künstler entschleiert, die Magd des Doktors hat die unaussprechlichsten Dinge am Brunnen gehört. Petra sei vom Mond besucht worden und habe davon Kinder bekommen, hihi! Aber Oliver selbst sei der Hausherr gewesen; seit zwanzig Jahren habe er angesichts aller in einem Lagerhaus gestanden und habe den Menschen gespielt. Eine Behandlung, wie sie diesem Oliver zuteil geworden ist, hätte jeden andern dazu gebracht, in sich zu gehen, die Einsamkeit zu suchen, Gott zu suchen, wozu wären denn sonst die Züchtigungen da? – Aber Oliver? Nein. Das mußte Verstockung sein. Die Frau Doktor brachte den Klatsch vom Brunnen zu ihrem Manne hinein. Der Doktor sagte: Das ist witzig, können die Menschen seinen Mangel an Gottergebenheit jetzt, da er vernichtet ist, nicht begreifen? Hat er sich nicht mit Gott abgegeben? Sollte es ihn vielleicht nicht Anstrengung kosten, sich mit den Maßnahmen der höheren Macht einverstanden zu erklären?

Da steht nun der Doktor und folgt dem Krüppel mit den Augen, er redet vor sich hin und findet wieder Worte für seine kecke Jugend, seine Lebensauffassung hat keine Veränderung erlitten: Ein Orientale in Fett und Unfruchtbarkeit. Aber war er das wenigstens? Er ist unbekannt in der Biologie, ein Tier mit hölzernen Gliedern. Was hat es übrigens geholfen, daß er so zugerichtet worden ist? Er wurde ja groß dadurch. Invalide, jawohl, aber Veteran. Die ganze Zeit hat er aufrecht dagestanden, auf seinem einen Bein, auf seinem Holzpfahl, und wurde nichts Geringeres als ein Säulenheiliger. Hoho! Diese Vorsehung der Menschen!

Dann verschwindet Oliver ganz oben an der Straße.

Oliver geht heim. Petra ist nichts Ungewöhnliches anzumerken, aber sie weiß gewiß alles. Da ihr Ton nicht anders ist als sonst, erwachen seine Lebensgeister aufs neue, er merkt, daß er hungrig und gut aufgelegt ist, er sieht ein Gericht auf dem Tisch stehen, das vielleicht nicht für ihn bestimmt ist, aber es spricht vieles zu seiner Entschuldigung, wenn er sich eilig darüber hermacht. Es ist kalte Grütze. Um Vorwürfen von Petras Seite vorzubeugen, erzählt er ohne alle Umschweife: Nun will sich Mattis wirklich endlich verändern.

Petra merkt seine List wohl und gibt nicht auf einmal nach, sie sagt: Was, du ißt ja die ganze Grütze auf. Das muß ich sagen!

Schweigen.

Im übrigen ist ja Olivers Neuigkeit sehr groß und merkwürdig, und Petra fragt: Hast du den Mattis selbst gesprochen?

Ja.

Wen will er nehmen?

Oliver schweigt eine Weile, dann antwortet er: Wen er nehmen will? und schweigt wieder.

Na ja, das geht mich ja nichts an, sagt Petra und kommt dann auf die Grütze zurück: Jetzt ist die Schüssel leer, was sollen wir nun zu Abend essen?

Er will die Maren nehmen, sagt Oliver jetzt.

Petra braucht eine Weile, bis sie es glauben, bis sie es fassen kann, sie wird ganz komisch eifersüchtig und lästert über Maren, spuckt über Maren aus: Ein Weib in Methusalems Alter, eine Magd mit einem Kind! O, es war ein Glück für Oliver, daß er mit dieser Neuigkeit heimkommen konnte, sie zog die Aufmerksamkeit der Frau von allem andern ab, seine eigenen Widerwärtigkeiten traten in den Hintergrund.

