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26

Es wird Herbst, wird Winter, und die Tage sind sehr kurz. Gewissermaßen war es ganz behaglich, in der Schmiede zu stehen, ein Dach überm Kopf zu haben und glühendes Eisen zu hämmern, das von selbst leuchtete, auch gab es ordentlich zu essen und zu trinken im Hause des Schmieds, ja wahrlich, mancher andere hatte es schlimmer als Abel! Er selbst dachte auch, es gehe ihm gut. So zum Beispiel, daß die Arbeit selbst ohne Fausthandschuhe und ohne Mütze vollbracht werden konnte. Ein großes Schurzfell war Abels wichtigstes Kleidungsstück. Meister Carlsen war in den letzten Monaten sehr zusammengefallen, er sprach immer mutloser von seinen Kräften, machte Bemerkungen, daß er die Schmiede aufgeben wolle, murmelte über den Tod: daß der Tod eintrete oder bis zum nächsten Male vorübergehe, aber es müßten ja alle sterben. Der Herbst hatte ihm hart zugesetzt, hatte ihm das Haar gelichtet und es weiß gemacht, seine Gedanken waren kärglich und unweltlich geworden, er gönnte sich lange Ruhepausen, während Abel arbeitete. Natürlich hatte der Einbruch in der Post Eindruck auf ihn gemacht, sein Bruder, der Polizei-Carlsen, hatte es nicht lassen können, ihm von dem Verhör in England zu berichten und daß Adolf schweinische Malereien auf dem Körper trage. Der alte Schmied erwiderte: Das ist nicht unser Adolf, aber der Polizei-Carlsen fuhr fort: Und denk dir, die ganze lange Zeit über, während das Schiff löschte, war er hier und hat dich nicht ein einziges Mal aufgesucht! – Doch, antwortete der Schmied, er hat gewiß die Schwester getroffen, als er hier war, so kommt es mir vor. Die beiden Jungen besuchen ihre Schwester, warum sollen sie mich aufsuchen? Du darfst ihnen nicht unrecht tun! – Na, dann ist Adolf also hier gewesen? fragt der Polizei-Carlsen. – Nein, antwortete der Schmied.

Lauter Unsinn. Es war kein Verstand darin. Der Schmied Carlsen nahm es übrigens anders auf als der Postmeister, er war ungelehrt und von einfachem Gemüt, er betrachtete alles mehr gewohnheitsmäßig, es war keine Hysterie in seinem Gedankengang, sondern Handwerk, er war Schmied, er gehörte seinem Stand an. Es ist gut, wenn man seinem Stand angehört, sonst wird man ein Emporkömmling, und die Ursprünglichkeit geht verloren. Und war der Schmied nicht der Vater? Er wußte viel mehr Gutes als Schlechtes von Adolf und verzweifelte nicht. Vor wenigen Jahren noch kroch ja der Junge hier in der Schmiede umher, stellte Fragen, hämmerte auf kleinen Eisenstücken herum und schlug sich dabei auf seine Finger, weinte und wurde wieder getröstet, war es nicht so? Der Adolf in England mußte ein ganz anderer Adolf sein – und selbst der hatte sich wohl die Finger verbrannt, er war vielleicht sogar noch jung. Die Menschen sind alle miteinander gut, ausgenommen die Halunken! konnte der Schmied sagen. Jedenfalls aber hatte er es nun wohl aufgegeben, einen seiner Söhne als Nachfolger in der Schmiede zu sehen, wer aber sollte ihn dann ablösen?

Er sagte zu Abel: In einem Jahr kannst du mehr, als ich konnte, als ich für mich selbst angefangen habe.

Er meinte wohl etwas mit diesem Ausspruch, oder war es nur ein Lob und eine Anerkennung? Es hinterließ jedenfalls in Abels Herz einen langen goldenen Streifen, er dachte augenblicklich an Klein-Lydia und an die Zukunft. Der unglaubliche Junge! Er war, wenn man ihn so sah, kräftig und rechtschaffen, rußig, ohne Ziererei übersprudelnd, mit den Jahren hatte er einen guten Brustkasten bekommen, und obgleich seine haarigen Hände ohne besondere Sorgfalt geschaffen zu sein schienen, saßen doch tüchtige Kräfte darin. Seine Schuhe hatte er in der Schmiede selbst ringsum beschlagen, und für den, der sich auf Schuhsohlen verstand, waren die Abels etwas ganz Besonderes.

