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25

So ging es denn nun im alten Trab weiter in der Stadt – nur der Postmeister war und blieb gebrochen. Er hatte mit einer dürftigen Pension seinen Abschied erhalten, die Familie war in ein kleines Haus bei der Werft übergesiedelt, und ein neuer Postmeister hielt seinen Einzug im Posthaus.

Der Sommer war vergangen, und die beiden Studenten der Stadt reisten zurück zu ihrem Studium Sie waren ja nicht gerade Busenfreunde, aber sie fuhren mit demselben Schiff. Busenfreunde? Frank hatte doch die ganzen Ferien hindurch gearbeitet und war Reinert wieder um eine Nasenlänge vorausgekommen, wie hätte daraus ein zartes und harmonisches Verhältnis entstehen können?

O, was hatte Frank nicht alles in diesen Wochen gelernt! Aber man sah es ihm auch an. Er hatte in sein Bewußtsein hinein soviel verschiedene Sprachwissenschaft verwoben, ein Stückchen ums andere, ohne Drängen, ohne Gewalt, nur indem er Zeit und Lebenskraft dransetzte, jetzt stand er auf dem Schiff ein bißchen gelb und mager, ganz ohne Fett und also wie dazu geschaffen, immer noch mehr zu lernen. Selbst dem Leben um ihn her widmete er nicht mehr Gedanken, als es wert war, mit seinen Händen wußte er nichts anzufangen, der Arbeit der Matrosen an Bord schaute er stumpfsinnig zu, die Maschinenleute fand er entsetzlich schmierig. Frank konnte keine Fässer und Kisten in den Schiffsraum verladen, nein, dazu war er nicht da; aber er konnte in Wörterbüchern nachschlagen, aber er saß voll zarter und heiliger Sprachwerte, ein Vergleich war gar nicht möglich. Feinheit wird durch Schulfleiß errungen und geht durch Arbeit verloren.

Auf dem Schiff traf er einen Bekannten von der Schulbank her, den Zeichenstift; als bleicher Neger tauchte er aus dem Maschinenraum empor, nur halb bekleidet mit verschwitztem Gesicht und weitoffener Hemdbrust.

Guten Tag! sagte er und nickte Frank zu.

Guten Tag! sagte auch Frank und suchte sich den Neger in seine Erinnerung zurückzurufen. Bist du hier?

Ja, hast du das nicht gewußt?

Nein, erwiderte Frank etwas zurückhaltend.

Ich bin Heizer. Wie geht es Abel? Gut?

Abel? Ja, ich weiß nichts anderes.

Der Zeichenstift wollte Schulerinnerungen auffrischen. Weißt du noch? Denkst du noch daran? Er lachte, daß seine weißen Zähne blitzten, und dachte nicht daran, wie schmierig er war, da stand er mitten im Zug und machte sich nichts daraus. Frank stellte sich mehrere Male auf einen andern Platz und sagte: Es zieht hier sehr!

Geht es bei dir zu Hause und deinen Schwestern gut?

Ja, ich habe nichts anderes gehört.

Hahaha, man könnte gerade meinen, du kämest nicht von daheim, sagt der Zeichenstift. Und wie komisch: du wußtest nicht, daß ich hier bin. Deine Schwestern wissen das doch.

Frank sagt ausweichend: Ich habe soviel anderes zu denken.

Aber dann weißt du doch wohl noch, wie wir die Fenster eingeschlagen haben? Und wie der Vorsteher dazukam?

Immer ferner, beinahe schon am Horizont, sagt Frank: Nein, das ist schon lange her.

Der Zeichenstift merkt, daß sein Kamerad sehr gelehrt ist, und macht nun den Versuch, ihn nach seinen eigenen Angelegenheiten zu fragen: Du willst wohl wieder auf die Universität?

Selbstverständlich.

Ach du liebe Zeit, wie weit hast du es denn schon gebracht? Bist du jetzt bald Pfarrer?

Pfarrer? grinst Frank. Nein, gewiß nicht.

Na!

Ich studiere Sprachen.

Na, aller Welt Sprachen! Ja, das ist auch keine Kleinigkeit. Aller Welt Sprachen, wie der Vorsteher. Reinert wird aber doch Pfarrer?

Nein, das weiß ich nicht.

Das weißt du nicht?

Frank sagt unwillig: Nein, ich weiß nicht, was er werden will.

Ich habe Reinert heut morgen an Bord kommen sehen, aber er kannte mich augenscheinlich nicht.

Nein, das kann gut sein. Du bist ja so schwarz.

Allerdings, ich hab ihn aber doch gegrüßt, sagte der Zeichenstift und fing an, Asche aus dem Feuerraum heraufzuziehen und über Bord zu werfen.

Hier staubt es so! sagte Frank.

Nein, Reinert kannte nur, wen er kennen wollte; er kannte kaum Frank, der doch sein Kollege und ihm voraus war. Frank sah ihn an Bord kaum, Reinert fuhr auf dem zweiten Platz und trieb sich meist auf dem ersten herum. Aber Frank stand auf seinem dritten Platz und hatte das Bewußtsein, mehrere Sprachen zu verstehen.