Und es war nicht das einzige Mal, daß seine eigenen Angelegenheiten in den Hintergrund traten, in Tagen und Wochen wurde er nicht zur Rede gestellt. Wie Vorsehung und höhere Lenkung deuchte es Oliver: so oft er fürchten mußte, nun komme seine Schmach zur Verhandlung, kam irgend etwas, das ihm aus der Klemme half. Das erste war: Abel verheiratete sich. Nicht mehr und nicht weniger, Abel heiratete. Das war ein großes, ernstes Ereignis, von dem das ganze Haus Oliver vollständig hingenommen war.

Ja, Abel heiratete nun wirklich.

Er bekam zwar nicht gerade das Mädchen, das er gewollt hatte, sondern ein Mädchen von auswärts, ein großes, freundliches Mädchen, Lovise, die Tochter eines Hofbauern. Sie war in seinem Alter, es wurde ein junges Ehepaar, aber beide hatten gute Arme und eine kräftige, breite Brust. Abel hätte schlimmer fahren können, dieser Ausbund, dieser sorglose Geselle! Die ganze Zeit her hatte er nun vom Heiraten gesprochen, und an dem Tage, an dem der Vater ihm mitteilte, daß er brotlos geworden sei, beschloß er zu handeln. Er setzte seinen Vater aufs äußerste in Erstaunen, aber diesmal war es gewiß der ganz richtige Einfall.

Der Ring schmückte schließlich nicht die Hand, für die er gemacht worden war. Nein, Klein-Lydia wollte den Ring nicht nehmen, als Abel damit ankam, sie habe sich selbst einen Ring gekauft, einen mit einem roten Stein, einen glatten Ring wolle sie nicht tragen.

Was fehlt dem Ring? fragte Abel. Ich habe ihn selbst gemacht, und ich glaube nicht, daß er entzwei geht.

Ach nein, sie danke ihm, aber sie wolle ihn nicht haben; die Leute könnten sonst meinen, sie sei verlobt. Im übrigen hatte Klein-Lydia im Augenblick gar keine Zeit übrig, sie sollte zum Polizei-Carlsen und Klavier üben; sie ging etwas hastig im Zimmer umher, blieb dann vor dem Spiegel stehen und war recht geputzt. Ihre Stiefelabsätze waren herrlich hoch, ja, wie von einem Architekten gebaut.

Abel sprach für sich, wie das so seine Art war, vielleicht etwas ängstlicher und schüchterner als sonst, natürlich schwatzte er auch und wechselte mit Ernst und Scherz ab. Was sie nun meine, nun seien sie beide alt genug, und er habe die Schmiede, jetzt möchte er es gerne wissen.

Wissen, was denn? Sie verstand ihn nicht, durchaus nicht, Abel erklärte sich, und das war nun seine Art und Seidenfeinheit, daß er keine großen Umschweife machte.

Klein-Lydia bat ihn aufzuhören, sie habe es gut daheim und wolle sich nicht verändern, sie nähe für das Modegeschäft.

Jawohl. Aber Abel sagte, er wolle jetzt einen endgültigen Bescheid haben. Er habe einen Dampfhammer, habe sich verschiedenes fürs Haus angeschafft, sie sollten im Altenbau in seinem Elternhaus wohnen, Mattis habe das Bett angefertigt.

Da schien es wahrhaftig, als sei es Klein-Lydia zu viel geworden, ja, als knicke sie etwas zusammen über all das, was sie hörte, sie neigte sich vor und sah ihn an.

Siehst du mich an? fragte Abel.

Ja, antwortete sie, ich begreife nicht, daß du so etwas denken kannst! Daß du glaubst, ich wollte das!

Sie redeten hin und her, sie sagte, sie müsse fast über ihn lachen. Schließlich redete sie im Ernst, er bekam sehr deutliche Antworten, und es konnte nicht vermieden werden, daß sie sogar Anspielungen machte, was für eine Art Vater und Mutter er habe.