Als er am Abend heimging, begegnete er seinem Vater, und da weihte er ihn gleich in die Sachlage ein. Oliver – obgleich er selbst seit mehreren Wochen über etwas, was daheim eingetroffen war, mit tiefen Überlegungen beschäftigt war – gab nun gleich seine eigenen Gedanken auf und hörte dem Sohne aufmerksam zu. Er muß denken, du sollst der sein, der die Schmiede übernimmt und ihr geradezu vorsteht! sagte er.

Soo, sagte Abel.

Ich halte es nicht für unmöglich. Was denkst du selbst?

Ich weiß es nicht.

Der Vater nickt mit dem Kopfe, wie wenn die Sache schon entschieden wäre, und erklärt: Ich kann es nicht anders ansehen.

Jawohl, Oliver war der Freund der Kinder, zu ihm kamen sie mit ihren Zweifeln und ihren Sorgen, er hatte die richtige Teilnahme für sie, er war für einen Vater, der seine Kinder sich selbst erziehen ließ, wie geschaffen. Abel, der unglaubliche Unband, hatte einmal verlauten lassen, er wolle sich nun niederlassen und sich verheiraten, o, er habe seine Gründe dafür, er würde nie glücklich sein, bis er sie bekomme, sagte er. Der Vater war auch da nicht in helles Gelächter ausgebrochen, sondern hatte im Gegenteil genickt und gesagt: das sei gar nicht so verkehrt, durchaus nicht, gewissermaßen, und es komme ihm nicht unerwartet. Denn wenn Abel in kurzem Schmied und Handwerker in der Stadt werde und er groß und breitschulterig geworden sei, dann könne er zum Beispiel alles tun, was er nur wolle. Er brauche nur eine kleine Frist, um sich alles zu überlegen, sich Herd und Wohnung und derartiges zu verschaffen, aber er werde schon sehen, zwei Jahre vergingen schnell. – Abel wendete ein, daß er es auf diese Weise unmöglich zwei Jahre lang aushalten könne. – Nein, das will ich dir gerne glauben, antwortete der Vater nachgiebig. – Abel fuhr fort: Denn in jeder Vakanz kommt dieser Reinert heim und verdirbt wieder alles für mich. – Reinert, sagte der Vater mit einem Hohn, der Abel sehr tröstete, ist ein kleiner Junge, er ist wohl nicht mehr als achtzehn Jahre! – Abel, der noch nicht lange siebzehn geworden war, beeilte sich einzuwerfen: Ich bin auch nicht mehr als achtzehn. – Ja, aber es ist ein Unterschied zwischen dir und ihm, du bist Handwerker und Fachmann; wenn du ausgelernt hast, dann bist du am ersten besten Tag Meister und Geselle zugleich. Das sag ich gerade heraus: Gibt es etwas auf der weiten Welt, das rascher vergeht, als ein Jahr oder zwei! Sieh bloß, da verheiratet sich der eine und dort verheiratet sich der andere, und sie sind nicht einmal Handlanger bei einem Maurer. Aber was bist du? Mit all seinem Gerede meinte wohl Oliver, daß die Zeit dem tollen Jungen über seine Grillen hinüberhelfen werde.

Auch an diesem Tag wirkt er aufmunternd auf den Sohn, er entwickelt eine Auffassung der Sache mit vielen wohlgemeinten Redensarten: Der Schmied Carlsen werde Abel über seine ganze Schmiede setzen – gleich wie Pharao einst Joseph über seinen Hof gesetzt habe. Ich will dir etwas sagen, Abel, sagte er, da du so besonders tüchtig in deinem Fach bist und das ausgeführt hast, was er dir aufgetragen, was Gott bestimmt hat, so kann Carlsen nichts anderes meinen.

Nein, stimmte Abel bei.

Du wirst über sein ganzes Hab und Gut gesetzt, wir wollen jetzt heimgehen und es deinen Schwestern zu wissen tun, das sind große Dinge. Ein Jahr ist weniger, als man glaubt. Was ist ein Jahr? Gott zwinkert nur ein einziges Mal mit den Augen, dann ist es schon ein Jahr. Und wenn du einer Sache vorstehst, so ist das genau so, wie wenn sie dein eigen wäre. Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen einem guten Vorsteher und einem schlechten Vorsteher, und wenn ich den Vorräten und dem großen Lagerraum des Konsuls vorstehe, so ist es ebenso –

Hochtrabende Worte und Geschwätz, Rührseligkeit und Großtuerei. Aber dann sagt der Vater: Ja, ihr Jungen, ihr kommt wahrhaftig vorwärts, du Abel und Frank auch! Wenn du jetzt auf Kaffee warten willst, so hab ich Kuchen vom Bäcker hier, sagte er, um es festlich zu machen. Es ist heute Samstagabend, und du brauchst morgen nicht in die Schmiede zu gehen.