Reinert hatte in den Ferien nichts Nennenswertes gearbeitet, ein wenig hatte er ja studiert, um seinem Vater, dem Küster, eine Freude zu machen, aber sonst hatte er sich meist im Freien aufgehalten. Reinert hatte kein Gras unter seinen Füßen wachsen lassen, er hatte Klein-Lydia und die kleinen Mädchen von der Werft vollständig erobert und hatte, so jung er auch war, sogar bei Heibergs Alice große Fortschritte gemacht. Der Junge sah ja auch verflucht gut aus mit seinen Locken und seinen schönen Kleidern, dazu trat er so keck auf, daß er gut für erwachsen gelten konnte. Das ging sogar so weit, daß er sich bemüht hatte, den Assistenten des Hardesvogts bei den Damen auszustechen, obgleich er es bei ihm mit einem ausstudierten Manne zu tun hatte.

Frank trieb sich blaugefroren auf Deck herum und suchte immer wieder ein warmes Plätzchen, wenn sich das Schiff drehte. Das erste, was er nach, Ankunft in Christiania tun wollte, war, sich einen Überzieher mit einem Samtkragen zu kaufen.

Er kam am Rauchsalon vorbei; die Tür stand weit offen, er schaute hinein und blieb stehen. Dann grüßte er und wollte weitergehen, aber er war ein wenig zu lange stehen geblieben, außerdem waren es ja Bekannte, die da vor ihm saßen, Rechtsanwalt Fredriksen aus seiner eigenen Stadt, ein großer Mann, aber er plauderte da mit einem geringeren, mit Reinert, sie saßen beieinander und schwatzten, der Rechtsanwalt putzte sich die Nägel mit einem Perlmuttermesser und beide rauchten.

Frank trat nicht näher, aber er sah auch nicht ein, warum er sich davonschleichen sollte, so weit bekannt und anerkannt war er doch auch, darum redete er durch die offene Tür Reinert an und sagte: Ich hab den Zeichenstift getroffen, er fragte nach dir.

Reinert gab keine Antwort, er saß da und tat, als ob er nachdenke.

Er ist Heizer hier auf dem Schiff.

So! sagte Reinert geistesabwesend.

Wer ist der Zeichenstift? fragte der Rechtsanwalt, als ob er das nicht recht gut wüßte.

Ein Schulkamerad von uns, erwiderte Reinert. Ja, ich freu mich sehr darauf, die Glocken von Corneville wieder einmal zu sehen.

Ich habe sie nicht gesehen.

Klausen ist großartig; das sagt jedermann.

Ich habe so wenig Zeit für Theater und Zirkus, donnert Rechtsanwalt Fredriksen. Ich habe doch meine Arbeit für den Landtag, und außerdem bin ich Vorsitzender einer parlamentarischen Kommission –

Frank begriff, daß er hier nichts mehr zu suchen hatte, und ging weiter. Er begab sich wieder an ein warmes Plätzchen und lächelte vor sich hin. O, er verstand mehr Sprachen als die beiden zusammen. Fredriksen verstand wohl nichts, als einen kleinen Rest Deutsch – das war alles!

Aber konnte nicht auch der Rechtsanwalt Fredriksen lächeln? Es ging ihm mit seinen Sprachen wie mit seiner Anatomie: er verstand soviel davon, als er zu wissen brauchte. Jetzt war er wieder auf dem Wege zu seiner Kommission, vollkommen ausgeruht und bereit, die Arbeit da wieder aufzunehmen, wo er sie hatte liegen lassen. Diese Zusammenkünfte in den Kommissionen waren nicht so übel, es stand in der Zeitung, wenn er ankam; er konnte wieder Fahrt- und Kostgelder aus der Staatskasse erheben, abends traf er mit Kollegen und Gleichgestellten bei Punsch und langen Pfeifen zusammen. Das gab Ansehen, ein kleines Winkelblättchen hatte unter anderen auch ihn als künftigen Staatsrat genannt: Haben wir denn keine Männer? Da ist doch der Rechtsanwalt Fredriksen! Das tat dem Herrn Rechtsanwalt keinen Eintrag, wenn auf ihn hingewiesen wurde, dabei konnte er nur gewinnen, er hatte die Zukunft vor sich, er war nun schon ein Mann, der bei einer Unterredung das Taschenmesser herausziehen und damit in seinen Nägeln herumstochern konnte.

So reiften also diese drei Stadtkinder nach Christiania, Frank, Reinert und der Rechtsanwalt, jeder mit seinem Vorhaben, seinem Ehrgeiz, seiner Zukunft. Der Zeichenstift heizte die Maschine.

Und die Küstenstadt lag wieder hinter ihnen.

Sie wurden daheim vermißt, jeder auf seine Weise. Frank vielleicht am wenigsten. Seine Kammer stand leer, aber die Großmutter hatte nicht mehr nötig, auf den Zehen zu schleichen und konnte am Herde rasseln, soviel sie wollte. Das war keine kleine Änderung zum Besseren. Abel erbte die Kammer von seinem Bruder; aber das war einerlei, hin oder her, er war nur bei Nacht darin, und außerdem war Abel kein Mann der Wissenschaft.