Nun war also keine Hoffnung mehr für ihn, und so schwieg er.

Da Klein-Lydia aber kein herzloses Mädchen war, sondern ein Mädchen wie alle andern, fing sie nun unverfänglich an, von anderen Dingen zu reden: ihr Bruder Edevart sei jetzt auf dem Heimweg, er habe von Boston geschrieben. Darauf gab Abel eine höfliche Erwiderung und schwieg dann wieder. Ja, tat sie dann kund, jetzt sei sie fertig und müsse gehen. Abel stand auf und ging nach der Tür; um nicht vollständig zerschmettert zu erscheinen, versuchte er es sogar noch einmal mit einem Scherz und sagte: Ja ja, ich kann ja später wiederkommen!

Aber er kam nicht wieder.

Er wanderte auf der Landstraße dahin, der Leichtfüßigste der Stadt ging einen schweren Gang. Er wanderte wohl so dahin, um sich etwas von seinem Schmerz und seinem Jammer wegzulaufen, nun ging er schneller, lief immer mehr wie unter einem Druck, als entginge ihm eine Erbschaft, wenn er sich nicht beeilte. O, er war wohl auch etwas gekränkt, etwas wütend.

Jetzt stand er vor einem Hof am Wege. An diesen Hof knüpfte sich für Abel eine Kindheitserinnerung: hier hätte er einmal als kleines Eichhörnchen gerne eine Jacke weggeschmuggelt, die an einem Seil hing, hatte dann um etwas zu essen gebeten, aber nichts bekommen, schließlich hatte er gesagt, er möchte eine Tasse Kaffee kaufen, aber auch das war ihm verweigert worden unter dem Vorwand, er sei noch zu klein. Armes Eichhörnchen! Aber bei dieser Gelegenheit hatte er sich gelobt, wieder zu diesen schändlichen Leuten zu kommen, wenn er groß geworden sei. Jetzt kam er.

Ein Mädchen steht auf dem Hofplatz; er kennt sie einigermaßen, hat sie ab und zu in der Stadt gesehen und ihr zugenickt, und jetzt erkennt auch sie ihn, das kann er deutlich sehen, sie macht sich etwas zu eifrig am Schleifstein zu schaffen, sie errötet. Lovise heißt sie. Natürlich ist es nicht ganz zufällig, daß Abel jetzt vor ihr steht, nur wenige Dinge geschehen ganz zufällig, er steht hier, weil er anderswo verschmäht worden ist, im Trotz ist er hierher gelaufen.

Und die junge Lovise ist vielleicht auch nicht ganz zufällig in diesem Augenblick aus dem Hause getreten, jedenfalls kann sie unmöglich meinen, sie müsse den Schleifstein so ganz genau untersuchen. Sie kommen ins Gespräch miteinander, und da Abel wiederum keine großen Umschweife macht, sagt er allerlei. Sie erwiderte nicht viel, eine schöne Unsicherheit lag über ihrem Wesen, und um ihren Mund spielten viele kleine Lachgeister. Bei diesem ersten Male machten sie dies und jenes aus, beim zweiten Male mehr, beim dritten Male alles. Abel eilte es gewaltig, seinen Ring anzubringen.

Nun könnte man ja meinen, Abel habe gleich von Anfang an eine gefährlich große Familie bekommen: Frau, Eltern, zwei Schwestern und die Großmutter, in den ersten Wochen nach der Hochzeit war es wohl auch ziemlich schwierig; aber Abel und der Dampfhammer arbeiteten gut, außerdem half der Vater in der Schmiede, er hatte den mächtigsten Oberkörper und war besonders gewandt beim Feilen, wie eine Maschine konnte er feilen. Es ging ganz gut. Dazu kam noch, daß die Blaumeise das Haus verließ, da gab es einen Mund weniger zu versorgen. Seht dieses kleine Wesen, die Blaumeise, da zog sie mit dem Zeichenstift in ein eigenes, behagliches Haus auf dem Hügel und hinterließ Abel, den komischen Kauz, einen ganzen Tag heimlich weinend. Um ihn zu trösten, sagte der Vater: Ja ja, ihr seid gute Kinder gegeneinander gewesen. Und was für Kinder ihr alle miteinander geworden seid! – Es hätte doch keine solche Eile gehabt, erwiderte Abel.