O, aber Abel hat viel zu tun und ist nicht frei, er macht sich rasch sauber und geht wieder aus. Er ist wie ein Fischer, der einen Fisch an der Angel hat, nun holt er die Leine ein. Dieser Reinert war also im Sommer wieder eine Ewigkeit dagewesen und hatte ihm das Leben vergällt; jetzt war er wieder abgereist, aber auch nachher war Klein-Lydia nicht so gegen ihn gewesen, wie sie sollte, an manchem Abend ist Abel schweren Herzens von ihr fortgegangen. An diesem Abend geht er bedeutend leichteren Herzens zu ihr.

Er trifft sie daheim, und sie kommt heraus, sie sieht ihm wohl an, daß sich etwas ereignet hat und geht mit ihm.

Zuerst streckt er ihr die Hand hin, und als sie etwas verwundert zögert, sie zu ergreifen, faßt er selbst kräftig zu.

Aber Klein-Lydia – seit sie für Konsul Johnsens neueingerichteten Modehandel Arbeit bekommen hat, und Hemden und Blusen näht, hatte sie beständig eine Nadel in der Hand und Nadeln an der Brust stecken, man konnte ihr nicht nahe kommen.

Ach, ich hab dich gestochen, wie ich sehe, sagte sie ungerührt.

Ja, das schien für sie mindestens so deutlich zu sein, wie für ihn, er lächelte sauer und leckte das Blut ab.

Der kleine Vorfall war indes vielleicht doch nicht ganz ungünstig, er hielt ihn zurück, sonst hätte er am Ende gleich die ärgsten Unmöglichkeiten gesagt.

Willst du etwas von mir? fragte sie.

Erstens, sagte er, soll ich in den nächsten Tagen die Schmiede übernehmen! Und danach sprach er frisch von der Leber weg und übertrieb vieles, eine Menge Fragen, die Klein-Lydia stellte, beachtete er gar nicht. Jawohl, er sei jetzt Geselle, ein ausgelernter Geselle, ebensogut in diesem wie im nächsten Jahr und könne alles tun, was er wolle. Sein Vater habe ihm gesagt, er solle für Herd und Wohnung sorgen ... Das ist doch nichts, um wie eine Gans darüber zu lachen! sagte er gekränkt.

Nein, versetzte sie nachgiebig. Im übrigen aber sei er nicht recht klug, eben konfirmiert, ja, ob er auch wirklich konfirmiert sei?

Darauf geb ich dir nicht einmal eine Antwort, versetzte er.

Ach, du lieber Gott, was er alles daherschwatzte! Und ihre Mutter lachte jedesmal über ihn, so oft sie ihn sah. Wie alt er denn sei?

Dreiundzwanzig und drei Monate, antwortete er, und er sah aus, als glaube er an seine eigene Genauigkeit.

Da lachte Klein-Lydia hellauf und fragte wieder: Wie alt, sagst du? Gott bewahre mich vor dir, Abel!

Du lachst nur, rief er beleidigt. Wie alt bist du denn selbst? Daran denkst du nicht.

Klein-Lydia wollte wahrlich auch nicht klein sein, ebensowenig wie er, sie wollte gerne für ein Nähfräulein gelten und trug schon längst lange Kleider. Ich? sagte sie, wie alt ich bin? Warum fragst du? Ich will nicht länger hier stehen bleiben und dir zuhören.

Abel schlug um. Nein, du willst nur dem Reinert zuhören. Aber das muß nun ein Ende haben. Ich kann wirklich nicht glauben, daß du dir etwas aus ihm machst, Klein-Lydia.

Ich? Meine Mutter sagt, er sei ein flotter Herr.

Nein, er ist ein Gauner! rief Abel unnatürlich erregt. Ich werde ihn zwischen meine Nägel nehmen, wenn er wiederkommt. Verstehst du das?

Jetzt muß ich hinein, sagte sie.

Zwischen diese meine Nägel! rief er und streckte beide Fäuste in die Höhe. Ich bin Manns genug dafür, du wirst es schon sehen!