Da hinterließ doch der Rechtsanwalt eine größere Lücke bei seiner Abreise. Nicht als ob sein Kontor durch seine Abwesenheit stark gelitten hätte, sein Geschäft war nicht so groß, daß es ihm nicht mit der Post nachgeschickt und von ihm auf der Bank im Landtag erledigt werden konnte. Aber der Rechtsanwalt hatte doch eine gewisse vorläufige Verabredung getroffen, Fräulein Olsen vermißte ihn vielleicht, jedenfalls mußte es ihr sehr still vorkommen, als seine Stimme fehlte. Was war sonst noch erfolgt? Nur abgewartet, die Zeit war noch nicht gekommen, aber sie näherte sich, ein Winkelblättchen hatte schon die kommenden Männer genannt, darunter auch ihn, den mit der Verabredung. Fräulein Olsen mußte jedenfalls gewisse schwere Tritte auf der Treppe vermissen, wenn nicht mehr, einen schwer schnaufenden Herrn, der hereintrat, einen Nacken mit einer Speckwulst, eine tastende Hand: Guten Abend, guten Abend! Wenn sie nicht sehr vergeßlich war, so mußte sie sich auch an die Zigarrenstummel im Aschenbecher erinnern, an das Zwiegespräch, an die sachliche Art, über Liebe und über norwegische Politik zu sprechen: Was haben wir im Grunde in diesem Dasein zu erstreben? Es gut zu haben, was denn sonst? Wir steigen von Stellung zu Stellung, und es geht uns besser und immer besser, wir speisen gut, kleiden uns gut, legen zurück, werden vermöglich, besitzen Häuser in der Stadt und Anteile an Schiffen auf dem Meere, bewohnen eine Sommervilla, segeln oder fahren in der Kutsche, wann es uns gefällt. Wir tun nichts, was uns nicht paßt, wir wollen das Unebene nicht eben machen, das sollen die andern tun, jeder nach seinem Geschmack! Nachher – nachher können wir Geschäfte in Gang bringen und den Leuten Arbeit geben, wir können rund um uns herum wohltun, eine helfende Hand reichen. Wir hören von einer obdachlosen Familie und lassen sie in einem von unsern Häusern wohnen: Bitte, nur hier eingezogen mit den Deinen! Wir hören von Unglücksfällen und nehmen Anteil, wir sind alles andere als hartherzig, Matrosen werden zu Krüppeln in ihrem gefahrvollen Berufe, wir greifen ein und verschaffen ihnen ihr Recht. Auf diese Weise werden wir solidarisch, wir wollen Fortschritt und Demokratie, laßt nur uns alles in Ordnung bringen mit dem Dienst, der Fahne und dem Vaterland –

Jawohl, sagte Fräulein Olsen darauf.

Nicht wahr, so geht es, und so muß es auch gehen! Aber es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, sowohl die Person als die Stellung verlangen eine Gehilfin, Fräulein Olsen –

Wollen Sie sich nicht noch eine Zigarre anstecken?

Doch, danke. Eine Gehilfin also. Sie ist notwendig aus mehreren Gründen: Dem Haus muß eine Hausfrau vorstehen, sie soll die Zimmer in Ordnung halten, die Einkäufe für den Haushalt gehen durch ihre Hände. Jemand kommt und will den Mann sprechen, er arbeitet, er ist im Staatsrat, aber die Frau repräsentiert. Der Verwaltungsrat eines Altersheims oder einer Anstalt für Geistesschwache wünscht ihre wertvolle Unterstützung, nun gut, die Frau setzt ihren Namen unter einen Aufruf. Sie ist jetzt auf eine höhere Warte gehoben, zu neuen Ehren gelangt, aber auch zu neuen Pflichten. Sie kann sich diesen nicht entziehen, die Öffentlichkeit hält die Augen auf sie gerichtet, die Gesellschaft stellt ihre Forderungen. Könnten Sie diese Forderungen erfüllen, mein Fräulein?

Ich? sagt wohl Fräulein Olsen lachend. Ach, das weiß ich nicht. Nun, wenn es sein müßte, könnte ich es wohl. Was meinen Sie?

Das setze ich voraus. Und nun bleibt nur noch übrig, darüber ins reine zu kommen, ob auch Sie wollen. Seit unserer ersten Verabredung sind nun mehrere Monate verflossen, Sie haben Zeit gehabt, oftmals darüber nachzudenken. Aber ich warte auf gewisse Veränderungen, die eintreten sollen, es eilt nicht, ich lasse Ihnen noch mehr Zeit.

Da fragt wohl Fräulein Olsen etwas verwundert: Unsere erste Verabredung, sagen Sie? Was für eine Verabredung?

Liebes Fräulein, unsere vorläufige Verabredung. Erinnern Sie sich denn nicht mehr, bei der Hochzeit Ihrer Schwester? Ich meine doch, wir seien darüber einig geworden –

Ja, wir waren nicht uneinig.

Na, sehen Sie!

Aber Sie trafen die Verabredung.

Na ja, darüber wollen wir nicht streiten, ich habe am meisten geredet, darin haben Sie recht. Ich gab Ihnen mein Versprechen –

Sie stellt sich nur ein wenig an! muß der Rechtsanwalt Fredriksen denken. Aber um sicher zu gehen, will er etwas zur Sprache bringen, etwas verlauten lassen, das ihm eingefallen ist. Diese Maler und Künstler, die ins Haus gekommen sind, könnten ihm das Mädchen wegschnappen, es wäre unglaublich, wenn so etwas geschehen würde, aber jetzt wollte er es andeuten: Ich habe Ihnen also meinen Antrag zu Füßen gelegt, und da liegt er. Hm. Wer singt denn da droben auf dem Boden?