Es sollte mit der einen Schwester nicht genug sein. Abel hatte nur noch eine, die Braune, die mit den Familienaugen und dem ovalen Gesicht. Sie hätte wohl noch eine Weile so bleiben können, wie sie war, meinte Abel, aber das strandete an Edevart; Edevart kam heim und holte sie. Der Matrose war nun so viele Jahre lang fort gewesen, als ein erwachsener breitschultriger Mann kehrte er heim und holte sich die Braune.

Es wurde übrigens ein kleiner Roman daraus: erstens war die Braune noch so ein junges Ding, beinahe noch nicht zu rechnen, und zweitens stieß Edevart bei seinen Eltern und auch bei seinen Schwestern auf Widerstand.

Was meint ihr! sagte er unendlich erstaunt. Daß sie so eine Mutter und überhaupt gar keinen Vater hat, was geht das mich an? Sie erklärten es weiter und machten es recht einleuchtend; aber Edevart war ein Seemann und ein frischer Kerl und verliebt, er kümmere sich den Kuckuck um all den Klatsch und alles, was man nicht mit bloßen Augen sehen könne, sagte er. Da erzählten sie ihm schließlich, daß auch Klein-Lydia nicht in diese Familie hineingewollt und Abel nicht genommen habe. Aber das hätte sie tun sollen! lautete Edevarts Antwort.

Es war nichts mit ihm zu machen.

Bei der Hochzeit waren ja beide Familien anwesend und Abel traf wieder mit Klein-Lydia zusammen. Sie hatten auch ein kleines Zwiegespräch miteinander. Sie fragte ihn zwar nicht gerade heraus, ob er sie vergessen habe, aber es war, als erwarte sie eine Erklärung darüber, warum er nicht wiedergekommen sei, wie er gesagt habe. Was sie sagte, klang demütig und traurig, der Grundton war fromm. Gelegentlich hustete sie und legte dabei die Hand auf die Brust, er sollte wohl sehen, daß sie nun eine andere geworden war: sie nahm das Leben ernst und weinte bei Nacht, spuckte geradezu Blut bei Nacht und dergleichen mehr. Natürlich saß sie trotzdem im höchsten Staate da, obgleich sie so gottergeben war und ihr ab und zu die Augen feucht wurden. O, sie war noch sehr jung, sie hatte wohl der Welt nicht abgesagt, plötzlich zog sie etwas Feines vorne an der Brust heraus, das da hing, und was Abel für Spitzen und Ausputz gehalten hatte: aber es war ein Taschentuch, und mit diesem schlug sie den Staub von ihren Fußspitzen weg. O, Klein-Lydia kam schon durch, wer ihren nassen Augen zugelächelt hätte, würde sofort diese Augen hart und trocken gesehen haben, und sie wußte sich zu verteidigen.

Mann und Frau Edevart blieben nicht in der Stadt, ja, sie blieben nicht einmal im Lande, sie zogen nach Amerika. Als Edevart sah, wie die Dinge daheim standen: daß das Haus voller erwachsener Töchter war, die daheim saßen und nähten und vornehm taten, da entfloh er. Abel hatte um der Schwester willen dem Paare von diesem Schritt stark abgeraten. Er sagte zu ihr: Dann sehen wir uns nie wieder. Mir selbst ist es gleichgültig, sagte er, aber es ist nicht recht gegen die andern. Sein Kniff half ihm indes nichts, die Schwester wollte mit ihrem Manne gehen.