Es mußte ihr allmählich aufgegangen sein, daß er wie auf der Folter war, und als er nun erklärte, er müsse sie haben und könne nicht länger warten, zeigte sie sich nachgiebig und sagte, nein, das könne er wohl nicht. Er redete immer weiter, mit einer ganz fremden Stimme, die zitterte, er meinte jedes Wort, und sie sagte endlich im Ernst, wenn auch etwas zu erwachsen für ihre jungen Kinderjahre: Ja, aber ich kann nicht sagen, daß ich dich liebe.

Er lächelte ungläubig: Doch, doch, sagte er. Und dann begann er wieder: Sie könnten vielleicht oben beim Schmied wohnen, da sei eine Kammer, blau gemalt, mit hübschen Wandbrettern, der Schmied habe gewiß gemeint, er solle auch diesen Raum übernehmen, was hätte er anders mit dem Ganzen meinen sollen? Und da werde Abel sie aufheben, da gebe es in den Ferien kein Scharmutzen mehr mit dem Buben, mit dem Zierbengel in den Kniehosen, dem Gauch! sagte er. Es solle ein anderes Leben werden. Abel stellte mehrere solche Dinge fest und redete weiter noch zu deren Vorteil.

Klein-Lydia nahm es offenbar vernünftiger als er, sie nickte, als er von der Kammer sprach, und als er erklärte, er werde in Zukunft dem ganzen Getue ein Ende machen, da kam ihr das wohl sehr hart vor, sie hielt es aber doch vielleicht für natürlich, daß er so redete, jedenfalls erhob sie keinen Widerspruch. Aber ganz allmählich, während sie auf seine Rede lauschte, schloß sie langsam die Augen, es war, als verliere sie ihre eigenen Augen aus dem Gesicht, und plötzlich drehte sie sich um und ging hinein.

Ging hinein und kam nicht wieder!

Abel wartete eine Weile, sein ganzes Leben lang hatte er sich von Klein-Lydias Seite in eine weniger korrekte Behandlung finden müssen, und dieses ihr Weggehen war nicht schlimmer als vieles andere. Zum Beispiel damals, als sie ihm heißen Kaffee über die Hände goß, damit er den Bart dort wegrasieren könne. Oder als sie mit dem Bodenlumpen daherkam und ihm einen dunkeln Schatten unter den Augen wegwaschen wollte, obgleich der Schatten in der Haut saß und von Kummer herrührte.

Als er eben im Begriff war, seiner Wege zu gehen, öffnete Klein-Lydia einen Spalt in der Tür und lugte heraus. Sie konnte es wohl nicht länger drinnen aushalten.

Ich seh dich, sagte er, du kannst gern wieder herauskommen. Jetzt knöpfte er seine Jacke auf und warf sich in die Brust, ja, er gebrauchte also schließlich diesen unwürdigen Kniff mit vollem Bewußtsein, damit sie seine Uhrkette entdecken sollte – die Uhrkette, für die er keine Uhr hatte.

Als sie nun wieder heraustrat, fragte sie unschuldig: Was, stehst du noch hier?

Jawohl, antwortete er kaltblütig, ich wartete auf dich.

Sie holte einen Arm voll Brennholz im Schuppen, das war ein schlauer Vorwand, er konnte nicht mit ihr reden, wenn sie schwer mit Holz beladen war. Da sagte er in einem flotten Ton und mit einem Griff nach seiner Uhrkette: Ja ja, da du es so willst, Klein-Lydia, dann komme ich in einer halben Stunde wieder.

Eigentlich hatte er nichts weiter mit ihr zu bereden, aber darum handelte es sich nicht, er wollte nur da sein, wo sie war, was denn sonst!

Jetzt machte er einen kleinen Gang nach dem Bollwerk und drehte wieder um, er wollte noch einmal zu Klein-Lydia hineinsehen. Wenn er freundlich und harmlos auftrat, schadete ihr eine neue Unterhaltung mit ihm nichts, und ihm würde sie gut tun.

Und – ob es nun wohl vorbedacht oder ein glücklicher Zufall war – er traf sie ganz allein in der Stube, die Eltern hatten sich in der Kammer schlafen gelegt, und die Schwestern waren ausgegangen, da es Samstagabend war. Klein-Lydia nähte und war übertrieben fleißig.

Jetzt sah er natürlich gleich, daß sie einen reizenden süßen Mund hatte, aber aus Höflichkeit und um nicht aufdringlich zu sein, wollte er sie doch nicht küssen, er wollte überhaupt nicht parteiisch und zu seinem eigenen Vorteil handeln. Wir haben vorhin nicht so recht auf besonders gutem Fuß gestanden, sagte er.