Das sind die Maler. Sie haben droben ihr Atelier.

Der Rechtsanwalt lächelt: Ach, diese Gesellen! Sorglose Seelen, singen und bemalen die Leinwand! Von dem andern rede ich nicht, aber Ihr Schwager ist doch aus gebildetem Hause, ich bin mit seinem Vater auf der Universität gewesen. Wie geht es dem Sohn? So ein junger Mann hat nichts, worauf er zurückgreifen könnte, er hat nichts Rechtes gelernt, hat nicht studiert. Von dem andern will ich gar nicht reden, aber Ihr Schwager hatte doch von Geburt an Aussicht auf eine Zukunft. Na, es kann ja gut gehen, er kann ja hie und da einmal ein Bild verkaufen, ich selbst will ihm später eines abkaufen, und ich werde es Ihnen übertragen, die Auswahl zu treffen.

Was –

Ja, das will ich, nickt Herr Fredriksen wie von oben herab, von seiner Höhe. Ein Bild kaufen und Sie bitten, die Wahl zu treffen. Wollen Sie?

Würden Sie mir das anvertrauen?

Ich würde Ihnen natürlich noch viel wichtigere Dinge anvertrauen. Und was die Bilder betrifft, so wollen wir ihm nicht eins, sondern zwei abkaufen, das wollen wir. Ich reise jetzt wieder nach Christiania im Dienste meines Vaterlandes. Unsere Verabredung soll inzwischen ruhen, wenn die Zeit gekommen ist, werden wir gleicher Meinung sein, das hoffe ich ...

So hing es also zusammen mit der vorläufigen Verabredung! Der Rechtsanwalt war beinahe allein dabei beteiligt. Seht, er hatte vor einigen Monaten diese Sache in Ordnung gebracht, und zwar zu seiner eigenen Zufriedenheit, aber heute war es ihm eingefallen, er wolle doch nicht so ganz allein sein mit dieser Verabredung, er wolle auch den andern Teil dabei haben. Selbstverständlich würde Fräulein Olsen einschlagen, er mußte sie nur fragen, sie ein wenig ausforschen. Dann ging es, wie es ging, sie zierte sich ein wenig, aber das hatte nichts zu bedeuten, die Sache endete damit, daß sie versprach, die Bilder für ihre Wohnung zu kaufen.

Damit ging Rechtsanwalt Fredriksen an Bord.

Aber nun saß also Fräulein Olsen wieder einsam und allein in der Stadt und überlegte. Was hatte sie diesem Manne versprochen? Nichts! Nicht das allermindeste. Aber hatte sie ihn von der ersten Stunde an entschieden abgewiesen? Manche Frauen weisen keinen ab, keinen einzigen. Selbst der Unmöglichste läßt sich dazu gebrauchen, die Gedanken zu beschäftigen. Fräulein Olsen gehörte gewiß nicht zu den Berechnenden, den Abgefeimten, aber da war nun einmal dieser Mann, sie hatte ihn im Rückhalt, er war immer besser als gar keiner, sie wurde älter, die Schwester war verheiratet, weiß Gott, eine Zukunft war eine Zukunft, ein Staatsrat ist etwas Rechtes, wenn er wirklich Staatsrat wird. Man konnte immerhin daran denken! Aber berechnend? Sie steckte nicht bis über die Ohren in Berechnungen, sondern war ein natürliches Mädchen und wie alle andern, die Natur selbst lenkte ihre Politik. Sie hatte noch an nichts Mangel gelitten, sollte sie Mangel an einem Verehrer leiden? Von allem andern hatte sie vollauf, und hier hatte sie nun einen Staatsrat, wenn er es wurde! Daran war nichts Unverständliches, ein Huhn im Gartenbeet ist auch nichts Unverständliches.

Natürlich mußte Fräulein Olsen den Rechtsanwalt vermissen, wenn er abgereist war.

Vermißten ihn noch andere? Vielleicht das Haus Oliver? Das ist nicht wahrscheinlich. Oliver war wohl mehr als froh, als sein draufgängerischer Gläubiger die Stadt wieder verließ, und Petra mußte wohl das ewige Gerenne zu dem Rechtsanwalt satt haben. Endlich waren ihre Verhandlungen erledigt. Sie konnte doch unmöglich etwas übrig haben für diesen Mann, der sie so geplagt hatte, hier konnte sicherlich von Anhänglichkeit keine Rede sein, das fehlte auch gerade noch! Hörte man von einem Wunder und einer schonungslosen Liebe, war am Brunnen die Rede davon, daß beide in Flammen stünden, war das Wort »Kurzschluß« gefallen? Dem Rechtsanwalt gehörte das Dach über Petras Haupt, sie sprach mit diesem Manne, damit sie dieses Dach behalten durfte, das war alles. Gewiß, sie mußte öfters hingehen und über diese Sache mit ihm reden, und Oliver, ihr Mann, konnte gelegentlich darüber murren, daß sie nie damit fertig wurde. Aber zog sie sich zu diesen Besuchen irgendwie auffallend oder aufreizend an, außer mit einem neuen Hemd unter dem Kleid? Nein, durchaus nicht, soviel Oliver wußte. Sie hatte ja nun einmal diese neuen Hemden bekommen und mochte sie wohl gerne tragen, Petra war eine verheiratete Frau, keines Mannes Annäherungsversuche würden Eindruck auf sie machen. Sie hatte vor vielen Jahren, als sie noch jung war, Scheldrup Johnsen für ein zärtliches Wort eine Backpfeife gegeben, was würde sie dann jetzt wohl tun, da ihre Haare anfingen, an den Schläfen grau zu werden und sie beinahe erwachsene Kinder hatte?