Du denkst gar nicht daran, daß wir andern daheim gar nicht ohne dich fertig werden können, sagte er ärgerlich. O, dieser Abel! Da wurde er von dem ganzen Hause ausgelacht, von allen den erwachsenen Frauenspersonen, die noch da waren.

Aber alle diese kleinen Heiraten und alle die täglichen Ereignisse waren ja nur für die Familie Oliver von Bedeutung, nicht aber für die Stadt und die andern Menschen. Für die Familie Oliver waren sie groß und wichtig, vielleicht war es auch zu ihrem Besten. Oliver konnte nicht klagen, in der letzten Zeit war er nicht mehr verfolgt worden, dies und das ereignete sich, Schlag auf Schlag, und es machte nichts schlimmer für ihn, im Gegenteil, er aß täglich an Abels großem Tisch und bekam jetzt auch noch wie früher das eine und andere Taschengeld. Was hätte er sich noch wünschen können?

Er wurde nicht schief angesehen, Petra schwieg. Wahrlich, im schlimmsten Fall war er nicht am schlimmsten dran. Oliver fand aufs neue Mut und Widerstandskraft. Damals, als der Doppelkonsul getroffen wurde, sank ein großer Mann zusammen und gab alles auf. Der erfahrene Postmeister bekam eines Nachts einen Druck auf seine ungeprüften Menschengedanken und verblieb von diesem Augenblick an dumm und stumm. Der alte rechtschaffene Schmied Carlsen konnte keine Bosheit ertragen, er konnte es nicht ertragen, daß man ihn im Verdacht hatte, einen Sohn zu haben, der mit japanischen Tätowierungen auf dem Körper umherging, er wurde zu einem Kinde, weinte, verzog krampfhaft die Lippen, dankte Gott für Gutes und Böses und wartete auf den Tod. Oliver war von einer zäheren Art, weniger fein und empfindlich, sorgloser und deshalb als Mensch aus dem richtigen Stoff gemacht, er ertrug das Leben. Wer war tiefer hinuntergetaucht worden, als er? Aber wieder ein kleiner Erfolg, eine geglückte Dieberei, ein wohlgelungener Spitzbubenstreich machte ihn aufs neue zu einem zufriedenen Manne. Trug er nun Palmen in den Händen? Oliver war in der Welt draußen gewesen, er hatte Palmen gesehen, aber was hatte er davon?

Die Tage kommen und gehen. Er hatte Frieden daheim, die Gassenjungen schrien ihm nicht mehr nach, aber Olaus vom Anger war hinter im her, so oft er nur konnte. Oliver hätte jetzt fast glücklich sein können, aber Olaus gönnte ihm das nicht, in Gegenwart anderer Leute fragte er Oliver nach einem gewissen ärztlichen Zeugnis. Oliver ging heim, verbrannte das Zeugnis und fluchte darüber. Er wich seinem Plagegeist so viel wie möglich aus, und glücklicherweise hatte er ein Päckchen Tabak in der Tasche, als er das nächste Mal mit ihm zusammentraf. Die Rollen waren vollständig vertauscht, jetzt war Olaus der überlegene.

Du tust mir leid, sagte Olaus.

Wie schmeckt dir der Tabak? fragte Oliver. Er ist wohl nicht gut?

Olaus war lauter Unbarmherzigkeit und fragte: Ist das alles wahr, was von dir erzählt wird?

Danach konnte Oliver wohl fürchten, er habe sein Päckchen Tabak umsonst weggegeben, aber trotzdem ließ er ein paar Worte darüber fallen, daß es nicht der letzte sein werde, er verdiene jetzt in Abels Schmiede und könne einem guten Freund wohl ab und zu ein wenig mit Tabak aushelfen.