Doch, sie wisse nichts anderes. Wieso denn? Aber laß die Finger von den weißen Bändern, Abel!

Wenn sie abermals diesen Ton anschlug, nun, dann kam er wohl an diesem Abend auch nicht weiter, und wenn sie mit noch mehr Nadeln an der Brust als je vorher am Tisch saß, dann hatte sie sich wohl mit Absicht umgürtet. War es da zu verwundern, daß er böse und ärgerlich wurde, als sie ihn wegen der Bänder ermahnte? Ach, sei doch nicht so! versetzte er. Ich habe auch schon früher Stoffe und Samt vom feinstem Gewebe in der Hand gehabt. Im übrigen haben allerdings meine Finger hier nichts zu schaffen, fügte er hinzu und zog seine Hände zurück.

Selbst wenn sie keine größere Vorliebe für ihn hatte, so hätte sie jetzt doch gerührt sein müssen, die Tränen hätten ihr in die Augen treten müssen, und sie hätte die Arme um ihn schlingen sollen; aber nein, keine Zärtlichkeit!

Er hatte schon lange daran gedacht, sich ein Maß von ihrem Ringfinger zu verschaffen, es mußte aber ganz zufällig aussehen, denn er wollte das Maß zu einem gewissen Zweck; deshalb hatte er vorhin mit einem Stückchen Leinenband gespielt. Du hast so dünne Fingerchen, sagte er, dein Ringfinger ist wohl nicht dicker als so? Laß mich einmal sehen!

Wenn er meinte, sie hätte keine erwachsenen Finger, sondern nur Kinderfinger, dann war das eine Beleidigung: Nein, laß mich! sagte sie. Ich habe keine Zeit!

Würde das nun ein Überfall sein, wenn er sie für diese Wichtigtuerei ganz einfach küßte? Sie sah allerdings so abweisend aus, als ob ihr dadurch ein Leid geschähe, aber er fuhr doch auf und tat es; küßte sie trotz aller Nadeln, küßte sie eine ganze Weile ab. Und sie ließ es geschehen, stöhnte zwar dazwischen: Du bist verrückt! Laß sein! Was willst du denn? aber sie ließ es geschehen. O, Klein-Lydia und er hatten das schon früher getan, es war nicht zum erstenmal.

Jetzt nachher war es eigentlich unangenehm, er versuchte allerdings, es fortzulachen und darüber wegzugehen, aber ein wenig mißglückt war es doch. Sie strich sich hastig das Haar glatt und zog ihren Halskragen gerade, der schief gerutscht war; nachher wurde sie stumm, und es schien, als sei es ein reiner Vorwand, daß sie wieder nach ihrem Nähzeug griff. Ja, ja, er hatte ihr offenbar ein ernstliches Leid zugefügt, sie war tiefgekränkt, sie schien sowohl diese letzten Küsse, als auch alle die vorigen als verschleudert zu bereuen.

Da saß nun Klein-Lydia, von Stoffen, Spitzen, Nähseide, Knöpfen und Bändern umgeben, sie hatte auch die feinen Handarbeiten der Schwestern herausgelegt, um damit zu prahlen, sie selbst nähte ja meist Futtersachen. Es hatte also auf Abel keine Wirkung ausgeübt, daß sie diese Vorbereitungen getroffen hatte, er hatte gar kein Verständnis dafür, was ein Nähfräulein war.

Ich will durchaus nicht, daß du mich je wieder küßt! sagte sie plötzlich.

Nicht?

Nein, durchaus nicht!

Wann habe ich dich denn geküßt? Das könnte ich ja gar nicht! Aber seine Keckheit half ihm garnichts, er sah wohl ein, daß der Schein gegen ihn war. Und nun blieb ihm nichts anderes übrig, als nach dem alten Mittel zu greifen, bei dem sie vorhin eingeschlafen war: er versicherte ihr wieder, sie müsse ihn nehmen, ihn und keinen andern, und in den Ferien werde er sie gar nicht ausgehen lassen.

So schweig doch! sagte sie.

Gleich morgen geh ich hin und kaufe den Herd, entschied er. Der Johnsen am Landungsplatz hat ein paar Herde weggetan, sie liegen draußen herum, aber ich hole mir einen davon und werde den Rost schon herunterkriegen. Jawohl, ich tu es gleich morgen.

Ja, das solltest du nur wagen! drohte sie.