Oliver hatte also keinen Grund zum Mißtrauen. Er sagte: Jetzt ist er also fort?

Ja, antwortete Petra. Und mir ist's recht, wenn er nie wiederkommt.

Wieso? Meinst du, er bleibe für immer weg?

Das weiß ich nicht. Mir wär's recht, wenn er nicht wiederkäme.

Oliver sah seiner Frau an, daß es ihr ernst war mit dem, was sie sagte; sie machte eine Gebärde des Abscheus und spuckte zur Seite aus. Deutlicher konnte sie nicht reden, sie verabscheute den Rechtsanwalt.

Ja, er ist kein Mann Gottes, sagte er. Aber die Rechtsanwälte! Sind die jemals anders gewesen!

Und das sage ich dir, beharrte Petra. Das nächstemal kannst du selbst zu ihm gehen. Ich tu keinen Schritt mehr.

Hätte jemand deutlicher reden können! Oliver nahm das nicht übel auf, im Gegenteil; ja und das nächstemal werde er selbst zu Rechtsanwalt Fredriksen gehen, sagte er, nur ein einziges Mal, kurz und gut, sagte er und nickte dazu. Und er werde die Sache ein für allemal abmachen, er werde ihm sagen, wie er heiße, Oliver Andersen, und er werde eine Quittung verlangen für eine gewisse Summe Geldes, die er dem Blutsauger auf den Tisch werfen werde. Der Krüppel und Hasenfuß malte sich aus, wie er auftreten werde.

Übrigens war Oliver in der letzten Zeit wirklich etwas dreister geworden. Das Bewußtsein, daß er Geld in der Tasche hatte, hob den Mann, sein Charakter wurde fester. In den ersten Tagen nach dem Postraub fühlte er sich noch unsicher und bat Petra, ihm eine Innentasche in seine Weste zu nähen. Petra spottete über ihn und hielt es für Großtuerei. Eine starke Tasche! verlangte Oliver. Jawohl, von Segeltuch! sagte Petra. Da mußte sich Oliver an seine Mutter wenden, damit die Arbeit gemacht wurde.

Und jetzt, da er seine Innentasche hatte und seine Geldscheine darin, fühlte sich Oliver geborgen; niemand würde auf den Gedanken kommen, einen Krüppel zu untersuchen, der nichts Böses getan hatte. Das Eiderdaunengeld war sein rechtmäßiges Eigentum.

Ärgerlich war es, daß dieses Geld nicht so recht ans Tageslicht kommen durfte. Es hätte Oliver Freude gemacht, in die Kaufläden der Stadt zu gehen und dies und jenes zu verlangen, und dann all sein Geld aus der Tasche zu ziehen und davon zu bezahlen; diese Freude blieb ihm versagt, das Geld mußte mit einer gewissen Lichtscheu ausgegeben werden. Ein Gutes war allerdings dabei, es bestand zum größten Teil in kleinen Scheinen, in vorsichtigen Zwischenräumen konnte Oliver einen solchen dem Pack entnehmen und ihn in Waren umsetzen. Auf diese Weise verschaffte er sich jeden Tag etwas Gutes zum Lutschen, außerdem ein wenig Putz, einen neuen Schlips um den Hals und einen steifen Kragen; den kleinen Mädchen hatte er Schuhe mit Schleifen auf dem Spann gekauft. Niemand faßte Verdacht gegen ihn wegen allzu großer Ausgaben; ein paar größere Geldscheine steckten ausgebreitet in seiner Innentasche.

So ging alles gut, Oliver hatte weiter keine Gelüste, er war leicht zufriedengestellt. Ein Freßsack war er nicht, wenn er auch etwas naschhaft war. Petra war das genaue Gegenteil, ein habsüchtiges und gieriges Weib. Gerade in dieser Zeit hatte Oliver seinen neuen und besseren Charakter recht nötig, er mußte Petra andauernd entschuldigen und ihr milde Ermahnungen angedeihen lassen. Der Teufel mochte sie verstehen, sie war sehr verdreht und querköpfig geworden, es war ihr wie angeflogen, jetzt war ihr weder Essen noch Trinken mehr recht, sie konnte dies und jenes nicht vertragen, der letzte Kaffee hatte geradezu verdorben geschmeckt. Was für Kaffee bringst du auch nach Hause! sagte sie. Sie hatte bei Davidsen ein Stück Schweizerkäse gesehen, und wenn sie jetzt noch Stubenmädchen bei Konsul Johnsens gewesen wäre, dann hätte sie solchen Käse bekommen! Übrigens hatte sie im Schaufenster bei Barbier Holte ein Stück Goldseife gesehen, was mußte die gut riechen!