Jetzt gesellt sich der Fischer Jörgen zu den beiden, und er hörte den Rest von Olaus' Bosheiten mit an; daß gerade dieser Zuhörer sich einfand, kränkt Oliver doppelt, er hatte sich ja früher verschiedentlich vor Jörgen dick getan, außerdem war er jetzt verwandt mit ihm. Legte Olaus auch nur eine Spur von Zartgefühl und Takt in seine aufdringlichen Fragen? Natürlich nicht. Das letzte, was er sagte, war: Wozu denn Oliver eigentlich Kleider trage? Ob es nicht einerlei wäre, wenn er nackt auf der Straße ginge? Dann wanderte Olaus weiter, frisch und mit geschwollenem Kamm.

Da stand Oliver, in außergewöhnlicher Wut. Jörgen sagte: Mach dir doch nichts daraus, was Olaus sagt, es ist nicht der Mühe wert.

Es schien aber doch der Mühe wert zu sein, der Krüppel hatte einen wütenden Blick und knirschte eine Weile mit den Zähnen. Ich werde es ihm eintränken! sagte er und nickte dazu.

Doch es hatte keinen Zweck, hier mit dem alten Jörgen zu schwatzen, Oliver hinkte plötzlich davon und bog in die größte Straße des Städtchens ein. Welch ein Glück, es war Samstagabend, und er hatte einen guten Anzug an, er gab sich nicht selbst auf. Jetzt blieb er vor dem Schaufenster des Schuhmachers stehen und betrachtete die Damenstiefel: er winkte den nächsten besten herbei und sagte zu ihm, wie hoch doch diese Damenstiefel seien, sie gingen weit an den Waden hinauf. Oliver stand da vor den Stiefeln, schmatzte ihnen zu und redete wie ein ausschweifender Mensch. Plötzlich wirft ein Junge Oliver einen vernichtenden Spitznamen an den Kopf, ein Gelächter erhebt sich, Oliver verstummt. Ja, Schuhwerk ist nun bald zu teuer für gewöhnliche Leute, sagt jemand hinter ihm. Das ist wieder der Fischer Jörgen. Oliver faßt neuen Mut, er ergeht sich wieder über hohe Stiefelschäfte und schmatzt dazu, o, aber Jörgens Geschwätz war jetzt nur ein schwacher Abglanz von dem vorigen; das mochte der Kuckuck verstehen, er mußte indessen abgekühlt worden sein. In seiner Verzweiflung ruft Oliver laut: Jetzt geh ich in den Tanzsaal!

Er staffierte sich aus, kaufte Riechwasser und goß es auf sich, so daß er schon von weitem duftete, kaufte Zuckerwaren, kaufte auch feingeraspelten Talg, den er auf den Boden des Tanzsaals streuen wollte. Seht, er wollte über die Stränge schlagen, wollte einen tüchtigen Sprung mitten in Blitz und Donner hineinmachen, hinein in Liebesgeschichten und Brautraub – aus dem Weg da! Gott weiß, vielleicht war er mutig aus Mutlosigkeit, sein Leben war so jämmerlich, daß es scherzhaft wurde, er war verschwitzt und bleich, er zieht einen Taschenspiegel heraus, reibt seine Wangen ab und putzt sich. Dann macht er die Tür des Saales auf und stapft hinein.

Aller Augen scheinen sich auf ihn zu richten. Oliver, sagen sie, Oliver, haha! Er sucht sich eine Bank und setzt sich. Der Tanz geht weiter. Nimm deine Krücke weg! warnt ein junger Seemann, indem er vorbeiwalzt. – Warum schreit denn der Kerl? Zu meiner Zeit habe ich nicht auf dem Tanzboden geschrien, sagt Oliver zu den Nächstsitzenden. Er bekommt bald eine ordentliche Antwort darauf. Ja, du bist wohl ein richtiger Spürhund gewesen, Oliver? erwidern sie. Er wiegt den Kopf hin und her und erzählt von Alkasar in Hamburg und von Greenhorn in Neuyork; mit allen Arten von Rassen und Farben habe er getanzt und Liebschaften mit ihnen gehabt, er habe Malaiinnen und Chinesinnen, Indianerinnen und Negerinnen herumgeschwungen, ein Indianermädchen sei die Netteste gewesen, die er je geküßt habe –