Sie stritten ein wenig darüber: Klein-Lydia war hier die Verständigere und hatte die Oberhand. Daß du dich auch nicht ein bißchen vor mir schämst! sagte sie.

Na, ich kann ja auch noch ein paar Tage warten, meinte Abel, um sich so nachgiebig wie nur möglich zu zeigen.

Ein paar Tage! erwiderte sie mitleidig.

Aber soll es mir denn niemals glücken? versetzte er heftig. Wenn das deine Meinung ist, dann will ich's wissen.

Darauf erwiderte sie unendlich kühl und herablassend: Ja, das ist meine Meinung.

Daß du mich überhaupt nicht willst?

Ja, das kannst du doch merken, antwortete sie. Und nun raffte sie den ganzen Staat auf dem Tisch zusammen, wie um auf ihn hinzuweisen: Sieh, was alles für mein ganzes Leben auf dem Spiel steht, wenn ich in diesem Augenblick eine andere Antwort gäbe! Sie drehte sich um, ihre Mutter sprach in die Stube herein. Mutter Lydia sagte:

Geh sofort zu Bett, Lydia! Und du, Abel, geh auch, augenblicklich! Ich will auch nicht, daß du dich hier spät und früh herumtreibst, nun hast du's gehört! Was ist das für eine erbärmliche Narretei von so einer Rotznase! Bist du nicht recht klug? Geh heim und werd' erst trocken hinter den Ohren!

Die Kammertür wurde zugemacht, aber dann ging sie wieder auf und Mutter Lydia sprach noch einmal, das Reibeisen sagte ein letztes Wort: Sag deinem Vater von mir, daß er dir den Hintern verhauen soll!

Abel – da saß er! Dann stand er auf und blieb so sonderbar stehen, den Stuhl zwischen den Beinen. Dann faßte er sich endlich etwas, richtete den Blick zuerst auf die geschlossene Tür und dann auf Klein-Lydia. Sein Gesicht hat einen bläulichen Schein bekommen, aber er hielt sich einigermaßen stramm und sagte lächelnd: Das war zum Satan!

Von Klein-Lydia wurde ihm keine Hilfe zuteil, und sie erkannte auch seine Mannhaftigkeit nicht an. Sie jagte ihn nicht fort, nein, sie tat nichts in der Richtung, wo es heißt: Nun, flugs, es gilt das Leben, bete ein Vaterunser! Nein, Klein-Lydia war an die scharfe Zunge ihrer Mutter gewöhnt und fürchtete sich nicht davor. Aber als Abel nach der Tür ging, war es wirklich, als gefalle ihr seine Art zu verschwinden, sie hielt ihn mit keinem Wort zurück.

Ja ja, sagte er, um nicht ganz vernichtet zu sein. Ja, ich werde schon aus dem Wege gehen, wenn die Sache so steht. O, aber er hatte wohl zuviel versprochen, plötzlich fragte er Klein-Lydia: Kannst du nicht mit mir hinausgehen, daß ich mit dir reden kann?

Nein, weit entfernt! antwortete sie.

Da ging Abel heim. Die Eltern stritten sich um etwas; da er aber keine Lust hatte, zuzuhören, verschwand er in der Kammer.

Und doch war es kein uninteressanter Streit, der da im Anbau ausgefochten wurde. Olivers wochenlange Grübeleien über eine gewisse Sache hatten endlich ihre Entladung in einer Art Verhör seiner Frau gefunden. Petra war nämlich aufs neue guter Hoffnung; aber wie in aller Welt war das zugegangen?

Petra hatte merkwürdigerweise auch selbst versucht, ihren Zustand so lang wie möglich geheimzuhalten, akkurat, als ob eine verheiratete Frau nicht dick werden dürfte, ja, als ob sie etwas Unrechtes getan hätte; vielleicht war es das, was Oliver zuerst mißtrauisch gemacht hatte. Aber an diesem Abend, als er mit seiner direkten Anklage auf sie losgeht, da verbirgt sie nichts mehr und leugnet nichts.

Petra, sagte er, ich glaube, du wirst wieder dick?

Du faselst! erwiderte sie.

Und beim Satan, wie hast du denn das angefangen?

Es nützt wohl nichts, es zu leugnen, sagt sie schmeichlerisch, denn du siehst alles.

Ja, sagte er, ich habe es schon seit mehreren Wochen gesehen.