Und Oliver, der die Innentasche voll Geld hatte, konnte antworten: Sei doch nicht so begehrlich nach allem, was du siehst, Petra! Denk lieber daran, was wir verdienen, du und ich. Es geht uns doch recht gut, wenn schon einmal die Rede davon ist.

Hier offenbarte sich nun Petras ungebärdige Verdrehtheit, und sie fing an, mit dem Manne zu zanken. Statt sich vor seiner Krücke zu fürchten, die in erreichbarer Nähe lag, verhöhnte sie nun diese und ihn selbst und sagte, sie lebe mit einer Krücke, spreche mit einer Krücke, liege im Bett bei einer Krücke und müsse sterben mit einer Krücke; das sei ein Leben! Und dabei spuckte sie wieder zur Seite aus, gerade als ob sie sich erbrechen müßte.

Oliver mit seinem kräftigen Oberkörper hätte den Tisch mit dem Beile spalten oder den Ofen einreißen oder sonst etwas als kleine Warnung vornehmen können, aber er tat etwas völlig Unerwartetes, er ging in die Stadt und kam zurück mit dem Käse und mit dem Stück Seife, bitte! Nein, so etwas! Petra war einen Augenblick wie gelähmt von dieser Unverständlichkeit, dann fing sie an zu weinen: sie wolle die Sachen nicht haben und besitzen! Wie er ein solcher Dummkopf sein könne, sich wegen dieser Narrheiten in Schulden zu stürzen! Bring die Sachen sofort zurück!

Nein, jetzt hast du, was du haben wolltest, sagte er.

Was sie haben wollte? Durfte sie jetzt nicht einmal mehr einen kleinen Spaß machen? Oder sollte sie obendrein auch noch ihr Leben lang stumm sein? Pfui!

Nun mußte es Oliver doch wirklich kränken, daß sie vor ihm ausspuckte wie vor dem Rechtsanwalt, aber er schwieg dazu. Ach, es geht eine große Veränderung vor mit einem Manne, der einen neuen Charakter bekommen hat. Oliver überredete seine Frau, den Käse doch wenigstens zu versuchen, nun ja, sie versuchte ihn und spuckte ihn wieder aus. Was soll das heißen? Das ist ein anderer Käse, meinst du, du könntest mich anführen? Petra wurde ganz blaß vor Erregung, sie war über die Maßen ungebärdig, die kleinen Mädchen bekamen heftige Schelte, nur weil sie gelächelt hatten. Als sie an der Seife roch, mußte sie sich die Nase zuhalten.

Es war unmöglich, ihr etwas recht zu machen.

Na ja, weder Oliver noch die kleinen Mädchen hatten etwas dagegen, die gekauften Leckerbissen für sich behalten zu dürfen.

So verging ein Tag nach dem andern, mit Gutem und Bösem, mit Reibereien, kleinen Tageserlebnissen, hier und da mit einem herrlichen Fischgericht, wenn Oliver einmal abends hinausruderte, zuweilen mit Backwaren zum Kaffee, wenn Oliver einen Schein hatte wechseln lassen. Es ging durchaus nicht armselig zu, die Familie hatte es erträglicher als die meisten kleinen Leute in der Stadt; wie viele hatten denn eine feste Stellung und eine Innentasche voll Geld?

Da war nun der unglückliche Postmeister mit seiner Familie, denen ging es viel schlechter. Der Doktor konnte bei dem schwer heimgesuchten Kranken immer noch keine Besserung feststellen; der Postmeister saß, wo man ihn hinsetzte, stumm und geknickt, wie abgestorben. Man konnte auch nicht annehmen, er sei stillvergnügt über irgend etwas, er kichere und lache in der Einsamkeit und schlage sich vor Lustigkeit auf den Schenkel. Weit entfernt! Es war nichts davon zu merken, daß er sich mit seiner alten Philosophie tröste, mit der Freude über seine Kinder, darüber, daß die Kinder soviel mehr wurden, als er war, darüber, daß sie gottlob schon jetzt an einem besseren Erdenleben für das nächste Mal arbeiteten. Der Postmeister schien gar nichts mehr zu denken, zu sinnen, zu glauben. Er hatte viele Jahre lang gesucht und endlich einen kleinen Pfad mit etwas Licht darauf gefunden, den war er gegangen – bis ganz weit draußen das schreckliche Schicksal furchtbar und hoch aufgerichtet vor ihm stand und ihn aufhielt. Die Wogen seiner Überlegungen hatten ihn verschlungen.