Oliver ist bleich und schwitzt, es strengt den faulen Mann wohl an, sich so lustig aufzuspielen. Sie sagen zu ihm, ja, ja, aber nun solle er nicht mehr an so etwas denken! Und er antwortet, warum denn nicht? Eine so feurige Natur wie die seinige könne nicht aufhören, könne nie Schluß machen, sie könnten ja selbst sehen, jetzt sei er hier auf dem Tanzboden. Seht her, ihr Jungen, wollt ihr ein paar extra feine Zuckerwaren schmecken?

Er sprach sich über den Tanz aus, das sei gar nichts gegen früher; der Bursche, der dort geschrien habe, könne ja gar nicht Walzer tanzen, nicht die Fersen müßten tanzen, sondern die Zehen, und man müsse die Dame aufheben, daß sie sich nicht kaputt schaffen müsse. Dies sei zu jämmerlich. Er habe gute Lust, hervorzutreten, um ihnen zu zeigen, wie es gemacht werden müsse.

Da lachten alle, die Oliver zuhörten.

Hoho! sagte Oliver, das könnte er sehr gut. Seht die Waden von der dort, ei der Tausend, das sind gute Waden zum Beispiel, ich müßte sie nur einmal fassen können. Dann würdet ihr wohl sehen, wie es geht. Tahitaho! Da geht einmal hin und streut den Talg hier auf den Tanzboden! sagte er, indem er die Tüte auslieferte.

Talg? sagten sie.

Ja, Talg. Solchen hatten wir immer bei uns und streuten ihn hin, wenn der Boden zäh und hart wurde.

Ach so, sagten sie und streuten den Talg auf den Boden.

Ja, nun ging es richtig glatt weg. Der Tanz und die Musik schmolzen zusammen, das wurde ein flotter Walzer, alle Beine waren in wirbelnder Bewegung, alle die Beine drehten sich unaufhörlich im Kreise, um und um ging's. Es war merkwürdig, wie der Talg gut tat.

Du verstehst deine Sache, Oliver! sagten sie, und sie hatten Nachsicht mit ihm, solange es ging, weil er ein Krüppel war.

O, mir kann niemand etwas vormachen, versetzte er. Und bei der kleinen Anerkennung, die ihm zuteil wurde, rief er wieder hoho! und spielte sich auf und tat, als könne er nun eine Auferstehungshymne anstimmen. O, du froher Abend! Seht nur das Mädchen dort, welche Brust sie hat, geht hin und sagt ihr, ich wolle mit ihr reden!

Das Mädchen kam herbei, Oliver bot ihr die Zuckerwaren an, er war Weltmann bis in die Fingerspitzen und sagte: Bitte Fräulein, eine kleine Erfrischung! Das Mädchen lachte, nahm ein wenig aus der Tüte und schwänzelte fort. Eine andere kam, mehrere kamen, Oliver teilte seine Leckereien aus und redete, blaß und schweißtriefend wie er war, davon, wie sehr sie ihn lockten und reizten. Dich? sagten sie kreischend und brachen in lautes Gelächter aus. – Jawohl, jawohl, sagte er, übermäßig reizt ihr mich! Was es denn schade, wenn er lahm sei? Deshalb sei er doch noch ebenso gut. Sie hätten nur sehen sollen, wie sehr sich eine Krankenpflegerin in Italien um ihn bemüht habe und ihn durchaus habe heiraten wollen. Er habe sich nicht retten können vor ihren Küssen und Liebkosungen.