Petra hatte Zeit, sich vorzubereiten, sie warf ihm nichts vor, sondern sagte: Wie ich das angefangen habe, das weißt du wohl selbst! Nein, sie fing den Stoß auf, wendete ihn aber ab, schob ihn auf die Seite. Was ich getan habe? sagte sie. Wenn ich Kinder bekomme, so ist es nicht schlimmer, als wenn Maren Salt Kinder bekommt.

Als Maren Salt? Was wollte sie nun damit. Oliver hatte keine Worte dafür.

Ja, das sage ich gerade heraus, fuhr Petra fort und sah ihren Mann beinahe streng und beleidigt an. Sie war viel älter als ich jetzt bin, und ich begreife nicht, wie gewisse Leute sich so in Maren verguckt haben können.

Ich verstehe dein ganzes Geschwätz nicht.

Na, sagte Petra. Aber dann kann ich dir mitteilen, daß sie dich beschuldigen, der Vater von Maren Salts Kind zu sein.

Oliver sperrte Nase und Mund auf. Waren die Menschen verrückt geworden? Er sagte: Du – du hast den Verstand verloren.

Petra murrte und sah noch beleidigter aus.

Wenn ich an allem so unschuldig wäre! sagte er.

Du weißt selbst, was du bist, versetzte sie unversöhnlich.

Jetzt aber stach Oliver der Hochmut, die Sache fing an, ihm zu gefallen. Wahrlich, alles in allem konnte er nichts gegen diese Beschuldigung haben, er hatte sicherlich nicht die Absicht, sie ehrenrührig zu finden, höchstens etwas beleidigend. Wer ist's denn, der dir diese Lüge weisgemacht hat? fragte er.

Das kann dir einerlei sein, wer es ist. Aber wenn du es wissen willst, so ist es der Mattis.

Hat Mattis es gesagt?

Ja, und er hatte wohl auch seine Gründe dafür.

Oliver überlegte ein Weilchen, setzte die Mütze schief und warf sich in die Brust. Man muß doch allerlei erleben! sagte er. Im übrigen kümmere ich mich nicht darum, was ihr, du und der Mattis, von mir glaubt. Aber er soll nicht allzu sicher sein, daß ich ihn nicht verklage.

Es würde dir nichts helfen, wenn du nur den Mattis verklagen würdest. Dann müßtest du die ganze Stadt verklagen?

Spricht die ganze Stadt davon? fragte Oliver.

Ja, soviel ich weiß.

Wieder überlegte er und dachte darüber nach. Das war eine merkwürdige und höchst unerwartete Lage, in die er da hineingekommen war, Gott bewahre mich! Da mußte etwas daraus gemacht, sie mußte ausgenützt werden können. Er fing an, ein Liedchen vor sich hinzusummen, während er noch überlegte. Petra sah ihn forschend an und stand wohl dem Eigentümlichen, was jetzt in diesem Manne, diesem verpfuschten Manne vorging, verständnislos gegenüber, summte er ein Liedchen? Vielleicht war er in diesem Augenblick glücklicher, als er in den letzten zwanzig Jahren gewesen war, vielleicht hatte er das Gefühl, daß in ihm etwas wiederaufgerichtet worden sei, eine Würde, ein Wert, vielleicht sah er sich rehabilitiert durch einen Betrug, indem er mitten in einem falschen Licht stand, aber doch rehabilitiert. Warum sitzt er dort und sieht aus wie reich geworden, ja überreich? Hat er Wein und Brot erhalten und ist gesegnet worden? Hat der Himmel sich geöffnet, ist ein Wunder geschehen? Seht, der Ärmste ist nicht mehr er selbst, er ist einmal in der Welt draußen gewesen, in diesem Augenblick war er wohl wieder draußen, er leckte sich die Lippen und tat sich etwas darauf zugute, ahmte sich selbst nach aus früheren Tagen, da er bei hübschen Liebchen in den Hafenstädten Glück gehabt hatte. Petra war daran gewöhnt, ihn fett und gleichgültig zu sehen, immer mit der Krücke umherhumpelnd oder sich auf einem Stuhl am Tisch herumfläzend. O, er gehörte zu den Quallen, die in tödlicher Dummheit und Nichtigkeit an dem Brückenrand lagen und nur atmeten; jetzt sitzt er dort, wundert sich und freut sich über etwas, aber über was denn?

Petra verstand es wohl immer weniger, und dieses Summen verwirrte sie; hätte sie es nicht besser gewußt, so wäre sie näher zu ihm hingetreten und hätte ihn angesehen, ob er wirklich der Oliver Andersen und ob es auch ganz richtig bei ihm bestellt sei? Sie brachte ihn in die Wirklichkeit zurück, indem sie sagte: Du singst nur!