Seine Frau und seine Töchter waren tüchtige Menschen; die eine Tochter sollte jetzt eine Stelle in Konsul Johnsens Laden bekommen, der Sohn, der Landwirt war, steuerte bei, soviel er konnte, und die dürftige Pension reichte eigentlich weiter, als man erwartet hatte, aber so viele erwachsene Menschen konnten doch nicht davon leben. Es hätte schlimm ausgesehen, wenn nicht der Sohn in England, der tüchtige zweite Steuermann, eingetreten wäre. Als er von dem Postraub und dem Unglück seines Vaters hörte, trat er ein wie ein Mann. In einem herrlichen Briefe forderte er seine Eltern und Geschwister auf, in der Stunde der Prüfung ihr Vertrauen auf Gott zu setzen, er erzählte, daß auch er Unannehmlichkeiten von der Sache gehabt habe, er sei verdächtigt und verhört worden, aber natürlich sei nichts auf ihm sitzen geblieben. Er vergab der Welt, daß er verdächtigt und angezeigt worden war, gottlob, das Recht habe gesiegt, in England siege jederzeit das Recht. Zum Schluß äußerte er die Ansicht, daß darin eine Mahnung für die Stadt zur Umkehr und zum Nachdenken zu erkennen sei, ein so unerhörtes Ereignis gehe nicht nur ihn und seine Familie, sondern alle Leute an. Kurzum, er war fromm. Welch ein Sohn! Nicht mit einem Wort berührte er das Wichtigste, aber das Wichtigste war, daß er augenscheinlich jetzt mehr Geld hatte; ob er nun größere Heuer bezog oder in Englands Erde eine neue Kohlengrube entdeckt hatte, jedenfalls schickte er eine anständige Summe Geldes und versprach, noch mehr zu schicken. Das war Rettung, seine schöne Tat verschaffte der Mutter und den Schwestern ein unerwartetes Glück. Sie gingen zum Hausvater und erzählten ihm die Neuigkeit, sie hatten sich überlegt, daß sie ihn plötzlich damit überfallen wollten, um sein träges Hirn damit aufzurütteln, sie hofften, daß die Freude ihm mit einem Schlage den Verstand wiedergeben werde, bedenkt doch nur, wenn das geschähe! Aber es geschah nicht, sie wurden enttäuscht. Der Postmeister hörte ihnen zu, er schien sich sogar Mühe zu geben, zu verstehen, was sie ihm erzählten, wobei eines dem andern das Wort vom Munde wegnahm, aber er wurde nicht klüger davon. Es war gerade, als ob er die Neuigkeit schon gehört, oder als ob er sich das gedacht hätte, die einzige Veränderung in seinem Gesicht war, daß er noch etwas blasser wurde. Seine Frau brach in Tränen aus.

Nein, sagte der Doktor, Ihr Sohn, der zweite Steuermann, kann Ihren Mann nicht kurieren.

Die Frau Postmeister pflegte nicht viel zu reden, sie fühlte sich aber verletzt von des Doktors beständiger geschäftsmäßiger Sicherheit und fragte: Warum nicht?

Ja, warum nicht! erwiderte der Doktor. Ich glaube viel eher, daß es der Postmeister schließlich selbst satt bekommen wird, nur so in seinem Stuhle zu sitzen und seinen Nabel zu betrachten.

Welche Sprache einer vom Unglück getroffenen Familie, ja Gott gegenüber! Aber das war ganz so geredet, wie es der Doktor zu tun pflegte, da war nichts zu machen.

Der Doktor geht nach Hause in sein Studierzimmer. Er saß in dieser Zeit dem Maler, darum trug er seine abgetragene Redingote und die gestreiften Hosen, die er sich zu Fia Johnsens Konfirmation angeschafft hatte. Das war schon eine Ewigkeit her.

Er geht an Johnsens Doppelkonsulat vorbei, und da er stets ein wachsames Auge auf dieses Geschäft hat, sieht er bald, daß wieder ein neues Schild ausgehängt ist: Modewaren, Blusen, gestrickte Sachen. Hüte werden garniert. – Das Schild muß während der Nacht über die Tür gekommen sein.

Der Doktor bleibt stehen und liest das Schild ganz genau, und um nicht völlig mit sich selbst reden zu müssen, sagt er zu einem knicksenden Dienstmädchen, das vorbeigeht: Unser Herr Ritter schwärmt für neue Schilder.

Jawohl, Konsul Johnsen hat den Anbau des Ladens, wo jahrelang Ofen und ein paar Eggen standen, ausräumen lassen und einfach ein Modengeschäft daraus gemacht.

Der Doktor geht weiter und lächelt vor sich hin, er kommt an eine Haustür und trifft da den Maler, der auf ihn wartet. Eine Entdeckung, junger Mann! ruft er schon von weitem. Ein Erlebnis! Und dann fängt er an loszulegen.

Für gewöhnlich pflegte der Doktor sich nicht mit dem Sohn eines Tünchers zu unterhalten, aber mit diesem jungen Mann war es eine andre Sache, er war ein Künstler und kein unbedeutender Mensch, allerdings jämmerlich unwissend in Bücherweisheit, aber mit soviel Verstand, zu schweigen, wenn die Gelehrsamkeit redete. Während der Sitzungen wurde die ganze Stadt durchgenommen, von dem unglücklichen Postmeister bis zu Johnsens am Landungsplatz und Grütze-Olsens, von Davidsen und Heiberg bis zum Rechtsanwalt Fredriksen und Oliver, dem Krüppel – mit all der braunäugigen Brut im Hause. Der Maler erhielt viele unterhaltende Aufklärungen über die Verhältnisse in der Stadt; der Doktor war witzig und boshaft, ihm fehlte die Übung im Schießen durchaus nicht, allein es kam doch vor, daß er zu schnell sein wollte, daß seine Pfeile zitternd gerade vorbeifuhren. Auch ein Doktor kann manchmal daneben schießen.