Es wird wieder getanzt. Oliver sieht erschöpft aus, aber er stampft den Takt, daß es nur so dröhnt, und wie wenn das vielleicht nicht genügend bemerkt würde, übertrieb er und klopfte den Takt auch noch mit der Krücke. Jetzt aber ärgerte sich der eine und andere von den jungen Burschen über ihn, nicht nur wegen seines Gepolters, sondern auch weil er die Tänzerinnen mit seinem leichtfertigen Geschwätz und seinen Zuckerwaren in Anspruch nahm. Es wurde ihm bedeutet, sich ruhig zu verhalten und nicht so ausgelassen zu sein, aber das half nichts, er wurde nur noch leichtfertiger. Jawohl, an diesem Abend sei er bei einer ordentlichen Lustbarkeit, er sei nun einmal Hahn im Korbe bei den Mädchen, und wenn man sie fragte, würden sie das gar nicht leugnen, denn es wüßten es ja alle Leute schon vorher. Bitte, Fräulein, noch eine kleine Erfrischung –

Au – da purzelte ein Paar auf den Boden. Kreischen und Schreien! Ein zweites Paar fiel auf das erste, und da gab es ein böses Durcheinander. Was war denn das für eine Schweinerei, auf der sie ausglitten? Talg! Woher kam der? Die Kleider mit Talg und Staub böse zugerichtet, liefen die Tänzer und Tänzerinnen über den Saal hinüber zu Oliver hin und fluchten ihm ins Gesicht. Der Krüppel erwiderte, er selbst habe einstens auf Talg getanzt, in dieser Richtung könnten sie ihn nichts lehren, weder rechtsum noch linksum. Sie sagten, er müsse ihnen die Kleider bezahlen, die sie sich durch ihn verdorben hätten, ja, sie schimpften ihn Idiot und Schweinehund und anderes mehr. Da wurde Oliver wahrhaftig wieder etwas würdig und sagte ihnen, wer er war, der Oliver Andersen, der länger als ein halbes Menschenalter Konsul Johnsens Lagerhaus vorgestanden hatte, sie sollten sich schämen und sich besseren Leuten gegenüber nicht so aufführen –

Hinaus mit dir! schrien sie. O weh, was sie ihm alles für Namen gaben und ihm vorrechneten, welche Art Rest von einem Menschen er sei, eine leere Wursthaut, ein Hammel! Und da habe er sich sogar mit Riechwasser begossen; er sei verfault, da sitze er und rieche wie ein Stall! Hinaus!

Natürlich kam sein Abenteuer in der Leute Mund, und die Weiber am Brunnen waren empört über ihn, sie konnten nicht begreifen, daß so ein verkommener Tropf nicht lieber fromm wurde und in die Kirche ging; für wen sonst war denn die Kirche da! Aber merkwürdig genug, auch diesmal wurde Oliver daheim nicht zur Rede gestellt, es war, als hätte ihn Petra vollständig aufgegeben. Allerdings erfüllte er, als er heimkam, die Stube mit seiner fürchterlichen Duftware, und Petra wich unleugbar zuerst ein paar Schritte zurück, aber zu einem Streit kam es nicht. O, eine höhere Vorsehung hatte abermals eingegriffen: von dem Philologen Frank, dem Sohne des Hauses, war Nachricht gekommen, er war zum zeitweiligen Vorsteher der höheren Schule in der Stadt ernannt worden.

In diesem Augenblick kam ja niemand daher und sagte zu Oliver, er sei ein kinderloser Mann. Seine Kinder waren allerdings nur seine eigene Erfindung, aber er hatte sie doch; während ihrer ganzen Kindheit und ihres Heranwachsens war er etwas für sie gewesen, sie und er kannten einander, sie nannten ihn unter sich selbst und andern gegenüber Vater, und jetzt kehrte Frank gelehrt und groß heim in seine Vaterstadt. Oliver war von Stolz über seinen Sohn erfüllt. Petra und die Großmutter hätten ihn allerdings am liebsten als Pfarrer gesehen, aber da war nichts zu machen gewesen. Oliver sagte mit Würde: So ein Sohn!


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