Was?

Du singst nur, sage ich.

Singen? Es fiel mir eben ein, Tahitaho. Nein, ich singe nicht.

Ja, mach nur so weiter. Manche Leute haben es im Kopf!

Aber was tat Oliver jetzt? Er richtete sich vom Stuhl auf und griff nach ihr. Ein Affe, der die Gebärden anderer nachmacht, zwei ungewohnte Hände, die zufassen. Er spielte sich auf, tat, als könne er ihrem Liebreiz, der Sinnlichkeit ihres Wesens nicht widerstehen, er streckte die Zunge heraus, lachte mit seinem feuchten Mund. O, sie hatte Erfahrung! Hätte sie nicht gewußt, daß hinter seinen Narrenstreichen nicht das mindeste steckte, dann hätte sie ihm entgegenkommen, ja, sie hätte ihm sogar Anleitung geben können, jetzt fuhr sie bei seiner leeren Vorspiegelung zurück und schauderte. Als er das sah, sank er schlaff und mit unbehaglichem Ausdruck wieder auf seinen Stuhl nieder.

Petra wurde es wohl schwer, nicht vor ihm auszuspucken, sie war eine gesunde Natur, die Qualle dort am Brückenrand machte sie ängstlich und schamerfüllt. Um das Ganze etwas auszugleichen, sah sie ihn nicht mehr an und sagte wie zu sich selbst: Wenn ich doch nur ergründen könnte, was du an Maren Salt gesehen hast!

Oliver erwiderte matt: Schweig! Ich habe es nicht getan, hörst du!

Du weißt selbst, was du getan hast.

Ja, nur zu, glaube es nur! Ich schere mich nicht darum.

Nein, das versteht sich, sagte Petra wie eine Märtyrerin. Du bist ja der Mann im Hause, wir andern haben nicht das Recht, etwas über dein Benehmen zu sagen.

Na, ein solcher Tyrann bin ich doch auch nicht!

Um mich kümmerst du dich jedenfalls nicht, sagte sie.

Nun war er doch allmählich wieder der alte Oliver geworden, und so fragte er nicht so wenig schlagfertig: Nun, und wer hat sich denn dann um dich gekümmert?

Eine Antwort auf diese Frage bekam er nicht, und er wünschte auch keine zu bekommen, aber Petra war frech und verstand es jedenfalls, ihn fernzuhalten: Wenn ich zu denen gehört hätte, die gewollt haben, dann hättest du sehen sollen, sagte sie. Aber ich gehöre nicht zu denen. Ich bin auch gar nicht so neugierig, daß ich das ausschnüffle, was du tust, und Maren Salt ist wenigstens sechzig Jahre alt, da kannst du sie wohl haben!

Na, Petra wollte also diese blödsinnige Idee durchaus nicht aufgeben, war es da nicht natürlich, daß Oliver gute Miene dazu machte und nicht länger widersprach? Sie ließ ihn nun auch in dem Glauben, daß sie ihn tatsächlich im Verdacht habe, dieser Verdacht würde ihm nur zum Vorteil gereichen, und wenn er ihn richtig ausnützte, so hatte er sicherlich keinen Schaden davon.

Ja ja, sagte er, indem er so halb und halb zustimmte, ich kann ja auch meine Fehler haben, ich kenne keinen Menschen, der nicht seine Fehler und Ausschweifungen und seine Lüste hätte.

Es war merkwürdig, wie leicht er Petras Zustimmung dazu erhielt, und von da an waren sie nicht mehr uneinig, der Ton zwischen ihnen wurde im Gegenteil leicht und frivol. Das Verhör, dem er Petra unterworfen hatte, und die Frage, wie sie es in drei Teufels Namen angefangen habe, daß sie nun wieder dick werde, war ausgelöscht und verschwunden. Oliver ließ es hingehen, ja, er ging noch weiter und ließ ihr eine Art Anerkennung zuteil werden, er ließ ein paar Worte darüber fallen, daß sie eine verflixte Fruchtbarkeit habe: gut in den Vierzigern und noch immer gleich toll!

Na, erwiderte sie halb scherzhaft, bin ich jetzt wieder gut?

Du? rief er. Wie dich gibt es keine mehr! Und das muß ich sagen, du hast es in dir, das Lob gebe ich dir. Und bei Gott, du hast dein Geschlecht nicht erst entdecken müssen, das war bei dir von selbst da.


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