Junger Mann, Sie sind fremd hier, konnte er sagen. Die ganze Stadt ist ein Nest, ein Loch, aber ohne mich wäre sie ein Sumpf. Ich gebe den Leuten etwas zum Einnehmen. So saßen die beiden im Studierzimmer des Kleinstadtdoktors, der Maler malte, und der Doktor ließ sein Mundwerk laufen. Es war weiter nicht viel Wissenschaftliches in dem Zimmer, obgleich der Maler das gewünscht hatte und das Bild »Der Arzt« heißen sollte. Der Doktor hatte einige Bücher hervorgekramt und einige Arzneikolben aufgestellt, ein Hörrohr stand auf dem Tisch und an der Wand hing eine Tafel mit Buchstaben, nach der für augenschwache Leute die Brillen ausgesucht wurden, in einer Ecke stand auch noch ein wenig Sublimat in einer Tasse, das war alles. Wo war der Operationstisch und die Wandbretter von Glas mit den tausenderlei Instrumenten? Zwei Rohrstühle standen in dem Zimmer. Hier war kein Mikroskop, kein Skelett, nicht einmal ein Schädel zum Beweis des festen Mutes eines Mediziners im Verkehr mit den Toten.

In diesem Rahmen wurde der Doktor gemalt. Es waren behagliche Sitzungen, nur hier und da einmal unterbrochen durch einen Mann mit einem geschwollenen Finger oder eine jungverheiratete Frau mit merkwürdigem Zahnweh. Der Doktor war ein prächtiges Modell, voll Leben, voll treffender Bemerkungen, Bitterkeit, Unglauben und Kampflust, sein Gesicht wechselte beständig und behielt nur als stehenden Ausdruck eine unerschütterlich überlegene Miene bei. Ach, wie verstand er es, dem jungen Mann einleuchtend zu machen, daß die Stadt ein Nest und ein Loch sei!

Nun stößt er also hier an seiner Haustür mit ihm zusammen und läßt sich nicht einmal soviel Zeit, erst einzutreten, ehe er mit seinem Erlebnis anfängt: Junger Mann, es ist nicht nur der Rechtsanwalt Fredriksen, der Vorteil und Vaterland miteinander zu verbinden versteht. Wie er Pfeile schoß, abwechselnd traf und daneben schoß! Johnsen am Landungsplatz hat heute nacht ein Modengeschäft aufgemacht. Das ist übrigens wohl das Werk seines Ersten Ladendieners Berntsen, der ist ein Mann mit großen Gaben, er verdiente mit den Öfen und den Eggen zu wenig, sie standen zu lang herum, nein, Modewaren müssen her! Na ja, das stimmt ja gut zusammen mit allem andern in diesem Geschäft, Johnsen am Landungsplatz verkauft den Haushaltungen ihren täglichen Bedarf, warum sollte er den Dienstmädchen nicht auch ihren Staat verkaufen? Modehandel! Wer soll diesem neuen Zweig vorstehen? Der schiffbrüchige Postmeister hat ja zwei Töchter, die älteste von ihnen soll dem vorstehen. Es ist ein Glück für Johnsen am Landungsplatz, daß der Postmeister ganz gebrochen ist und eine seiner Töchter in dienende Stellung gehen muß. Sie ist ein gewandtes, anständiges Mädchen, jetzt muß sie also jeden Morgen aus ihrer Wohnung an der Werft drunten heraustreten und einen Modehandel leiten. Sie hat das nicht gelernt, allein das schadet nichts, es gehört nicht viel dazu, Johnsen bekommt sie billig, ja, es fällt sogar noch ein Schein von Wohltätigkeit auf ihn, weil er ihr Arbeit gibt. Junger Mann, die Stadt ist ein Loch –

Die Mühle lief, der Maler kam nicht zu Wort; endlich sagte der Doktor: Na ja, wir wollen hineingehen und malen.

Ich möchte heute gerne schwänzen, sagt der Maler.

So, schwänzen? Meinethalben gerne. Haben Sie etwas anderes vor?

Der Maler erwidert: Ich bin nicht recht aufgelegt.

So? Na, meinetwegen gerne. Guten Morgen!

Aber der Doktor sah dem Maler nach, und dieses Nichtaufgelegtsein war ihm verdächtig, der junge Mann hatte ja wie sonst seinen Malkasten bei sich; ob der nicht doch wo anders hin wollte!

Ganz richtig, der Maler wollte wo anders hin. Frau Konsul Johnsen hatte ihn aufgefordert, ins Konsulat zu kommen, um auf dem Bilde, das er vor einigen Jahren von ihrem Manne gemalt habe, das Danebrogkreuz hinzuzufügen. Ach, diese Konsuln und deren Frauen in den Küstenstädten! Na ja, sie hatte in dem Briefchen, das sie dem Maler schickte, die Sache erklärt; das Bild sei ja auch vorher schon sehr ähnlich, schrieb Frau Konsul Johnsen, aber Fia, die eben erst von Paris nach Hause gekommen sei, habe gemeint, noch ein paar farbige Striche würden dem Bilde entschieden zum Vorteil gereichen. Pasteur habe auch die Ehrenlegion auf seinem schwarzen Rock.


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